Irina und Alfred Martius mit Janosch, Frida und Tillmann
Normalität ist eine Illusion

Irina und ihr Mann Alfred haben lange auf ihr Wunschkind warten müssen – dann kam Tillmann und hat ihr Leben so richtig auf den Kopf gestellt. Tillmann wurde mit Trisomie 21 geboren und Irina und ihr Mann haben viel gelernt: Vor allem, dass man immer viel und offen über alles sprechen muss und in der Öffentlichkeit oft noch die Annahme vorherrscht, ein behindertes Kind sei irgendwie lebensunfähig.  Oder was Normalität eigentlich bedeutet. Ihr Alltag mit dem Dreijährigen wurde letztes Jahr noch etwas turbulenter, denn im Frühjahr kamen die Zwillinge Frida und Janosch auf die Welt…

Liebe Ini! Du kommst ursprünglich aus Bielefeld, hast in Berlin deinen Mann kennengelernt und wohnst jetzt in einem kleinen Ort in der Nähe von Chemnitz. Wolltet ihr schon immer mal aufs Land?

Der Wunsch raus aus der Wahlheimat Berlin zu ziehen kam mit Hund und Kinderwunsch. Und mit der Suche nach bezahlbarem Lebensraum. Als wir beide beruflich die Fühler nach etwas außerhalb Berlins ausgestreckt haben, ergab es sich so, wie es nun ist. Die meisten halten uns für verrückt von der Metropole ins Kaff gezogen zu sein, doch für uns fühlt es sich gut und richtig an.

Ihr habt kleine Zwillinge und einen fast dreijährigen Sohn. Alle drei Kinder sind durch eine Kinderwunschbehandlung entstanden. War es ein langer Weg dorthin?

Ja. Vor allem länger als gehofft. Erstmal vertrauten wir auf Mutter Natur. Dann wollte meine Frauenärztin meinen Eizellen hormonell auf die Sprünge helfen und spielte mit uns auf Zeit. Bis wir wirklich wussten, dass wir als Paar nicht auf natürlichem Weg schwanger werden können, vergingen fast zwei Jahre. Das waren mehr als zwanzig enttäuschende Zyklen, viele unnütze Hormongaben und unzählige Schwangerschaftstests, die uns viel abverlangt haben. Doch dann sind wir es angegangen: Wir heirateten, unterzogen mich einer Hormontherapie und entnahmen 31 Eizellen, von denen 24 erfolgreich eingelagert werden konnten. Gebraucht haben wir letzten Endes 4 in zwei Versuchen. Wir haben unverschämt großes Glück gehabt!

"Erst kam die Hebamme um mich zu beruhigen, dann der Oberarzt der Kinderstation, der Alfi, meinen Mann, in den Arm nahm und beteuerte, er werde Tillmann behandeln wie sein eigenes Kind. Und dann kam die Angst."

Euer Sohn Tillmann wurde nach der Geburt mit Trisomie 21 diagnostiziert. Ihr habt euch vorher bewusst gegen einen Pränataltest entschieden. Habt ihr das bereut?

Nein, niemals. Die Entscheidung fiel bewusst, wenn auch sicherlich naiv ob der wirklichen Konsequenzen, die sie beinhaltet. Für uns war klar, dass wir uns niemals die Frage stellen wollen, ob wir uns gegen das Leben entscheiden, auf das wir so sehnlich gewartet haben.

Trotzdem war es ein Schock. Tillmanns Geburt lief zwar zunächst reibungslos, doch als er endlich da war, habe ich ihn nur eine Minute bei mir gehabt. Ich weiß noch, wie er als kleines blaues Bündel auf meine Brust gelegt wurde. Sein Gesicht war stark mitgenommen und etwas in mir erinnerte sich an all die rosigen Babys, die sonst immer laut schreiend in die Arme einer Mutter gelegt werden. Man nahm ihn für die Standardtests mit und behielt ihn dann im Notversorgungsraum, wo er direkt an Sauerstoff angeschlossen und eingehend untersucht wurde. Es war wie in einem schlechten Film. Erst kam die Hebamme um mich zu beruhigen, dann der Oberarzt der Kinderstation, der Alfi, meinen Mann, in den Arm nahm und beteuerte, er werde Tillmann behandeln wie sein eigenes Kind. Und dann kam die Angst.

Tilli wurde innerhalb der ersten 24 Stunden zweimal notverlegt, da man sich unsicher war, was ihm fehlte. Durch die Geburtsverletzungen waren viele typische Merkmale nicht klar zu deuten. Noch dazu ist er eher „unauffällig“. Erst nach drei Tagen schlug man uns vor einen Gentest zu machen. Um abzuklären, ob irgendwas doppelt sei. Da erst machte es “Klick”. Wir googlten nach allen möglichen Trisomien und die Auswahl lies uns zusammenbrechen. Ich fragte mich, ob ich in meinem Kinderwunsch einem Egoismus verfallen war und ob ich Tillmann ein eventuell sehr kurzes und schmerzhaftes Leben zugemutet habe. Als wir uns immer wieder beteuerten, dass wir es einfach abwarten werden, ohne uns verrückt zu machen, gingen Tag für Tag die Schwellungen in Tillis Gesicht zurück. Als wir ihn an Tag fünf zum ersten Mal selbst versorgen durften, nahm Alfi ihn hoch und als die beiden sich so ansahen, da war es irgendwie klar. Mir fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen, trotz der Sorgen und Ängste, die es mit sich brachte.

Letztendlich betrachte ich Tillis Trisomie 21 als einen großen Glücksfall. Denn tatsächlich werden immer weniger Menschen wie er zur Welt gebracht. Wir berauben uns eines genetischen Zufalls, der ebenso lebenswert ist, wie die Reihung unserer 46 normalen Chromosomen. Und das in einer Zeit, in der Menschen mit dem Down-Syndrom so viele Möglichkeiten haben ein selbstständiges und erfülltes Leben zu führen, selbst wenn gesundheitliche Einschränkungen damit einhergehen. Doch wer kann schon von sich behaupten normal zu sein?

Wie hat euer Umfeld auf Tillmann reagiert?

Ich glaube es gibt zwei Seiten dieser Medaille. Wir haben alle erst einmal nur an der Sorge um den möglichen Herzfehler und die schlechte Sauerstoffversorgung teilhaben lassen. Als der Gentest angefragt wurde und wir den Zettel unterschrieben, die Möglichkeiten recherchierten, da war klar, dass wir das erst einmal als kleine Familie gemeinsam tragen. Es gab nur uns drei und den Versorgungs- und Besuchsrhythmus. Wir haben eine so starke Bindung entwickelt, dass die eigentliche Diagnose irgendwie nur noch ein Fakt war. So haben wir es vermutlich auch allen überbracht. Wir waren ruhig, haben schon nach den ersten Tränen oft gemeinsam mit Familie und Freunden gelacht und uns auf ein Leben mit Tilli gefreut. Im Gegenzug informierten sich alle, man schickte uns ständig Links oder Artikel, die uns zeigen sollten, dass alles gut ist und gut werden wird. Genau so ist es auch gekommen und es macht mich zutiefst stolz, dass wir so wundervolle Menschen um uns haben.

Die andere Seite der Medaille ist, dass wir nur manchmal einen Blick durch das Schlüsselloch an Erinnerungen erhaschen, die man selten mit uns teilt. Und dann sehen wir die große Sorge unserer Eltern, Geschwister und Freunde. Ich weiß noch, wie manch einer uns in den Arm nahm und uns sagte, wie sehr man uns gewünscht hätte, dass einfach alles gut gegangen wäre. Oder dass man nicht weiß, wie man es den Kindern erklären soll. Und auch diese Seite ist ok. Sie ist menschlich, von Menschen, die das Beste für uns wollen.

Stichwort Inklusion – ist das schon ein Thema bei einem Dreijährigen?

Inklusion ist ein Thema, sobald dieses fragile System der Normalität verlassen wird. Sie ist nicht nur politisch oder bildungsorientiert. Sie ist vor allem sozial. Sie stellt Diversität in den Vordergrund. Man sollte meinen, dass wir in unserer aufgeklärten Gesellschaft damit bereits viel weiter wären. Doch wenn das so wäre, wäre dann Pränataldiagnostik auf die Möglichkeit des Ausschlusses ausgerichtet? Oder hätte sie dann die bestmögliche medizinische Versorgung im Blick?

Sie findet schon ihren Platz, sobald ich mit Tillmann alle so typischen Angebote für Babys und Kinder nutze. Für mich bedeutet Inklusion im Alltag, dass ich souveräner und extrovertierter sein will, als ich es vielleicht ohne Tilli wäre. Für ihn. Für die anderen. Für uns. Denn das sollte das Ziel sein. Gesellschaft ohne jedes Vorurteil. 

"Ich gehe sehr offen mit allem um, ohne Tilli ein imaginäres Schild umzuhängen."

Wie war das als Tillmann noch ein Baby war? Hattest du das Gefühl Mütter behandeln dich anders?

Der häufigste Satz anderer Mütter ist und bleibt: “Aber das sind so glückliche Menschen.” Bis heute weiß ich nicht so recht, was man sich selbst damit sagen will. Doch in den meisten Fällen hatten und haben wir tolle und liebevolle Begegnungen. Nur in Einzelfällen hat man sich von uns abgewendet oder getuschelt. Ich gehe sehr offen mit allem um, ohne Tilli ein imaginäres Schild umzuhängen. Ich kläre Fragen, entschärfe Klischees und Vorurteile.

Wirklich bewegt hat mich eine Mutter aus Tillis Kindergarten, die mich erst kürzlich ansprach und mir verriet, dass bei ihrem gesunden 5-jährigen Sohn auch eine Diagnose im Raum stand. Liebevoll strich sie Tilli über die Wange und sagte wie schön es sei, dass er da ist. Ich riss mich mühsam zusammen, bis ich mit Tilli im Auto saß. Dann drückte ich ihn fest und weinte eine einzelne und ziemlich glückliche Träne.

Was bedeutet Normalität für dich?

Normalität ist eine Illusion. Sie ist die Meinung vieler und nicht die Wahrheit aller.

War Tillmanns Gendefekt für euch als Paar eine Herausforderung?

Das ist sie täglich. Mal mit mehr, mal mit weniger Aufwand. Ich weiß noch, wie ich Tillmann durch die ersten Einheiten der Physiotherapie begleitete. Er schrie oft. Bewegungen die für unsereins normal sind, waren für ihn das Maximum des Erträglichen. Dann das warten auf motorische Meilensteine, die auch uns Stück für Stück befreiten. Tillmann lernte erst Laufen, als Frida und Janosch schon auf der Welt waren. Ständig wägen wir Therapien und mögliche Übungen ab, um ihm beim Spracherwerb bestmöglich zu unterstützen.

Ich habe nie das Gefühl genug zu tun, zu wissen oder zu geben. Und das ist die eigentliche Herausforderung. Die Mutter zu sein, die ich ihm und seinen Geschwistern sein will.

Wie hat sich euer Leben durch die Zwillinge verändert?

Extrem. Nicht nur weil sie zu zweit sind. Wir hatten im letzten Jahr mit vielen Hürden zu kämpfen. Von einer ziemlich turbulenten Schwangerschaft, über eine aufreibende Frühgeburt, über Hüftbeugeschienen, Blockaden, abendliche Unruhen und Eifersucht über Impfreaktionen bis hin zu dauerhaftem Schlafentzug war alles dabei, mit dem wir nicht gerechnet haben. Unsere elterliche Gelassenheit versteckt sich zuweilen hinter ziemlich dünnen Nerven.

Jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, der uns entgegen aller Widrigkeiten unheimlich zusammengeschweißt hat. Es gibt für alles ziemlich neue Rituale und Gewohnheiten. Neu ist im ersten Moment oft unbequem, doch im zweiten noch häufiger alles wert, was man geben musste.

Du bist momentan in Elternzeit. Wie geht es danach weiter?

Gute Frage. Es steht noch nicht fest. Ich werde nebenberuflich als Coach arbeiten. Vorrangig für Eltern. Es gibt aber noch andere verrückte Ideen. Den Traum vom eigenen Eltern-Kind-Café. Oder einem Buch. Oder einem Buch schreibend in einem Eltern-Kind-Café, während ich vom Coaching leben kann und meinen Kindern eine gute Mutter bin.

Was ist das Anstrengendste am Mama-Sein?

Derzeit? Der Verantwortung nicht entkommen zu können. Keine großen Lücken zu haben um aufzutanken. Es fühlt sich an wie an den Start eines Jedermann-Triathlons gegangen zu sein um festzustellen, dass man am Iron-Man teilnimmt. Was an sich mein größter Traum wäre. Ich bin nur noch nicht in Form.

Und das Schönste?

Dass ich Mama sein darf. Von Tillmann. Von Janosch. Und von Frida.

Danke dir liebe Irina!

Irina und Alfred Martius mit Frida,Janosch und Tillmann. Februar 2019.

Interview: Marie Zeisler
Fotos: Maren Tobis