Alissa Hitzemann mit Amani und Malaika
Wir sind eine krasse Herde!

Alissa ist eine Frau, die einen sofort mitreißt mit ihrer fröhlichen, energetischen Art. Und eine, der man wahnsinnig gerne zuhört. Denn zu erzählen hat Alissa viel. In München geboren, hat sie dann aber die ersten Lebensjahre in einem kleinen Dorf in der nigrischen Wüste verbracht. Es folgten Stationen in Malawi, Burkina Faso, Indien, den USA und Jamaika. Dort lernte sie dann auch den Vater ihrer beiden Kinder kennen. Gearbeitet hat Alissa schon als Geschichtenerzählerin, im Kindercafé und als Schauspielerin. Und im Lockdown hat sie dann neben Homeschooling und sonstiger Care Arbeit mal eben ein Lernkartenspiel konzipiert und umgesetzt. Mit Erfolg: “B wie Berlin” gibt es mittlerweile in der dritten Auflage zu kaufen. Wie sie den Familienbegriff definiert und lebt, was sie inspiriert und wie ihre nomadische Kindheit sie geprägt hat, darüber haben wir mit ihr gesprochen. Und einen schönen Spätsommersonntag in ihrer bunt eingerichteten, gemütlichen Wohnung in Berlin Prenzlauer Berg verbracht.

Du wohnst mit deinen beiden Kindern Amani und Malaika in Prenzlauer Berg. Dein Partner und Vater der Kinder lebt aber derzeit in seinem Heimatland Jamaika. Erzähl doch mal, wie ihr euch kennengelernt habt, wo ihr bislang gemeinsam gelebt habt und wie ihr jetzt euren Alltag als Familie gestaltet?

Kennengelernt haben wir uns 2008, als ich in Jamaika studiert habe. Damals war ich eigentlich am Wellesley College in Boston (USA), wollte aber für ein Semester an die University of the West Indies in Kingston um dort „Caribbean Cultural Studies“ zu studieren. Ich war viel unterwegs, in den Clubs und auf Street Partys, und ich habe mich in Jamaika und in die Dancehall Culture verliebt! Er hat mich irgendwann auf einer Party entdeckt und hat über Freunde herausgefunden, wer ich bin. So sind wir in Kontakt gekommen. Richtig kennengelernt haben wir uns aber erst in den darauffolgenden Jahren, als unsere Wege sich immer wieder kreuzten: Labour Day in New York, Summerjam in Köln, einmal sind wir uns sogar zufällig auf dem Flughafen in Miami begegnet und saßen dann nebeneinander im gleichen Flieger! Jetzt lebt er in Jamaika und ich mit unseren zwei Kindern in Berlin. Ich liebe Berlin! Es war von Anfang an klar, dass wir beide gerne und viel reisen und nicht immer zusammen leben würden. Trotzdem sind wir ganz selbstverständlich eine Familie, die zusammenhält, auch wenn wir nicht immer zusammen sind… Macht das Sinn? Wir sind eine starke Familie, zu der viele Menschen dazugehören. Nicht nur Vater, Mutter und Kinder.

Du bist Kind einer deutsch-österreichischen Mutter und eines Vaters aus dem Nomaden-Stamm der Touareg. Gemeinsam mit deinen 5 Jahre jüngeren Zwillingsschwestern seid ihr viel gereist. Wie hast du das als Kind erlebt?

Ich bin in München geboren und nach zwei Monaten ist meine Mutter mit mir zusammen in den Niger zurückgekehrt. Die ersten paar Jahre meines Lebens bin ich in der Wüste aufgewachsen. Ich habe in Deutschland, im Niger, in Malawi, Burkina Faso und Indien gelebt und wir sind immer schon sehr viel als Familie gereist. Unsere Reisen waren ein großes Abendteuer. Wir haben als Kinder so viele tolle Sachen erlebt! Vor allem sind wir sehr unterschiedlichen Menschen begegnet. Das hat uns extrem bereichert. Aufzuwachsen und mitzubekommen, wie unglaublich divers und vielfältig unsere Welt ist, ist wichtig. Ich habe früh gelernt, auf die Gemeinsamkeiten zu achten, auf Leute zuzugehen, von ihnen zu lernen. Bis heute ist es so, dass ich mich wohl fühle, wenn ich Sprachen höre, die ich nicht verstehe. Ich habe durch das viele Reisen gelernt, mit Leuten klar zu kommen, die ganz anders sind als ich und das wertzuschätzen. Und meine Eltern haben mir gezeigt, wie unkompliziert Reisen sein kann. Als mein Vater zum ersten Mal in die USA geflogen ist, um mich zu besuchen, hatte er nur einen kleinen Rucksack dabei. Obwohl er drei Monate bleiben wollte. Mehr brauchte er nicht.

Du bist dann aber auch in einer bayerischen Kleinstadt aufs Gymnasium gegangen, hast in Indien Abitur und in Boston einen Bachelor in Afrikanistik sowie in Film- und Medienwissenschaften gemacht. Wie kam es dazu?

Wir haben in so vielen verschiedenen Ländern gelebt, weil meine Mutter in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit tätig war. Sie hat beispielsweise für den DED oder die GTZ, Save the Children und die UNO gearbeitet. Dabei war immer ganz wichtig, dass sie nicht, so wie es z.B. bei Diplomaten üblich ist, einfach irgendwo hin entsandt wurde. Meine Mutter hat sich die Länder, in denen sie mit uns gelebt hat, immer selber ausgesucht. Sie hat sich vorbereitet und wahnsinnig gefreut. Deswegen war es für uns auch keine Last, sondern eine schöne Herausforderung. Wir waren gespannt und aufgeregt und fanden es toll, ein neues Land, eine neue Schule und neue Kulturen entdecken zu dürfen. Anstatt traurig zu sein, dass ich meine FreundInnen verlassen musste, habe ich mich gefreut, immer mehr Leute kennenzulernen. Ich habe durch das viele Reisen und die verschiedenen Länder, in denen ich gelebt habe, ein großes internationales Netzwerk an Freunden und Bekannten. Egal wo ich hinreise, werde ich immer jemanden finden können, der jemanden kennt, den ich kenne. Davon abgesehen, war ich auf internationalen Schulen, wo die meisten Kinder ein ähnliches Leben wie ich geführt haben. Als ich dann mit vierzehn in ein kleines bayerisches Dorf kam und auf ein bayerisches Gymnasium ging, war das schon ein Kulturschock für mich. Auf einmal war ich ganz anders, als alle anderen. Ich hab mich nicht wohl gefühlt. Also ging ich aufs Internat nach Indien. Ich bin wirklich das, was man „Third Culture Kid“ nennt. Ich fühle mich weder in der deutschen Kultur, noch in der nigrischen Kultur 100% dazugehörig. Und trotzdem fühle ich mich überall zuhause, auch wenn ich immer Heimweh habe.

Und hatte deine, im wahrsten Sinne des Wortes, nomadische Kindheit auch manchmal Nachteile für dich?

Nein, das würde ich nicht sagen. Klar habe ich meine FreundInnen manchmal sehr vermisst, aber echte Freundschaften halten das aus. Ich bin immer noch sehr eng befreundet mit vielen tollen Frauen, die ich seit langer Zeit kenne. Aber manchmal frage ich mich natürlich schon, wie das ist, sein ganzen Leben im gleichen Haus aufzuwachsen, wenn die eigenen Kinder in die gleiche Kita oder Schule gehen, in der man selbst als Kind war. Das habe ich zum ersten Mal hier in Berlin erlebt und wusste gar nicht, dass es das gibt. Ich bewundere das irgendwie. Vielleicht ist es doch ein kleiner Nachteil meiner Kindheit: Ich habe ein ständiges, unterschwelliges Gefühl, dass ich weiterziehen muss. Ich habe Angst, mir vorzustellen, die nächsten 10 Jahre in Berlin zu verbringen. Angst, ich könnte etwas Tolles da draußen verpassen.

Vielleicht ist es doch ein kleiner Nachteil meiner Kindheit: Ich habe ein ständiges, unterschwelliges Gefühl, dass ich weiterziehen muss.

Du hast dir das Lernkartenspiel „B wie Berlin“ ausgedacht und in enger Zusammenarbeit mit deinen Schwestern als Familienprojekt auf die Beine gestellt, inklusive Marketing und Vertrieb. Wie kamst du auf die Idee und woher kamen deine Ressourcen als quasi alleinerziehende Mutter zweier Kinder, inmitten von Lockdown und Homeschooling?

Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 war ich plötzlich Monate lang alleine mit meinen zwei Kindern zuhause. Schule und Kita waren zu und auch der Minijob im Kindercafé und meine Arbeit als Geschichtenerzählerin und Komparsin fiel weg. Ich musste nicht im Homeoffice arbeiten und hatte das große Privileg, ganz viel intensive Zeit mit meinen Kindern zu verbringen. Wir hatten viel Spaß zusammen! Mein Großer war damals in der 2. Klasse und ich habe jeden Tag mit ihm Homeschooling gemacht. Da wollte die Kleine auf einmal auch lernen und Hausaufgaben machen. Also fing ich an, meiner damals Dreijährigen das Alphabet beizubringen. Dabei fiel mir auf, dass die Lernposter und Spiele, die ich hatte, langweilig waren und sie überhaupt nichts mit N wie Nachtigall, Q wie Qualle und Y wie Yak anfangen konnte. Ich dachte mir, warum kein Alphabet entwickeln, das ihre Lebensrealität widerspiegelt? Anstatt C wie Chamäleon warum nicht C wie Currywurst, E wie Erster Mai, F wie Fahrradfahren und G wie Grenze? Als ich so darüber nachdachte, wurde mir schnell klar, dass ich mit den Lernkarten viel mehr erreichen wollte. Sie sollten interessante Themen ansprechen, politisch bilden und zeigen, dass Diversität und Vielfalt Normalität sind. Wir haben Berlin so abgebildet, wie Berlin eben ist: vielfältig, weltoffen und politisch engagiert. Meine Schwestern Mirja und Sakina haben mich von Anfang an unterstützt und als unsere Illustratorin Nour Abdallah noch dazu kam, war das Dream Team komplett. Mein Ziel war es, einfach mal eine meiner vielen Ideen umzusetzen und ein echtes Produkt zu entwickeln. Dass wir jetzt schon bei der dritten Auflage sind, hätten wir nicht gedacht. B wie Berlin ist mein erstes Unternehmen und ich arbeite viel daran, dass es stetig wächst. Viele lange Nächte, wenig Schlaf! Meine Energie kommt daher, dass ich wirklich an mein Projekt glaube und dass ich ein tolles Team habe. Wir unterstützen uns gegenseitig.

Erlebst du das auch so, dass die Lebenswelt deiner Kinder in Berlin so vielfältig ist?

Ja! Und genau das war mir wichtig, dass alle Kinder sich und ihre Umgebung in den Lernkarten wiederfinden können. Es gibt leider immer noch sehr wenig Vielfalt in Spielen und Lernmaterialien. Dabei ist es schon längst bekannt, dass man besser lernt, wenn man einen Bezug zum Gelernten aufbauen kann. Es ist wichtig für das Selbstwertgefühl und das Selbstbild, sich dazugehörig zu fühlen. Wenn ein Kind einen großen Afro hat und das aber noch nie in einem Buch oder einem Spiel abgebildet gesehen hat, dann fehlt etwas. Jeder möchte wahrgenommen und akzeptiert werden. Deswegen haben wir uns viele Gedanken gemacht, unterschiedliche Hautfarben, junge und alte Menschen, Kinder mit und ohne Behinderung, verschiedene Körperformen etc. abzubilden. Es war mir von Anfang an wichtig, dass die Lernkarten ein Ausgangspunkt für interessante Diskussionen sein sollten. Deswegen sind in jeder Karte viele kleine Details versteckt. Zum Beispiel die Yoga Dame mit den behaarten Beinen oder die Protest-Karte mit der abgebildeten Demo – da gibt es so viel zu entdecken! Es ist wichtig, dass Kinder lernen, wie toll das ist, dass wir alle unterschiedlich sind. Ich sage meinen Kindern immer „Stellt euch vor, wie die Welt wäre, wenn wir alle gleich aussehen würden“. Meine Kinder sagen dazu: „Dann wüssten wir ja gar nicht, wer unsere Mama ist!“ Diversität ist eine Bereicherung. Das will ich vermitteln.

Diversität ist eine Bereicherung. Das will ich vermitteln.

Wie definierst du für dich den Begriff „Familie“?

Familie für mich ist Zuhause. Ich fühle mich dort wohl, wo meine Familie ist. Familie ist auch Zusammenhalt, sich helfen, füreinander da sein, Spaß haben, miteinander lachen. Wir sind eine große Familie, auf drei Kontinenten verteilt. Meine Kinder haben zwei Geschwister, mit denen sie nicht zusammen aufgewachsen sind. Ich habe auch Geschwister, mit denen ich nicht zusammen aufgewachsen bin. Trotzdem ist es für uns selbstverständlich, dass wir eine Familie sind und zusammen gehören. Meine Schwestern und ich sind bis heute ganz eng, auch wenn wir zwischenzeitlich auf unterschiedlichen Kontinenten gelebt haben. Wir haben großes Glück, dass wir momentan seit ein paar Jahren zusammen in Berlin leben. Das hat sich so ergeben, als meine Schwester zum Studium hierher zog. Ich hatte nichts zu tun, also kam ich mit. Später als ich mein erstes Kind hier bekam, ist meine Mutter dazugekommen und dann auch noch mein Großvater. Ich bin so aufgewachsen, dass meine Onkel den gleichen Stellenwert wie mein Vater haben. Meine Schwestern kümmern sich um meine Kinder, als wären es ihre. Ich weiß, dass ich unglaubliches Glück habe mit meiner Familie und es überhaupt nicht selbstverständlich ist, dass man sich so gut versteht. Mein Vater ist mittlerweile wieder in den Niger gezogen. Er lebt seit einigen Jahren dort mit seinen Kamelen und Schafen in der Wüste, wo er sich am wohlsten fühlt. Wenn man Familie ist, dann akzeptiert man einander, so wie man ist und unterstützt einander, um die jeweiligen Träume zu verwirklichen. Wir sind eine krasse Herde!

Hast du derzeit Fernweh, oder fühlst du dich ganz wohl in Berlin?

Beides. Ich habe immer wieder mal Fernweh aber ich fühle mich super wohl in Berlin. Ich liebe diese Stadt, finde es unglaublich spannend, wieviel hier passiert. Ich habe auch in Paris und London gelebt und finde im Vergleich ist Berlin viel langsamer. Man genießt das Leben hier. Und es ist trotzdem international. Ich könnte mir nicht vorstellen, in einer anderen deutschen Stadt zu leben. Ein Umzug ist nicht geplant, aber ich habe immer im Hinterkopf, dass ich liebend gerne eine Weltreise mit meinen Kindern machen würde. Ein Jahr lang um die Welt. Ich weiß noch nicht, wie oder wann, aber wenn die Zeit gekommen ist, wird das schon klappen. Wenn mir in Berlin die Decke auf den Kopf fällt, gehe ich aufs Tempelhofer Feld. Dort kann ich in die Ferne schauen und fühle mich frei.

Familie ist auch Zusammenhalt, sich helfen, für einander da sein, Spaß haben, miteinander lachen.

Es gibt ja dieses oft zitierte Sprichwort, dass es ein Dorf braucht, um Kinder großzuziehen. Würdest du das bejahen – und hast du dieses „Dorf“?

Ja, absolut! Mein Dorf ist nicht nur meine Familie, sondern auch meine FreundInnen und NachbarInnen. Sogar die Eltern aus der Schule und Kita. Wir helfen einander und unterstützen uns gegenseitig. Mal hole ich die Kinder meiner Freunde ab oder pass auf sie auf, mal andersherum. Es ist wichtig, diese Unterstützung zu haben. Ich könnte gar nicht alles alleine schaffen! Und für die Kinder ist es auch interessanter. So lernen sie andere Familien und Lebensrealitäten kennen. In meiner Kindheit war es so, dass eigentlich immer ein Onkel oder Cousin mit uns gelebt hat, ein Freund meines Vaters oder auch mal eine Kinderfrau. Diesen Luxus habe ich hier nicht in Berlin. Trotzdem bin ich nie wirklich alleine mit den Kindern.

Es ist wichtig, diese Unterstützung zu haben. Ich könnte gar nicht alles alleine schaffen!

Wer oder was inspiriert dich?

Mich inspirieren Frauen. Frauen, die ihren eigenen Weg gehen, die keine Angst haben, Neues auszuprobieren, die sich und ihre Träume verwirklichen. Meine Mutter inspiriert mich, meine Großmutter auch. Und meine Schwestern. Wir haben viele starke Frauen in der Familie. Mich inspirieren aber auch Politikerinnen, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen. Ich liebe Missy Elliot und Cardi B! Frauen, die genau das machen worauf SIE Lust haben, without apology.

Was findest du das Schönste am Muttersein?

Ich wusste schon als ich sehr jung war, dass ich gerne eine Familie und mehrere Kinder haben würde. Ich liebe das einfach! Am Schönsten finde ich, dass mir absolut nie langweilig wird, immer ist Action angesagt bei uns Zuhause. Immer ist etwas los. Das mag ich. Ich bin die Mutter, die gerne Riesen-Feiern schmeißt und am liebsten die gesamte Klasse einlädt. Ich finde es auch wunderschön, einen anderen Menschen durchs Leben begleiten zu dürfen. Was für eine Ehre! Ich unterhalte mich ganz viel mit meinen Kindern und sie erzählen mir (noch!) viel. Wir vertrauen einander.

Und was das Nervigste?

Was ich anstrengend finde, sind die Erwartungen, die unsere Gesellschaft an Mütter stellt. Dieses „Supermom“ Image, von der Mutter, die alles schafft: kochen, Hausaufgaben, mit den Kids spielen, Vollzeit arbeiten und die tollsten Torten backen. Alles bio natürlich. Das ist unmöglich und setzt viele Mütter enorm unter Druck. Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, zu akzeptieren, dass jeder Mensch unterschiedlich ist und so auch jede Mutter. Jede Familie. Und dass das gut so ist.

Ich wünschte mir, dass wir es schaffen zu akzeptieren, dass jeder Mensch unterschiedlich ist und so auch jede Mutter. Jede Familie. Und dass das gut so ist.

Danke für das schöne Gespräch, Alissa!

Alissa Hitzemann mit Amani (8) und Mailaika (4), Berlin, September 2021
Fotos: Katja Hentschel
Interview: Hannah Stenke