Jasmin Dickerson mit Klara
Ich habe mir ausgesucht, ein Kind zu bekommen. Ich habe mir nicht ausgesucht, von Altersarmut bedroht zu sein.

Jasmin ist eine der Personen, die man auf Instagram entdeckt und die einen mit ihrem bunten, energiegeladenen und fröhlich anmutendem Profil direkt in ihren Bann zieht. Das ist erstaunlich, weil ihr Alltag als alleinerziehende, biracial und neurodivergente Mutter einer behinderten Tochter sicherlich alles andere als easy und auch konträr zu vielen anderen Profilen auf Instagram ist… AberJasmin stellt ihren Alltag eben auch nicht düster und bemitleidenswert dar. Sie ermöglicht einen umfassenden 360 Grad Blick auf ihr Leben mit Klara, der einem oft die Augen öffnet für Missstände, die pflegende Eltern jeden Tag mitmachen. Dabei ist sie so inspirierend, dass man immer wieder beeindruckt ist von ihr und ihrem Spirit.

Liebe Jasmin, du lebst gemeinsam mit deiner Tochter Klara in Saarbrücken und bist damit, nach einigen Jahren in Berlin, wieder in deine Heimat zurückgekehrt. Was waren die Gründe dafür?

Richtig, ich habe von 2005 bis 2018 in Berlin gelebt, also fast 14 Jahre. Ich bin mit 19 als Teenager hergezogen und dann mit 33 mitsamt Klara nach Saarbrücken zurück. Das hatte mehrere Gründe: Zum einen hatte das Startup, in dem ich gearbeitet hatte, Insolvenz angemeldet. Dann war meine Wohnung in Prenzlauer Berg sehr teuer für sehr wenig Quadratmeter und so langsam stellte sich damals auch heraus, dass Klara sich nicht entwickelte, wie erwartet. Ich habe also die Entscheidung getroffen, zurück zu gehen, weil meine Familie dann näher ist und auch, weil ich im Saarland eine größere Wohnung anmieten konnte.

Stichwort Wohnungssuche: Findet man so eine wunderschöne Wohnung wie deine tatsächlich leichter in Saarbrücken, oder war das schon auch ein Glücksgriff?

Also man findet natürlich vergleichsweise viel günstigere Wohnungen viel schneller, als in Berlin, aber meine Wohnung mit 120 qm, großem Balkon und 3,5 Zimmern in einem recht gehobenen Stadtteil war ein absoluter Glücksgriff. Ich habe damals sogar kurz gedacht, dass das vielleicht irgendein Betrug ist, weil das nette Eigentümer-Ehepaar sich so schnell für mich entschieden hatte!

Aber Gott sei Dank hatte ich einfach großes Glück.

Klara kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt. Wann wurde das bemerkt und magst du ein wenig erzählen über die erste Zeit?

Das wurde nicht klassisch bemerkt, vielmehr ist es so, dass in den meisten Fällen erst einmal eine Entwicklungsverzögerung und Muskelhypotonie festgestellt wird. Das war bei Klara bei der U4 Untersuchung, bzw. es ist uns vorher bereits aufgefallen und sie bekam schon Physiotherapie, die Kinderärztin war aber erst bei der U4 alarmiert. Richtig los mit der Diagnostik ging es dann erst nach meinem Umzug, denn man muss in jedem SPZ (Sozialpädiatrischen Zentrum), wo die Diagnostik in der Regel beginnt, sehr lange auf einen Termin warten. Die gesamte Diagnostik hat sich dann tatsächlich mit allen Tests und Terminen, verschiedenen Krankenhausaufenthalten und Untersuchungen bis zu ihrem zweiten Geburtstag hingezogen, dann bekamen wir endlich die Diagnose: Pitt Hopkins.
Die Zeit vor der Diagnose war sehr aufwühlend und schlimm für mich, da ich sehr einsam und voller Sorge und Angst war. Keiner wusste, was mein Kind hat, oder ob es lebensverkürzt erkrankt ist. Das war tatsächlich eine berechtigte Sorge, denn ihre Symptomatik deutete durchaus darauf hin. Pitt Hopkins ist aber nicht lebensverkürzend, auch wenn Menschen mit Pitt Hopkins Syndrom oft gesundheitliche Probleme haben, die lebensgefährlich sein können. Bisher ist das bei Klara aber keine akute Sorge, solange sie ihre Medikamente und die richtige Pflege erhält.

Die Zeit vor der Diagnose war sehr aufwühlend und schlimm für mich.

Du hast mittlerweile einen neuen Partner, der ebenfalls Vater einer Tochter ist. Wie habt ihr euch denn kennengelernt?

Ui, kennengelernt haben wir uns schon vor etwa 20 Jahren, damals in einer –  ich sage mal “Diskothek” –  dann merkt man mir mein Alter auch an :) –  in der sich damals alle “Alternative-Kids” trafen, denn da gab es Freitags “Hard´n Heavy Night”.
Ich war eigentlich direkt in ihn verknallt, er wohl auch in mich, allerdings haben wir das nicht so richtig geschnallt. Wir haben dann aber einige Zeit später sogar mal geknutscht und hatten dann das, was er gerne “das schlimmste Date aller Zeiten “ nennt, haha! Bei dem ich in der Bar seine Tasche ausgeräumt und inspiziert habe, er dann bei mir übernachtet hat und ich einen Schuh an meine Tür geworfen habe, weil meine damaligen Mitbewohner so laut waren. Aus uns wurde damals aus mir unerfindlichen Gründen nichts :).
Er kam zunächst mit einer Freundin von mir zusammen, ich zog nach Berlin und wir hatten über die Jahre mäßig bis keinen Kontakt. 2020 haben wir dann wieder Kontakt miteinander aufgenommen und es hat ziemlich schnell ziemlich doll gefunkt. Jetzt sind wir seit  genau anderthalb Jahren ein Paar.

Und wie war das für Klara, dass da nun noch jemand in eurem Leben ist? Wie hat sie das wahrgenommen?

Klara hat sich von Anfang an in ihn verliebt und die Bindung zwischen den beiden ist wirklich toll. Er spielt ihr oft auf der Gitarre vor und sie klaut mit Vorliebe seine Brille…

Wie sieht denn ein „typischer“ Tag aus bei euch?

Während der Woche beginnt unser Tag um etwa 5.30 Uhr, dann steht mein Freund auf und fährt gegen 6.15 Uhr zur Arbeit. Ich schäle mich um 6 Uhr aus dem Bett und wecke Klara, gebe ihr ihr Frühstück, putze ihre Zähne und ziehe sie an. Dann kommt um 7 Uhr der Fahrdienst, der sie abholt und in ihre Inklusions-Kita bringt. Ich gehe dann duschen, packe meine Sachen für die Arbeit, sofern ich nicht im Homeoffice bin, und fahre los ins Büro. Nachmittags nehme ich den Bus, sodass ich um 15.20 Uhr zu hause bin, wenn der Fahrdienst Klara nach Hause bringt. Dann schaue ich ins Kita-Buch und spiele ein bisschen mit ihr, manchmal lege ich sie in ihr Zimmer, wenn ich merke, dass sie Ruhe braucht. Gegen 18 Uhr oder etwas früher isst sie zu Abend und spielt danach noch etwas. Um 19 oder 19.30 Uhr putze ich ihre Zähne und sie schläft (oder soll schlafen). Mein Freund kommt meistens dann hierher nach seiner Bandprobe. Ich bzw. wir sind vom Tag meist so geplättet, dass wir nur noch einige Folgen “Seinfeld” schauen. Am Wochenende sind wir oft unterwegs mit beiden Kindern, also mit Klara und dem Kind meines Freundes. Wenn wir kindfrei haben, gehen wir auf Konzerte, machen Städte-Touren im “Rentner*innen”- Style oder faulenzen zuhause.

Welche Hürden begegnen euch aufgrund von Klaras Behinderung in eurem täglichen Leben?

Da sind so viele, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll… Unser Aufzug ist oft defekt, wir wohnen im fünften Stock, das ist jedesmal eine große Hürde. Betreuung ist ein ständiger Kampf, den ich meist verliere. Ärzt*innen und Pflegepersonal sind oft nicht geschult im Umgang mit behinderten Menschen, das führt zu verschiedenen Konflikten. Als wir einen Hörtest machen sollten, hatte ich bei der HNO-Praxis gesagt, dass wir den Test nicht dort machen können, da Klara dafür sediert werden muss. Woraufhin mir die Ärztin sagte, dass sie auch Mutter sei und dass sie nicht verstehen könne, wieso ich es nicht einfach versuchen würde und mit meinem Kind reden und es beruhigen. Sie hat nicht verstanden, dass mein Kind nun mal keine Sprache versteht – egal wie oft und geduldig ich das versuche.

Betreuung ist ein ständiger Kampf, den ich meist verliere.

Du gehst sehr offen damit um, dass du selbst Autistin bist und zudem ADHS hast. Wie bist du darauf gekommen, dass du nicht „neurotypisch“ bist und wie war dein Weg bis zur offiziellen Diagnose?

Ich war als Kind schon verhaltensauffällig, es hat aber leider 33 Jahre gedauert, bis ich meine Diagnose bekam, da ich gar nicht so richtig wusste, wo ich suchen soll. Ich habe dann in der Uniklinik im Saarland einen Termin vereinbart und ein Jahr später hatte ich meine Diagnose.

Kannst du erzählen, inwieweit dich Autismus und ADHS in deinem Alltag behindern? Und hast du selbst aufgrund deiner Neurodivergenz schon diskriminierende Erfahrungen machen müssen?

Ich denke, am meisten behindert mich die fehlende Energie und das Chaos in meinem Kopf. Ich muss immer genau abwägen, was ich wann mache, denn wenn ich mir zu viel vornehme, kriege ich am Ende nichts hin und falle in die Depression. Und sicherlich habe ich auch Diskriminierung erfahren… Ich wurde viel ausgeschlossen, in der Schule gemobbt, etc.. Ich glaube aber, dass ich nicht genau auseinander halten kann, aus welchen Gründen ich wann diskriminiert wurde und ich glaube auch nicht, dass es mir gut tun würde, darüber zu viel nachzudenken. Ich bin jetzt erwachsen und habe und hatte das Privileg, mir ein Umfeld und einen Arbeitsplatz schaffen zu können, in dem ich funktioniere und in dem meine Neurodivergenz keine signifikante Rolle spielt, sofern ich sie nicht selbst thematisiere.

Hast du denn Unterstützung mit Klara? Kannst du dir manchmal auch Zeit für dich nehmen?

Ja ich habe sowohl Unterstützung von ihren Großeltern, meiner Mutter und ihrem Mann, als auch der anderen Großmutter. Meine Mutter war selbst lange in der Pflege tätig, bis sie umgeschult hat. Leider hat sie durch ihre Vollzeitbeschäftigung nicht so viel Zeit und ich kann sie nicht ständig um Hilfe bitten, aber sie ist da, wenn es mal brenzlig ist! Und auch, wenn ich einmal eine Auszeit brauche oder einen Abend alleine mit meinem Partner verbringen will.

Wenn die Welt morgen komplett inklusiv wäre: Was würde sich für euer Leben ändern?

Das ist zu viel, aber ich versuche, ein paar Punkte aufzuzählen:

Klaras Betreuung wäre genauso lange gesichert, wie die von Kindern ohne Behinderung. Es gäbe Angebote zur Ferienfreizeit, sowie Schülerhorte. Alle Informationen zu Pflege, Hilfsmitteln und anderen Hilfen wären niedrigschwellig zugänglich.
Pflegende Angehörige, besonders Eltern, hätten genug Entlastung und Möglichkeiten für eine Eltern-/Kind-Kur, so wie das alle anderen Eltern auch haben. Spielplätze wären nicht nur zugänglich für alle, sondern hätten auch Spielmöglichkeiten für behinderte Kinder, die über eine traurig wippende Rollstuhlschaukel hinaus gehen. In den Medien und auch sonst würde positiv und ohne Pathos von Unterschieden berichtet, statt Eltern von behinderten Kindern als Superhelden darzustellen, mit denen man selbst außerhalb von Bewunderung nichts zu tun haben möchte.

Du bist Projektreferentin in einem bundesgeförderten Projekt für Sport und Teilhabe und baust in dem Zuge eine Antidiskriminierungsstelle im Fußball auf. Wie spannend! Magst du ein bisschen erzählen, was genau du da machst?

Ich stehe den regionalen Fußballvereinen beratend zur Seite, wenn dort Diskriminierungsfälle vorliegen. Ich mache aber keine Betroffenenberatung, sondern arbeite mit der jeweiligen diskriminierenden Instanz. Betroffene verweise ich an eine Beratungsstelle in unserem Netzwerk. Je nach Fall, berate ich selbst oder arbeite mit Organisationen zusammen, die dann helfend zur Seite stehen. Unser Ziel ist es, den Sport und insbesondere den Fußball diskriminierungsfreier und inklusiver zu gestalten.

Es macht mich glücklich, wie sehr sie geliebt wird.

Was ist für dich das Schönste am Muttersein? Und was das Herausfordernste?

Das Schönste ist, dass ich meiner wundervollen Tochter beim Wachsen zusehen darf und sie dabei begleiten kann. Und dass es mich glücklich macht, wie sehr sie geliebt wird.

Das Herausfordernste ist für mich die latente Kinderfeindlichkeit, mit der ich bisweilen konfrontiert bin. Ich erwarte nicht, dass alle Menschen ein Riesen Interesse an Kindern an sich haben, allerdings kann ich mit dieser “du hast dir ausgesucht, ein Kind zu bekommen, jetzt schau, wie du zurecht kommst”-Einstellung absolut nichts anfangen und habe dafür auch kein Verständnis. Kinder sind Teil dieser Gesellschaft und ihre Eltern auch. Insbesondere pflegende Eltern brauchen demnach gesellschaftliche Unterstützung und die fehlt. Sie fehlt, weil das Verständnis fehlt, was es bedeutet, für ein Kind verantwortlich zu sein und damit allein gelassen zu werden. Ich habe mir ausgesucht, ein Kind zu bekommen. Ich habe mir nicht ausgesucht, von Altersarmut bedroht zu sein und mit fehlenden Betreuungsplätzen und fehlender Unterstützung im Alltag konfrontiert zu sein. Ich habe mir auch nicht ausgesucht, finanziell tendenziell schlechter da zu stehen, als Menschen ohne Kinder und ich habe mir sicher nicht ausgesucht, ein Kind zu bekommen, um mir anzuhören, dass ich gefälligst nicht jammern soll. Insbesondere im Zuge der Pandemie finde ich diese Einstellung reichlich zynisch.

Danke für das spannende Gespräch und alles Liebe für eure Familie.

Jasmin Dickerson mit Klara (4), Mai 2022
Interview: Hannah Stenke
Bilder: Jan Halberstadt