Wie viel kann eine Familie verkraften? Daniela schreibt auf ihrem Instagram Account sehr mitreißend über das Leben als pflegendes und trauerndes Elternteil. Ihre Postings machen immer wieder nachdenklich und rühren uns, auch weil man Danielas rheinisch, fröhliches Wesen und die tiefe Verbundenheit zu ihrem Partner Thomas so sehr spürt, trotz – oder gerade wegen – der Schicksalsschläge, die die beiden erleiden mussten. Die beiden sind mit Tochter Leni erst vor Kurzem in eine schöne Gartenwohnung nach Münster gezogen. Dort haben wir die Drei besucht und mit ihnen über ihren Alltag gesprochen und über die besonderen Herausforderungen, die Lenis Behinderung mit sich bringt. Und darüber, was sie sich als verwaiste Eltern im Umgang mit Trauer von ihren Mitmenschen wünschen.
Daniela mit Thomas und LeniWir sind es gewohnt als Paar in Extremsituationen zu sein.
Liebe Daniela, stell dich und deine Familie doch bitte mal kurz vor!
Thomas ist 35 und der einzige echte Münsterländer unter uns. Ich, 41, habe bis 2019 in Köln gelebt und werde im Herzen immer eine Rheinländerin bleiben. Wir sind 2017 auf einem Festival in Münster ineinander gelaufen und haben uns an Ort und Stelle verliebt. Ziemlich schnell war dann Leni unterwegs und nachdem ich die ersten fünf Monate nach der Geburt mit Leni, heute vier Jahre, unter der Woche alleine war, habe ich schweren Herzens beschlossen, meine Wohnung in der Kölner Südstadt aufzugeben und zu Thomas zu ziehen. Mein Beruf lässt einfach deutlich mehr Flexibilität zu, was den Wohnort betrifft. Thomas ist Teamleiter bei einer Versicherung in Münster und ich arbeite für einen internationalen IT Dienstleister als Projektleiterin und Trainerin im Bereich HR.
Ihr seid ja erst vor Kurzem in diese wunderschöne Wohnung gezogen. Habt ihr sehr lange suchen müssen und gestaltet sich die Wohnungssuche in Münster ebenso schwer, wie die in Berlin?
Genau genommen war das der vierte Umzug für Leni und mich in fünf Jahren. Umso deutlicher Lenis Entwicklungsverzögerungen wurden, desto mehr haben wir uns dem Erdgeschoss angenähert und wohnen seit Oktober in einer Erdgeschosswohnung mit Garten. Die Wohnung ist ein Glücksgriff für uns, weil sie super ruhig mit Blick ins Grüne und gleichzeitig sehr zentral gelegen ist. Wir hatten meist Glück. Wenn wir eine Wohnung haben wollten, haben wir sie bekommen. Die jetzige vor allem, weil wir ein Kind mit Behinderung haben und auf eine gewisse Barrierefreiheit angewiesen sind.
Aber die Preise sind zuletzt auch hier explodiert und es ist einfach Wahnsinn, was eine Familie mittlerweile für drei Zimmer ausgeben muss.
Eure Tochter Leni kam mit einem Gendefekt zur Welt. Wann habt ihr das denn herausgefunden und wie war das für euch?
Leni ist gesund geboren, nach einer völlig unauffälligen Schwangerschaft. Die ersten Monate ist niemandem etwas aufgefallen, nur dass sie eben etwas gemütlicher war. Kurz nach unserem Umzug nach Münster sind wir nach Costa Rica aufgebrochen, um die Elternzeit auf Reisen zu verbringen. Die ersten Wochen waren ein Traum, bis Leni plötzlich unter Fieber anfing zu krampfen. Nach einigen Besuchen in der Klinik vor Ort wurde entschieden, dass man uns mit einem Ambulanzflugzeug in die USA ausfliegt, wo Leni acht Tage in einer privaten Kinderklinik behandelt wurde. Leider konnte man die Krampfanfälle nicht medikamentös einstellen, weshalb Leni und ich erneut mit einem Ambulanzflugzeug nach Deutschland ausgeflogen wurden. Thomas musste hinterher fliegen. Die nächsten Monate waren geprägt von vielen Wochen im Krankenhaus, der Suche nach der Diagnose und sehr viel Angst und Sorge.
In dieser Zeit wurde unsere Welt zum ersten Mal auf den Kopf gestellt. Ich werde niemals den Moment vergessen, als man uns auf dem Flur des Krankenhauses in Costa Rica sagte: Ihre Tochter hat Epilepsie, sie wird immer langsamer bleiben als andere Kinder. Damals stand die Welt still.
Zu welchen Beeinträchtigungen führt die Behinderung eurer Tochter im Alltag?
Leni hat eine Mutation auf dem ST3GAL3 Gen, die bisher nur wenige Male weltweit diagnostiziert wurde. Sie ist nun viereinhalb Jahre und kann weder laufen noch sprechen. Nach einer Reha im letzten Jahr kann sie für kurze Zeit gestützt stehen und sie kommuniziert nun immer mehr über Gestik und Mimik. Ihre Epilepsie ist derzeit gut eingestellt mit Medikamenten. Leider schläft Leni immer noch sehr schlecht und ist nachts manchmal bis zu 10 Mal wach. Das ist extrem anstrengend für uns und auch für sie. Für uns am herausforderndsten sind definitiv Lenis Wutanfälle. Da sie nicht machen und sagen kann, was sie gerne möchte ist sie oft frustriert und das Umfeld muss immer SOFORT reagieren. Dauert es zu lange, verstehen wir sie nicht richtig, oder können ihr nicht das geben, was sie möchte, bekommt sie manchmal einen sogenannten Meltdown. Dann brüllt sie sich regelrecht in Rage und kann manchmal für 30-60 Minuten nicht beruhigt werden. Auch zu viele Reize und Trubel kann sie schlecht verarbeiten und reagiert dann mit viel Gebrüll und Wut.
Wie hat euer Umfeld auf die Diagnose reagiert?
Die Diagnose haben wir erst ca. ein Jahr nach den ersten Krampfanfällen erhalten. Da war aber schon klar, dass Leni eine Behinderung haben wird, denn die Unterschiede zu Gleichaltrigen wurden immer größer. Man kann sagen, dass alle im Umfeld Zeit hatten, da langsam reinzuwachsen. Auch von Vorteil war sicher, dass alle Leni ja schon kannten und lieben gelernt hatten. Es ist sicher etwas anderes, wenn solch eine Diagnose in der Schwangerschaft gestellt wird und niemand so recht weiß, was ihn oder sie erwarten wird.
Wie würdest du Leni beschreiben?
Leni ist sehr intensiv. Wenn sie lacht, zieht sie alle in ihren Bann, da geht buchstäblich die Sonne auf. Wenn sie allerdings gestresst oder wütend ist, wirkt sich das ebenfalls auf ihr gesamtes Umfeld aus.
Und wie sieht ein typischer Tag aus bei euch?
Ich glaube unserer Tag unterscheidet sich (noch) nicht so sehr von einem von Eltern mit Kleinkindern ohne Behinderung. Leni weckt uns morgens, dann frühstücken wir gemeinsam, bevor einer Leni in die Kita bringt und der andere anfängt, zu arbeiten. In der Kita hat Leni alle Therapien, so dass wir nachmittags meistens frei haben. Dann spazieren wir noch eine Runde durch die Stadt, hören Straßenmusikern zu und gehen einkaufen. Nachmittags treffen wir uns alle zusammen in der Wohnung und trinken erstmal einen Kaffee zusammen. Das Kaffeetrinken ist unser gemeinsames Ritual und Hobby geworden. Während wir das Abendessen vorbereiten, muss Leni noch eine Runde in den Stehtrainer, um die Aufrichtung weiter zu üben. Gegen 19.30 geht sie ins Bett und wir abwechselnd zum Sport oder gemeinsam auf die Couch. Je älter Leni werden wird, desto mehr wird sich unser Alltag von dem mit Kindern ohne Behinderung unterscheiden. Die körperliche Pflege wird immer hoch bleiben und mit steigendem Gewicht immer anstrengender werden. Auch wird Leni sicher nie selbständig leben können.
Euch ist das wohl Schlimmste passiert, was Eltern erleben können: Eure zweite Tochter Marlie ist letztes Jahr kurz nach der Geburt verstorben…
Die ersten Wochen waren wir in einem absoluten Ausnahmezustand. Alles fühlt sich taub an und man kann keinen klaren Gedanken fassen. Für Leni mussten wir aber jeden Tag aufstehen und einen gewissen Alltag stemmen. Dabei hat uns auch meine Mutter vor Ort unterstützt. In der Nähe von Münster gibt es eine Stiftung, die verschiedene Angebote für verwaiste Eltern hat. Einzeln und als Paar. Das haben wir und nehmen wir noch heute in Anspruch, um uns mit Anderen auszutauschen, die das Gleiche erleben mussten. Außerdem gehe ich seitdem zu einer Therapeutin, die auf die Begleitung von Frauen nach einer traumatischen Geburt spezialisiert ist. Darüber reden miteinander und Vertrauten aufbauen hilft sehr, um das Ganze zu verarbeiten.
Viele Menschen haben wohl insgesamt mit Trauer und Tod ein großes Problem und wissen nicht, wie sie „richtig“ mit Trauernden umgehen sollen, erst recht nicht mit trauernden Eltern. Was würdest du dir diesbezüglich ganz konkret wünschen?
Insgesamt wünsche ich mir mehr Offenheit bei den Themen Tod und Trauer. Die Unsicherheit im Umgang zeigt sich auch dadurch, dass Freunde und Bekannte das Thema bei uns oft völlig vermieden haben und immer noch vermeiden oder sogar versuchen mit einem fröhlichen „Na wie war euer Sommer?“ kurz nach Marlies Tod völlig zu überspielen. Wenige trauen sich, Marlie zu thematisieren und tun wir es selbst, wird betreten weggeschaut oder so getan, als hätte man es nicht gehört.
Ich möchte jeden ermutigen, den trauernden Eltern ein Zeichen zu geben, dass sie auch traurig über den Verlust sind und Mitgefühl haben. Das kann eine Karte sein, ein Geschenk zum Todestag oder einfach nur ein „Es tut mir leid“. Viele haben Angst, Marlies Namen zu sagen, weil es uns dann traurig machen könnte. Diese Angst muss niemand haben. Traurig sind wir sowieso in jeder Minute, ganz im Gegenteil, ich freue mich so sehr, wenn ich über Marlie sprechen darf oder nur das Gefühl habe, dass jemand mit uns mitfühlt. Natürlich wünsche ich mir das vor allem von engen Freunden, von Bekannten aus der Kita oder auf der Arbeit reicht auch ein Blick oder ein nettes Wort.
Wie hat der Tod von Marlie eure Beziehung beeinflusst? Könnt ihr euch gegenseitig in eurer Trauer verstehen und stützen?
Wir sind es gewohnt, als Paar in Extremsituationen zu sein. Eine ungeplante Schwangerschaft nach 2,5 Monaten, die Fernbeziehung mit Säugling, dann die Krampfanfälle und die Monate im Krankenhaus, bis wir schließlich eine Diagnose hatten. Schon mit Leni sind wir durch einen Trauerprozess gegangen, wenn auch anders und sicher nicht so heftig, weil Leni lebt und wir uns um sie kümmern dürfen. Wir kennen uns also in solchen Situationen und sind dabei ein echt gutes Team. Diesmal war der Schmerz so heftig, dass man ziemlich mit sich selbst beschäftigt war. Und natürlich haben wir unterschiedlich getrauert. Thomas hat schneller in einen Alltag gefunden und ihm gelingt es auch heute besser, wieder unter Menschen zu gehen. Manchmal bin ich darauf sehr neidisch und natürlich führt das auch zu Stress untereinander. Aber wir reden darüber und finden meist schnell wieder zueinander. Für mich ist unsere Familie und unsere Wohnung ein sicherer Hafen, wir Drei wissen und spüren als einzige, wie tief dieser Verlust ist und das verbindet. Insgesamt glaube ich, dass solch ein Schicksalsschlag nicht nur die Beziehung, sondern jeden Einzelnen tiefgehend verändert hat. Wir sind einfach trauriger und haben sicher weniger Leichtigkeit in unserem Leben.
Was wünscht du dir für eure Zukunft als Familie?
Ich wünsche mir zunächst erst einmal, dass wir von weiteren Schicksalsschlägen verschont bleiben und wieder etwas mehr Leichtigkeit spüren dürfen. Und natürlich, dass es Leni weiterhin so gut gehen wird, ihre Epilepsie immer gut zu kontrollieren bleibt und wir irgendwann einen Ort für sie finden, an dem sie ihr zweites Zuhause haben wird.
Liebe Daniela, das wünschen wir euch auch von Herzen! Danke, dass wir bei euch zu Gast sein durften.
Interview: Hannah Stenke
Bilder: Marlena Kretzer / Mom & the Gang