Hülya Cigdem mit Isa
Plötzlich waren mir meine Prioritäten und Werte sehr klar...

Hülyas kleiner Online-Shop heißt Warm Living und das passt so gut zu dieser Frau! Sie strahlt einfach Wärme aus. Wärme und einen irre guten Geschmack. Kein Wunder, dass sie als Stylistin arbeitet. Auch Interior gehört zu den Leidenschaften der studierten Modedesignerin. Vielleicht folgt ihr ihr auch auf Instagram, da geht es uns immer so, dass wir denken: ein Mal alles aus diesem Feed zum Mitnehmen, bitte! Heute zeigt uns Hülya ihr Zuhause und erzählt uns ein bisschen was über Selbstbestimmtheit, Therapiestunden – und warum sie ein großes Bedürfnis nach Ruhe hat.

Liebe Hülya, erzähl doch mal ein bisschen was von dir!

Oh, ich finde es immer schwierig, etwas über mich zu erzählen. Einfach weil ich meinem Gefühl nach sehr gegensätzlich bin. Aber hier ein Versuch: Ich bin studierte Modedesignerin und liebe es, Schönheit um mich herum zu haben. Schöne Dinge und schöne Menschen, innen wie außen. Ich bin sehr introvertiert und dennoch oft laut, deshalb überfordern mich auch viel Gewusel und Menschen – ich bin gerne allein, um aufzutanken.
Ich glaube, eigentlich wäre ich gerne Künstlerin geworden, aber ich fand mein Talent nicht ausreichend. Es wurde dann Mode und momentan fügt sich alles ineinander, auch wenn ich nicht in der Modebranche gelandet bin.
Design ist meine absolute Leidenschaft und während der Elternzeit ist es auch immer mehr Interior geworden.
Außerdem lese ich für mein Leben gerne. Das war immer mein Zufluchtsort, wenn mich das Außen überfordert.
Und ansonsten? Ich lasse gerne alles auf mich zukommen und bin gespannt, was die nächsten Jahre für meine Familie und mich bereit halten.

Wie bist du denn selbst aufgewachsen?

Ich bin in eher einfachen Verhältnissen aufgewachsen, mit hart arbeitenden Eltern, die sich oft zurückgenommen haben, um uns mehr zu ermöglichen als ihnen damals möglich war. Meine Eltern haben uns immer ermutigt, nicht sofort aufzugeben, wenn es mal schwierig wird. Ich bin sicher auch deshalb der Meinung, dass man an Herausforderungen wächst. Meine Eltern stammen aus der Türkei und ich bin in einer Gemeinschaft mit vielen anderen Familien groß geworden, ich habe mehr als 20 Cousins und Cousinen ersten Grades! Wir haben zwar nicht in einem Haus gelebt, aber man hat sich oft besucht und generell viel Zeit miteinander verbracht. Auch in der Nachbarschaft waren viele türkischstämmige Familien und es war ein lustiges und großes Durcheinander. So habe ich es zumindest in Erinnerung!
Und so ein bisschen hätte ich es auch gerne für Isa. Leider haben bisher nicht viele Kinder in der Familie und jeder ist mehr in seiner eigenen Welt unterwegs.
Aber ich hoffe auf baldigen Zuwachs durch unsere Geschwister und vielleicht hat Isa dann auch etwas mehr Familie und vor allem Kinder um sich herum.
Was ich anders machen möchte, als meine Eltern, ist, dass ich mir wünsche, dass Isa sich voll ausdrücken darf und wir zusammen Dinge entscheiden. Es ist mir sehr wichtig, dass er ein selbstbewusster und fröhlicher Junge bleibt und ich ihn in seinen Träumen und Wünschen unterstütze. Er soll die Verbindung zu sich, die von Anfang an so stark ist, beibehalten und voller Vertrauen in sich durch sein Leben gehen.

Wo hast du deinen Partner kennengelernt?

Wir haben uns tatsächlich online kennengelernt, obwohl wir aus der gleichen Stadt kommen! Uns verbindet viel, vor allem unser Background und dass wir beide zwischen zwei Kulturen aufgewachsen sind. Wir verstehen uns und unseren Versuch, eine Balance zu schaffen. Uns ist wichtig, das wir unseren Glauben verständlich und sinnvoll in unser Leben einbauen und das auch unserem Sohn vorleben. Und wir wissen beide, wie sich Ausgrenzung und Rassismus anfühlen, auch das verbindet uns. Inzwischen sind wir über 10 Jahre zusammen und ich bin dankbar, dass er damals so beharrlich war!

Wie hat sich das denn für dich angefühlt, zwischen zwei Kulturen aufzuwachsen und ist das heute noch ein Thema?

Ehrlich gesagt war es für mich persönlich nie so ein großes Thema. Ich kannte es ja nicht anders und finde es immer noch vor allem schön, zwei Kulturen leben zu dürfen. Ich habe mir schon immer das Beste aus beiden Welten herausgepickt, glaube ich. Die Außenwelt hat oft ein größeres Problem damit, wenn man nicht eindeutig zuzuordnen ist. Aber wieso muss ich mich denn entscheiden? Das erschließt sich mir nicht.
Für meinen Sohn wünsche ich mir, dass er sich frei aussuchen darf, was für ihn funktioniert und mehr Offenheit erlebt. Denn das Feedback von außen hat mich natürlich schon geprägt.

Ich habe mir das Beste aus beiden Welten herausgepickt.

Dein Hang zu schönen Dingen – war das immer schon so?

Ich habe es auf jeden Fall schon immer geliebt, kreativ zu sein. Als Kind und Teenie habe ich viel gezeichnet, gemalt und ich war immer interessiert an Kunst und Mode.
Ich war bis zu Grundschule eine sehr gute Schülerin, danach ging es abwärts. Ich fand es damals sehr belastend und einengend, dass es plötzlich nur noch um Leistung in Form von Noten ging. Mode, Kunst und Bücher haben mir neue Welten eröffnet und ich konnte mich so ganz einfach aus dem eintönigen und grauen Alltag wegträumen. Als ich dann mit etwa zehn Jahren herausgefunden habe, dass es einen Beruf gibt, in dem man Mode entwerfen kann, war für mich sehr klar, dass ich das machen will.

Ich habe es schon immer geliebt, kreativ zu sein.

Bei euch sieht es so schön aus, bitte sag uns, dass du ganz lange aufgeräumt hast für die Fotos!

Haha, danke! Und JA! Ich bin ständig am Aufräumen und Ausmisten. Ich bin froh über unseren geräumigen Keller. Ich brauche auch Ordnung im Außen, weil in meinem Kopf so viel herumschwirrt. Alles andere überfordert mich und ich verfalle in Stress und Hektik.

Wo lässt du dich inspirieren?

Seit ich auf Instagram unterwegs bin, sehr viel durch andere Profile. Zum Beispiel folge ich von Anfang an Johanna von pinkepanki und kunterbunten Accounts wie donnerstagsonntag oder swantjeundfrieda.
Aber mich inspirieren auch Magazine, Reisen und mein Gefühl. Auf Reisen kaufe ich oft kleinere Dinge und auch mal einen Teppich, was ich sehr schön finde. Sobald ich diese kleinen Schätze sehe, erinnern sie mich an das Abenteuer. Ansonsten kaufe ich auch sehr viel online, weil es so praktisch ist mit Kind. Ich stöbere außerdem gerne auf Flohmärkten. Meinen goldenen Servierwagen habe ich für wenig Geld bei einem Babyausstatter erstanden, weil er als Deko im Schaufenster stand!

Du bist freiberuflich und arbeitest aber ganz schön viel, oder? Wie klappt die berühmte Vereinbarkeit?

Im Moment eher schlecht als recht. Ich arbeite wirklich viel und werde fast täglich gefragt, wie ich das schaffe. Und das geht nur mit Hilfe meiner Familie und der Aussicht auf unsere Tagesmutter, Isa wird jetzt gerade eingewöhnt. Und meine Eltern helfen, wo sie können. Sei es um auf Isa aufzupassen, wenn ich arbeite oder mal Zeit für mich brauche. Auch finanziell haben uns unsere Familien immer wieder ausgeholfen. Sogar jetzt mit meinem Shop kann ich auf helfende Hände zählen, wenn ich nicht mehr hinterherkomme mit dem Nähen. Da ist es umso praktischer, dass eigentlich alle Frauen in meiner Familie sehr begabt sind, was Handarbeit angeht. Das möchte ich auch in Zukunft mehr in mein Unternehmen mit einbauen. Also Frauen beschäftigen, die ein Händchen dafür haben.
Ich weiss aber ehrlich gesagt nicht, wie es Eltern machen, die Vollzeit in einem Unternehmen arbeiten. Ich bin ja relativ flexibel durch die Selbstständigkeit!

Es geht nur mit Hilfe meiner Familie...

Du hast es eben schon angesprochen: mit deinem kleinen Shop hast du dir ein zweites Standbein aufgebaut. Wie kam dir die Idee dazu?

Ich hatte die Idee in Marrakech, als ich im dritten Monat schwanger war und gerade dabei war, unsere Wohnung einzurichten. Es hat mir so viel Spaß gemacht, besondere Dinge aufzuspüren und ich habe gemerkt, dass mir das sehr viel Freude bereitet. Im Nachhinein denke ich, alles was ich davor so gemacht und gelernt habe, fügt sich gerade in meinem Shop zusammen. In Zukunft möchte ich auch fair produzierte Mode anbieten. Die oft verschwenderische und rücksichtslose Modeindustrie hat bei mir mittlerweile zu viel Ernüchterung geführt.

Wie teilst du dich mit deinem Partner auf?

Gerade übernehme ich mehr Aufgaben, was die Erziehung und den Alltag mit Kind angeht. Einfach weil mein Mann Vollzeit arbeitet. Ich zwar auch, aber ich muss alles parallel meistern, bis Isa dann zur Tagesmutter kommt.
Für die Zukunft wünsche mir eine gerechtere Aufteilung und einen genauen Überblick, wann was ansteht. Ob es Arzttermine sind, oder wenn Isa aus seinen Sachen rauswächst und wir neue Kleidung brauchen.
Da ist noch Luft nach oben. Ich habe erst vor Kurzem den Begriff „ Mental Load“ aufgeschnappt und habe das Gefühl, mein Mann verlässt sich da ganz auf mich. Sicherlich auch, weil ich schnell alles erledigt haben will und ihm gar nicht den Raum lasse, es in seinem Tempo und auf seine Art und Weise zu machen. Ich merke oft, wie ich abends nicht richtig abschalten kann und morgens schon meine Liste im Kopf durchgehe. Das belastet mich sehr und wir versuchen es gerade mit genauen Absprachen, wer was im Haushalt erledigt. Wenn das nicht klappt, dann werden wir wohl über eine Haushaltshilfe nachdenken müssen.

Dein Sohn ist ja noch nicht in der Betreuung, wie sieht ein typischer Tag bei euch aus?

Wir stehen so gegen sieben auf und dann geht es auch schon los mit dem Marathon. Isa lässt sich nicht gerne anziehen im Moment. Meistens spielen wir Zuhause oder gehen raus auf den Spielplatz oder einkaufen, bis zum Mittagsschlaf. In der Zeit versuche ich dann so gut wie möglich, zu arbeiten. Nachmittags ist Isa bei den Großeltern oder wir treffen uns mit meiner Freundin und ihren Kindern. Generell versuche ich, jeden Tag mit Isa draußen zu sein, was er sehr mag, er will auch nach Stunden nicht nach Hause.
Abends wird dann mit Papa gegessen und getobt. Ins Bett bringen wir Isa meistens zu zweit, nachdem er sich ein Buch zum Lesen ausgesucht hat. Der Abend sieht dann auch wieder so aus, dass ich arbeite. Auch das wird in Zukunft hoffentlich nur noch die Ausnahme sein, wenn ich die Vormittage zum Arbeiten habe.

Wolltest du immer Kinder?

Ja, das wollte ich! Wobei es auch nie meine Priorität war und ich persönlich meine Erfüllung nie nur im Muttersein gesehen habe. Ich möchte gerne beides, Familie und Beruf. Allerdings hätte ich mir nie vorstellen können, WIE hin- und hergerissen ich sein würde. Gebe ich meinen Sohn schon früh in die Kita oder stecke ich erst einmal zurück? Ich habe lange gehadert und war so froh, unsere Tagesmutter Julia über eine Freundin gefunden zu haben. Im Moment fahre ich zweigleisig und auch wenn es sehr kräftezehrend ist, brauche ich das für mich.
Als Kind waren in meinem Umfeld fast alle Mütter für eine lange Zeit zuhause mit den Kindern. Ich persönlich kenne nicht viele Eltern, die sich das noch leisten können oder wollen. Frauen wollen im Beruf genau so voran kommen wie Männer.

Wie war die erste Zeit als Mutter für dich?

Es war nicht leicht für mich, meine Selbstbestimmtheit hinten an zu stellen und mich wirklich auf mein Kind einzulassen.
Nach der Geburt habe ich schnell gemerkt, dass ich gerne eine Therapie machen möchte, die ich auch immer noch weiterführe. Das hat mir sehr geholfen. Außerdem fand ich die körperliche Belastung, das Hormonchaos und die Schmerzen nach dem Kaiserschnitt sehr belastend und konnte die Zeit gar nicht genießen.
Was mir aber leicht gefallen ist, ist Isa komplett und bedingungslos in mein Herz zu lassen. Und ihn von Anfang an als eigenständige Person und Persönlichkeit zu sehen. Außerdem waren mir meine Prioritäten und Werte plötzlich sehr klar und was ich meinem Sohn vorleben will. Ich will, dass er den Mut hat, das zu machen was er möchte, was ihn erfüllt und ihm Freude bereitet. Anstatt vielleicht irgendwelchen Vorstellungen entsprechen zu wollen.

Ich konnte die Zeit gar nicht genießen.

Inwieweit hat die Therapie dich weiter gebracht?

Die Therapie und auch die Zeit ohne Arbeit hat mir den Raum gegeben, mal genau bei mir selbst hinzuschauen. Und Dinge zu klären, die mich jahrelang belastet haben und die ich als Fehler an mir selbst gesehen habe. Ich kam dann schnell zum Thema Persönlichkeitsentwicklung und positive Psychologie. Ich habe auch angefangen, zu meditieren, dabei kann ich so gut abschalten und mal nicht immer nur reagieren. Ich versuche immer zu schauen: was beschäftigt mich gerade, was brauche ich, um eine Balance zu schaffen und auf mich zu achten. Das gibt mir sehr viel Kraft, wobei auch das in den letzten Monaten zu kurz kam. Aber das wird wieder anders werden!

Du bist recht viel auf Instagram unterwegs…

..Ja und der berüchtigte Algorithmus macht vor allem uns kleinen Profilen zu schaffen. Es ist verrückt, wie viel Zeit man in diese App investieren muss, um gesehen zu werden. Aber Instagram bietet mir auch eine Plattform, die ich so nie oder sehr schwer bekommen würde. Dank Instagram kann ich meinen Shop betreiben und habe inzwischen wirklich tolle Frauen kennengelernt. Es ist wohl eine Hassliebe!

Was ist das Nervigste am Kinderhaben?

Nervig nichts, aber rund um die Uhr für einen anderen Menschen verantwortlich zu sein, ist anstrengend. Manchmal schrecke ich im Schlaf hoch und bin total panisch, wenn ich Isa nicht sofort sehe.
Und zu wissen, dass ich wahrscheinlich irgendwann Thema in Therapiesitzungen sein werde!

Und was ist das Schönste?

Die bedingungslose Liebe, die diese kleinen Menschen einem entgegenbringen natürlich. Und zu sehen, wie sie die Welt entdecken!

Danke, Hülya!

Hülya Cigdem mit Isa (2), Oktober 2020
Fotos: Nora Werner
Interview: Isabel Robles Salgado