Wine-Moms und Dry January
Zu Beginn der Corona-Pandemie landete die britische Influencerin Victoria Emes einen viralen Videohit: In ihrer Parodie von “I will survive” knöpft sie sich das Leben als Mutter in Zeiten des Lockdowns vor und tänzelt mit einem vollen Weinglas im Aerobicdress durch ihre Wohnung. Fand ich ziemlich lustig. Vor einer Woche, im neuerlichen harten Lockdown, hat Emes wieder ein Video auf Instagram hochgeladen, in dem sie sich einen Cocktail mixt und dabei erklärt, warum der dry January, also der Januar ohne Alkohol, dieses Jahr leider ausfallen muss. Unter dem Post: Zahlreiche Kommentare a la “genau das brauche ich jetzt”. Und das fand ich irgendwie nicht mehr ganz so lustig. Denn es schwingt darin doch auch die Haltung mit: Klar, Pandemie muss man sich als Mutter eben schön trinken. Januar ohne Alkohol – sonst ein in diesem Zeitalter ziemlich verbreitetes Lifestyle-Phänomen – im Jahr 2021 undenkbar. Warum eigentlich?
Problematische Bewältigungsstrategie
Nun erfreuen sich T-Shirts mit Weinflaschen und witzigen Sprüchen oder Memes zu Müttern und Wein nicht erst seit Corona, sondern ungefähr seit Mitte der 2010er-Jahre wachsender Beliebtheit. Es gibt sogar einen vermeintlich lustigen Strampler, auf dem steht “I am the reason mommy drinks”, zu deutsch: “Ich bin der Grund, warum Mama trinkt”. Wirklich? Ja, wirklich. In den USA ist das als “mommy wine culture” ein fixer Begriff – und wird durchaus kritisch reflektiert. Denn auf der einen Seite kann man in der “wine mom” den Gegenentwurf zur “super mom” sehen. Eine Frau, die mit dem Mutterwerden nicht alles aufgibt, was sie vor dem Kind genossen hat, Alkoholkonsum und Sarkasmus inklusive. Eine, die weiß, dass sie nicht perfekt sein kann oder muss und versucht, den absurden Ansprüchen, welche die Gesellschaft an Mütter immer noch hat, etwas entgegenzusetzen. Diese Haltung finde ich auch durchaus sympathisch. Und doch merke ich, wie immer öfter Wein als Bewältigungsstrategie oder Entspannungsmethode bei Müttern scherzhaft propagiert wird – aber eben, kein Witz, einige der Mütter, die solche Memes teilen, durchaus trinken, um durch den Tag zu kommen. Isabel hat sich hier auch schon mal mit dem Phänomen befasst.
Alkohol als Bewältigungsstrategie in Zeiten einer doppelten bis dreifachen Belastung, in einer Ära, wo Frauen sich neben Job und Mutterrolle auch noch als Homeschooling-Beauftragte wiederfinden. “Wenn Sie denken, 2020 ist gefährlich: 2050 wird das Land von Kindern geführt, die von weintrinkenden Müttern zu Hause unterrichtet wurden.”, dieser Spruch wurde in den ersten schulfreien Corona-Wochen gerne auf WhatsApp geteilt, schreibt Silke Wichert in der SZ. Total witzig, total problematisch.
Wie Scherze zur Bagatellisierung führen können
Denn hinter solchen “harmlosen” Witzen verbergen sich gleich so viele toxische Gedanken: Zum einen, dass es natürlich die Mütter sind, die zusätzlich zu allem, was sie schon leisten, nun auch das Homeschooling übernehmen. Ganz selbstverständlich. Wo sind die Väter? Ach ja, im Büro. Oder im Home-Office. Auf jeden Fall in einem Raum mit einer Tür, die man schließen kann, während die Mütter im Wohnzimmer zwischen Bauklötzen und mit einem vor dem Fernseher geparkten Kita-Kind versuchen, gleichzeitig ein Schulkind in Sachen Distanzlernen zu betreuen und ihrer eigenen Arbeit nachzukommen. Mütter sind in diesen Zeiten so ausgebrannt wie selten zuvor, sagte kürzlich auch die Leiterin einer Mutter-Kind-Klinik.
In Zeiten wie diesen werden durch Witze a la “wine o’clock” also höchst problematische Bewältigungsstrategien normalisiert, und weil es gerade eine ganze Menge zu bewältigen gibt, selbst, wenn man eigentlich körperlich und seelisch gesund ist, ist das nicht mehr harmlos. Wenn man als Mutter Wein braucht, um zu funktionieren, weil die Last dessen, was von anderen erwartet wird, schier zu enorm ist – dann ist das ein Problem, dann zeigt es auch, wie frauenfeindlich unsere Gesellschaft immer noch ist, und das ist nichts, was als Futter für witzige Internet-Memes taugt.
Klingt humorbefreit? Vielleicht hilft es, sich die Zahlen vor die Augen zu führen (die alle noch aus Studien vor der Corona-Pandemie stammen, wohlgemerkt): In Deutschland lebt jeder siebte Jugendliche mit einem Elternteil zusammen, der eine alkoholbezogene Störung aufweist, und 22 % der Elternteile, die mit mindestens einem eigenen minderjährigen Kind im Haushalt leben, weisen einen riskanten Alkoholkonsum auf. In jeder fünften Familie ist problematischer Konsum von Alkohol also Thema.
Wenn Mütter aus Überforderung trinken
Ob “Weinmütter” wirklich ein harmloses Internetphänomen sind – das habe ich auch den Therapeuten Thomas Klein-Isberner gefragt. Er ist seit über 20 Jahren therapeutischer Leiter der Fontane-Klinik im brandenburgischen Motzen. “In den Bezeichnungen dieser Mütter steckt ganz viel Bagatellisierung. Und immer, wenn ich etwas bagatellisiere, dann weiß ich ja eigentlich, dass es entweder nicht richtig ist – oder dass ich als Mutter, die trinkt, in der Gesellschaft mehr geächtet werde, als beispielsweise Männer. Ich brauche also einen Rahmen, ein „Alibi“, mit dem ich mir etwas erlaube, ohne mich schlecht zu fühlen”, sagt er. Das Label “wine mom” schafft einen solchen Rahmen.
Die Rolle als Mutter kann dabei auch eine verursachende oder aufrechterhaltende Bedingung für den Konsum sein, sagt Klein-Isberner. Mütter, die trinken, tun das oft aus Überforderung. “Oder sie trinken zunächst einfach, um sich was zu gönnen, weil zu wenig Unterstützung oder Wertschätzung für das Geleistete von anderen Bezugspersonen, insbesondere den Vätern, kommt,” so der Therapeut.
Manchmal sei es auch der Übergang, der Frauen schwer fällt. Hat Ausgehen und Alkohol trinken im Leben vor dem Kind eine große Rolle gespielt, ist es manchmal schwer, in die neue Rolle als Mutter hineinzuwachsen. Da bietet die Kultur der “wine moms” eine oberflächlich attraktive Möglichkeit, beide Rollen zu verbinden, und wenn es andere Mütter gibt, die ebenfalls gerne ein Glas trinken, um mal runterzukommen, dann hilft das auch dabei, das eigene Verhalten nicht zu hinterfragen. Schon riskanter Alkoholkonsum wirkt sich aber unmittelbar auf die Mutter-Kind-Beziehung aus (natürlich auch auf jede andere Beziehung). Bei Müttern die süchtig sind, kommt es oft zu Vernachlässigung, seelischem Missbrauch, zu Schuld- und Schamgefühlen, die wieder durch verwöhnen und fehlende Grenzen kompensiert werden. “Und manchmal verhindert Mutterschaft auch die Verbesserung der Situation, dann nämlich, wenn Mütter sich keine Hilfe holen oder nur versteckt konsumieren, weil sie Angst haben, das Kind vom Jugendamt “weggenommen” zu bekommen”, so Klein-Isberner.
Wie radikal ist es, dauerhaft nicht zu trinken?
Wie so vieles ist auch die Suchthilfe männlich geprägt, Hilfsangebote und Therapien sind oft auf Männer zugeschnitten. Dabei sei es unbestritten, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede in den Trinkmotiven, den Einstieg in die Abhängigkeit, dem Konsummuster und auch den sozialen Folgen gibt. “Die Ursachen für diese Unterschiede liegen in den biografischen wie auch gesellschaftlichen Bedingungen, wo häufig biologische Merkmale Rollenerwartungen erzeugen”, sagt Klein-Isberner.
In den USA gibt es deswegen immer mehr Angebote, die sich speziell auf Frauen und Alkoholkonsum fokussieren. So hat Holly Whitaker , Autorin des Buchs “Quit like a woman”, mit “Tempest” ein modernes Entzugsprogramm gegründet, und auch sobriety mentoring wird immer beliebter. Dieses richtet sich an Menschen, die weniger oder gar nichts trinken wollen, aber nicht im klassischen Sinne alkoholabhängig sind. Auch in Deutschland ist dieses Phänomen mit Firmen wie mesober mittlerweile angekommen, die Firma haben Vlada und Katharina im vergangenen Jahr gegründet. Vlada hat selbst einen Suchtentzug hinter sich. Als Frau war sie in der Klinik eine von wenigen. Woran das liegt? “Bei Frauen ist die Scham über die eigene Abhängigkeit besonders groß – gleichzeitig stehen sie heutzutage unter einem enormen Druck, müssen vielen Rollen entsprechen, im Job, in der Partnerschaft, in der Kinderbetreuung, dabei am Besten noch gut aussehen und den Haushalt schmeißen. Kein Wunder, dass viele trinken, um zu entspannen und runterzukommen”, sagt Vlada.
Eine Abkehr von der Besänftigung
Wie radikal es in unserer Gesellschaft ist, nicht zu trinken, also wirklich gar nicht, nicht nur ausnahmsweise mal im Januar, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Immer mal wieder, wenn ich merke, dass mein Alltag mich gerade sehr fordert, lege ich Trinkpausen ein. Die Aussage “ich trinke gerade nicht“ sorgt dabei meistens für hochgezogene Augenbrauen oder führt zu der Frage “Aber Du bist nicht schwanger, oder?“. Das sagt viel darüber aus, wie normal Alkoholkonsum ist, und wie ungewöhnlich es viele finden, wenn man „ohne Grund“ einfach mal nüchtern bleiben will.
Dass Alkohol auch ein probates Mittel ist, mit dem sich Frauen selbst therapieren und befrieden, die eigentlich zutiefst unzufrieden sind, weiß auch die Autorin Kristi Coulter, ihr brillanter Essay über den Sommer, in dem sie aufhörte, zu trinken, ist überhaupt sehr lesenswert. “In diesem Sommer stellte ich fest, dass alle um mich herum betrunken sind (…). Was Frauen trinken, ist ein Platzhalter für Freizeit, Selbstfürsorge, Austausch – ihr wisst schon, der Luxus, den wir uns nicht leisten können. Wie konntest Du das bisher nur übersehen? frage ich mich. Du warst zu betrunken, antworte ich mir. In diesem Sommer nehme ich es aber wahr. Ich sehe, dass Alkohol der Öl in unseren Motoren ist, die Substanz, die uns schnurren lässt, wenn wir eigentlich zu ganz anderen Lauten fähig wären“, schreibt sie darin. Alkohol als Selbsttherapie, ein Mittel, das man sich verabreicht, damit man weitermachen kann wie bisher – ich glaube, man muss gar nicht süchtig sein, um sich in diesem ungesunden Muster zumindest ein Stück weit wiederzuerkennen.
Für mich fühlt sich Alkohol in diesem Januar einfach nach einer weiteren Sache an, die Energie ziehen würde. Denn wenn ich genauer hinsehe, dann machen ein paar Gläschen Wein am Abend mein Leben eher anstrengender als einfacher und erfüllter. Ich labele diese Enthaltsamkeit in Sachen Alkohol aber nicht als einen “dry january” und finde es auch nicht schlimm, wenn auch im Januar doch mal eine Flasche Riesling im Einkaufskorb landet. Aber ich weiß, dass das Gefühl, es sei jetzt “wine o’clock” am allerwenigsten durch ein Glas Wein besser wird – weil das den Blick dafür verstellt, was eigentlich schief läuft, wo ich überfordert bin, wo unzufrieden. Die Zeiten sind schwer, sie sind unsicher, undurchsichtig, chaotisch und fordernd – selten war es mir wichtiger als jetzt, einen klaren, nüchternen Blick zu haben.
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