“Familien sollten nicht auf Glück angewiesen sein”

Jule Weber lebt und arbeitet in Bochum und ist Poetin. Sie gehört zu den führenden Stimmen der deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Außerdem ist sie alleinerziehende Mutter und lebt mit ihrer 12-jährigen Tochter und ihrer Frau in einer WG, dem Fuchsbau. Im Interview hat Jule uns erzählt, wie es für sie war, jung Mutter zu werden, wie das WG-Leben mit Kind so ist und warum sie auf Instagram immer wieder auch über Mutterschaft schreibt. 

Liebe Jule, du hast neulich einen Post über die verschiedenen Definitionen von “alleinerziehend” geschrieben. Wie würdest du deine Form von alleinerziehend beschreiben? Und warum sind Unterscheidungen wichtig?


Meine Form von alleinerziehend ist auf jeden Fall eine mit wahnsinnig viel Unterstützung und darum eben gar nicht so alleine, wie bei anderen.
Meine Tochter hat sehr junge Großeltern und auch noch fitte Urgroßeltern, die uns von Anfang an fantastisch unterstützen, wir haben eine riesige Familie im Rücken und noch zusätzlich einen super tollen Freundeskreis. Zum einen die Menschen, mit denen wir zusammen wohnen, aber auch andere Freund*innen von mir haben schon oft und viel geholfen aufzupassen, zugehört, sind mit mir zu Fußballspielen gefahren und haben dafür gesorgt, dass ich mich gar nicht so alleine fühle.
Und genau da liegt die wichtige Unterscheidung für mich, weil zum einen bin ich damit eine Alleinerziehende, bei der das alles ziemlich gut und weitgehend problemlos läuft, ich bin vergleichsweise wenig, bzw. gar nicht betroffen von sozialer Isolation, Einsamkeit und so mancher Unvereinbarkeit im Alltag. Trotzdem stehe ich an manchen Punkten vor den gleichen Hürden wie andere, gerade auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Da mag ich auch die Unterscheidung von allein- und getrennterziehend nicht, weil das einen Unterschied suggeriert, der meiner Meinung nach vielleicht im individuellen, aber nicht im Strukturellen etwas ändert.

In dem Post schreibst du auch über deine WG und welche Rolle sie für euch spielt. Erzähl doch mal, wie lebt ihr? Wie organisiert ihr euch? 


Wir leben mit vier Erwachsenen, (m)einem Kind und dem Hund in einer großen Wohnung zusammen. Alle haben ihr eigenes Zimmer und dazu haben wir noch ein Wohnzimmer mit Esstisch, an dem auch immer alle zusammen zu Abend essen, es wird immer für alle gekocht. Generell haben wir viele klassische WG-Elemente nicht: Keine getrennten Kühlschrankfächer, keinen Putzplan. Wir führen gemeinsam einen Haushalt, kaufen für alle ein, eigentlich ist es mehr eine große Familie, als die wir zusammen wohnen.
Eine der drei anderen Erwachsenen ist meine Frau, die ist als letztes mit eingezogen und hat mich in dieser WG-Konstellation kennengelernt und auch direkt mit der Info, dass das keine Übergangswohnsituation für mich ist, sondern mein Zuhause, meine Wahlfamilie und dass ich da nur ungerne raus wollen würde.
Das fand sie zum Glück auch prima, darum ist sie dann einfach mit eigezogen. Alle anderen Beziehungen in der Wohnung sind platonisch. Im Flur hängt ein großer Familienplaner, in dem jede*r eine eigene Spalte hat und Termine einträgt, letztlich ist es von der Organisation also ähnlich, wie in den meisten fünfköpfigen Familien vermutlich, man muss viel reden und absprechen und manchmal ist dann trotzdem alles chaotisch, aber insgesamt klappt schon alles irgendwie.
Wir übernehmen alle füreinander Verantwortung und achten gut aufeinander, natürlich bleibt die Hauptsorge für mein Kind trotzdem bei mir, darum bezeichne ich mich auch weiter als eine Form von alleinerziehend, weil die Verantwortung und Organisation und die Mental Load, die Elternschaft mit sich bringt, weiterhin bei mir liegt.

Und wie ist es dazu gekommen?

Dazu gekommen ist es irgendwie durch Durcheinander, Umbruch und die richtigen Zufälle. Ich musste nach einer Trennung eine neue Wohnung für mich und das Kind suchen und in der alten Wohnung hing währenddessen diese Person rum, die ich gar nicht so gut kannte, die aber während unseres Urlaubs übergangsweise dort gewohnt hatte und danach einfach geblieben war. Bei mir stand alles ganz schön Kopf wegen dieser Trennung und irgendwie haben wir uns in diesem Übergangschaos so lieb gewonnen, dass ich irgendwann gefragt habe, ob wir nicht auch in der neuen Wohnung zusammen wohnen sollen. Die alte Wohnung war vom Schnitt nicht WG geeignet, die neue, die wir dann schnell gefunden haben, hatte aber ein Zimmer mehr, als wir gebraucht hätten, also war klar, dass noch jemand einziehen muss und ich habe super impulsiv noch einen gemeinsamen Freund gefragt. Insgesamt hatten wir alle irgendwie schon eine Idee, dass wir gerne Gemeinschaft wollen und mit anderen Menschen zusammen wohnen gut finden, dass es so wahnsinnig gut wird, wie es jetzt ist, konnten wir aber da noch nicht voraus sehen.
Ein bisschen war es das Glück, dass wir alle aus unterschiedlichen Gründen gerade das Gefühl hatten, etwas an der aktuellen Wohnsituation ändern zu müssen und dann hat das einfach gepasst und wir alle waren mutig genug, uns darauf einzulassen. Schlimmstenfalls hätte es nicht funktioniert und wir wären wieder auseinander gezogen, glücklicherweise war das in all den Jahren nie auch nur eine Überlegung.

Was würdest du sagen sind die schönsten Seiten dieser Wohnform – für deine Tochter und für dich?

Ich finde alles daran schön. Mich als Alleinerziehende entlastet es natürlich viel, auf praktische Weise im Alltag, finanziell, aber auch emotional. Ich wohne mit Menschen zusammen, die ich unglaublich gern habe und die mich in den Arm nehmen, wenn alles viel ist und die wissen, mit welcher Schokolade man mir gute Laune machen kann.
Das wiederum ist ja auch alles super gut für meine Tochter, sie hat dadurch definitiv eine entspanntere Mutter und noch zusätzlich Menschen mit im Haus, die liebevoll mit ihr umgehen, Teil ihres Alltags und ihrer Routinen sind und ja, die auch bei ihr wissen, womit man ihr eine Freude macht. Ich glaube, dass es für alle Kinder gut ist, mit mehreren Bezugspersonen aufzuwachsen und dass das nicht nur biologische Familie sein muss.

Die WG ist ja dann dieses Dorf, das sich viele Eltern wünschen. Ist das eine Entscheidung, die ihr bewusst getroffen habt oder hat sich da so ergeben?

Es war ein bisschen beides. Ich hatte schon wirklich große Lust, so ein Dorf zu haben und vielleicht auch zu gründen, ich hatte auch an ein paar Stellen inseriert, ob vielleicht eine andere Alleinerziehende Lust hat, mit mir zusammen zu ziehen.

Dass sich dann das Ganze so ergeben hat, das war schon eher Zufall. Mit rein gespielt hat bestimmt auch, dass ich sehr jung Mutter geworden bin und mein Umfeld dadurch auch im Schnitt noch recht jung ist und noch nicht die ideale Wohn- oder Familienform für sich gefunden hatte. So ein Dorf zu gründen ist bestimmt ein bisschen leichter, wenn alle noch irgendwie auf der Suche sind und man dann gemeinsam miteinander sesshaft wird, so hat es sich zumindest für mich angefühlt.

Wie du gerade erwähnt hast, bist du sehr jung Mutter geworden, mit 17 Jahren. Wie war das für dich? Und wie hat sich dein Blick auf Mutterschaft in den letzten Jahren verändert?


Jung Mutter werden war wahnsinnig anstrengend, zum einen, weil Mutter werden immer ein ganz schön krasses Ding ist, aber ich musste natürlich viel mehr Dinge klären und organisieren, als ohnehin schon. Ich bin im Zuge dessen zum Beispiel bei meinen Eltern ausgezogen, musste also auch alleine wohnen und erwachsen sein (oder werden) irgendwie parallel zur Mutterschaft geregelt kriegen. Uff.
Dadurch habe ich manche Herausforderungen von Mutterschaft aber auch erst in den letzten Jahren angefangen, zu verstehen. Dadurch, dass es bei mir einfach nie ein eigenständiges Leben vor dem Kind gab, vermisse ich manche Sachen nicht, ich habe zum Beispiel auch keine Ahnung, wie es ist, berufstätig zu sein, ohne das mit Familienleben unter einen Hut bringen zu müssen. Oder eben nicht bei allem immer im Hinterkopf auch an das Kind und Care-Arbeit zu denken. Ich dachte lange, dass sei eben wie erwachsen sein ist und dass das gar nichts mit Mutterschaft zu tun hat.
Vom Vater meiner Tochter bin ich getrennt, seit sie ein Jahr alt ist, ich habe auch lange nicht gut unterscheiden können, was die normalen Herausforderungen von Elternschaft sind und was die Zusatzhürden, die das alleinerziehend sein mit sich bringt. Manchmal fällt mir das immer noch schwer und ich bin wirklich froh um mein Umfeld jetzt in der WG, das mir auch sehr klar signalisiert, wenn ich mal wieder mehr Verantwortung und Belastung versuche zu tragen, als nötig ist und die mir manchmal auch mit sanfter Gewalt Dinge abnehmen.
Dadurch komme ich mehr und mehr an einen Punkt, das alles nicht mehr als natürliche und selbstverständliche Arbeit hinzunehmen, sondern auch mehr zu reflektieren, wo meiner Meinung nach Sachen strukturell falsch laufen und dass es zwar schön ist, wenn ich mit so vielem auch irgendwie Glück hatte und das schon hinkriege. Aber Familien sollten eben nicht auf Glück angewiesen sein!

Du schreibst ja auf Instagram auch immer mal wieder über Care-Arbeit, Mutterschaft und Familie. Familienbilder und -formen – Was muss sich diesbezüglich in der Gesellschaft ändern? Und was wünschst du dir?


In der Gesellschaft wird immer noch von einer Normfamilie ausgegangen, die längst nicht mehr die Regel ist. Vater-Mutter-Kind(er) und die Mutter arbeitet auf keinen Fall Vollzeit und kann sich zuhause um alles kümmern – das entspricht ja einfach nicht der Realität.
Es gibt so viele Abweichungen davon, die schlicht und einfach nicht mitgedacht werden und deren Wohlbefinden dadurch massiv gefährdet ist. Seien es finanzielle Schwierigkeiten, Unvereinbarkeiten aller Art, emotionale Belastung und auch der Fakt, wie man gesellschaftlich betrachtet wird. Das macht es einfach allen noch schwieriger als ja Familie und die Organisation des Ganzen ohnehin schon ist.
Ich wünsche mir, dass sich auf jeder Ebene etwas ändert. Auf der privaten würde ich mir wünschen, dass alle achtsamer miteinander umgehen und sich bemühen, mehr Dorf füreinander zu sein. Auf politischer Ebene müssen sich Dinge ändern, das ist mehr Forderung als Wunsch für mich und ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll – bei Betreuungszeiten, Arbeitnehmer*innenregelungen, finanzieller Unterstützung, aber auch Dinge wie das Abstammungsrecht. Es ist wirklich an jeder Ecke Reformbedarf, um der breiten Vielfalt von Familien gerecht zu werden.

Danke, Jule!

Foto: Sabrina Weber