Eva mit Henry, Jule und Peter
Manchmal habe ich das Gefühl, es wäre nicht so intensiv, wenn Henry nicht unser Überraschungskeks wäre

Eva kenne ich aus meinen Studientagen in Köln über eine gemeinsame Freundin, wiedergefunden haben wir uns ungefähr 20 Jahre später – tatsächlich über Instagram. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Mann Peter und Sohn Henry im Kölner Westen. Zu der sympathischen Patchworkfamilie gehören außerdem noch Peters Kinder Luis und Jule aus erster Ehe. Der fünfjährige Henry hat einen seltenen Gendeffekt. Wie sich das auf ihr Familienleben und den Alltag auswirkt und was die fünf Rheinländer:innen sonst noch so ausmacht, darüber habe ich mit Eva gesprochen.

Liebe Eva, ihr seid ja eine Patchworkfamilie, magst du mal kurz erzählen, wer alles dazu gehört?

Ja, klar, sehr gerne. Zu unserer Familie gehören mein Mann Peter, seine Kinder aus erster Ehe, Luis (20) und Jule (17) und unser gemeinsamer Sohn Henry (5). Jule und Luis kenne ich, seit sie ganz klein sind. Sie leben bei ihrer Mutter, ca. eine Stunde von Köln entfernt und besuchen uns regelmäßig. Peter und ich sind seit Ende 2008 zusammen und haben uns im Job kennengelernt. Peter ist Einkaufsleiter und arbeitet in Würzburg, daher ist er unter der Woche nicht in Köln.

Euer gemeinsamer Sohn Henry kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt. Wann habt ihr davon erfahren und wie war das für euch?

Also, die ersten Monate der Schwangerschaft verliefen völlig problem- und komplikationslos. Henry entwickelte sich prächtig und auch das Ersttrimesterscreening war unauffällig. Als wir dann am 01.06.2015, ich werde diesen Tag niemals vergessen, zum großen Organscreening fuhren, ich war damals in der 21. Schwangerschaftswoche, freuten wir uns auf ein unterhaltsames Baby-TV.
Was sich danach abspielte, verschwimmt in meiner Erinnerung. Es wurden Auffälligkeiten festgestellt, die umfangreiche genetische Tests zur Folge hatten. Die Gefühle, die ich damals hatte, kann ich kaum beschreiben. Es war, als wenn dir plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird und du dich im freien Fall befindest. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Jegliche Vorfreude und Unbeschwertheit wich von jetzt auf gleich und die pure Angst und Sorge bestimmte unseren Alltag. Endloses Warten auf Testergebnisse und engmaschige Ultraschallkontrollen waren nun an der Tagesordnung. Zum Schluss waren alle Ergebnisse unauffällig und der kleine Junge entwickelte sich weiter prächtig. Wir wussten also, es würde etwas Besonderes auf uns zukommen, aber niemand konnte uns sagen was. Zum Glück ist es mir gelungen, die letzten Wochen der Schwangerschaft zu genießen und mich auf das Baby in meinem Bauch zu freuen.

Habt ihr vorher denn generell darüber nachgedacht, dass es sein könnte, dass euer Kind eine Behinderung hat?

Ehrlich gesagt nein. Dieser Gedanke war völlig fernab von meiner Vorstellung und ich hätte nie für möglich gehalten, selbst betroffen zu sein. So ist das ja meistens mit Schicksalsschlägen. Man denkt „betrifft mich nicht“, es ist ganz weit entfernt und dann trifft es einen knüppelhart.
So ist das ja meistens mit Schicksalsschlägen. Man denkt „betrifft mich nicht“, es ist ganz weit entfernt und dann trifft es einen knüppelhart.

Isabel hatte vor einiger Zeit einmal einen Artikel geschrieben zu der Floskel „Hauptsache gesund“: Was denkst du über diesen Satz?

Ich habe diesen Satz früher selber benutzt, ihn so daher gesagt, ohne wirklich darüber nachzudenken. Heute hat er natürlich eine ganz andere Gewichtung. Ich denke noch immer, dass Gesundheit durchaus wichtig ist, die Sorgen und Ängste, die man hat, wenn das eigene Kind krank ist, wünscht man niemandem. Es ist aber so, dass alles möglich ist, so lange man liebt. Daher ist für mich „Hauptsache geliebt“ das Wichtigste. Übrigens, Henry ist nicht krank. Er hat einen Gendefekt, organisch ist er völlig gesund.
Es ist aber so, dass alles möglich ist, so lange man liebt. Daher ist für mich „Hauptsache geliebt“ das Wichtigste.

Wie habt ihr die Geburt und die Zeit danach erlebt? Und wie hat euer Umfeld reagiert?

Mit dem Tag seiner Geburt begann der Ärztemarathon. Statt uns gemütlich zu Hause einzukuscheln und uns kennenzulernen, haben wir viel Zeit in der Uniklinik Köln verbracht, da Henry komplett durchgecheckt wurde. Außerdem wurden wir wegen seiner schweren bronchialen Infekte mehrmals stationär aufgenommen. Das war nicht schön und die Zeit mit einem Neugeborenen stellt man sich eigentlich anders vor. Mit Physiotherapie haben wir angefangen, als Henry zwei Monate alt war. Das alles mit der Hoffnung, dass er doch irgendwann sein Köpfchen besser heben kann und vielleicht doch die Meilensteine erreicht, die andere Kinder in dem Alter erreichen. Mein Sorgenkarussell hörte nicht auf sich zu drehen – was ist wenn, jetzt müsste er aber doch mal… Zu einem Pekip-Kurs, zu dem ich uns angemeldet hatte, bin ich nur einmal hingegangen, weil es schwer für mich war, die Unterschiede der gleichaltrigen Kinder zu meinem so klar zu sehen. Insgesamt war das Jahr Elternzeit für mich daher kein Jahr, auf das ich gerne zurück blicke. Im Gegenteil, ich fühlte mich oft alleine und war froh, als Henry in den Kindergarten kam, ich wieder arbeiten gehen konnte und einen normalen Alltag hatte. Unser Umfeld, also sowohl unsere Familien und Freunde, waren immer für uns da. Alle sind uns offen und herzlich begegnet. Sie sind mit uns gemeinsam in die neue Situation hinein gewachsen.

Wie hast Du gelernt, die Situation zu akzeptieren?

Ein Wendepunkt für mich waren die Gespräche mit einer Psychologin, die ich im Rahmen von Henrys Therapien im Frühförderzentrum wahrnehmen durfte. Sie stellte die richtigen Fragen, gab mir wichtige Gedankenanstöße. Es war okay, traurig und auch wütend zu sein, dass es uns als Familie verwehrt blieb, das Leben zu führen, das wir uns vorgestellt hatten. Diese Gedanken zuzulassen hatte nichts damit zu tun, dass ich meinen Sohn nicht unendlich liebte und ihn gegen nichts auf der Welt eintauschen würde. Diese Erkenntnis war für mich ganz wichtig und so konnte ich Abschied nehmen und mich auf das neue Leben einlassen. Auf ein Leben, in dem Henry das Tempo vorgibt. Auf ein Leben, in dem ich mich frei mache von jeglicher Erwartungshaltung an mein Kind. Mit ganz viel Geduld freuen wir uns nun über jeden winzigen Schritt den Henry macht. An diesen Punkt zu kommen war ein langer Prozess, zu akzeptieren, dass Henry behindert ist, ja, auch dieses Wort überhaupt aussprechen zu können, war lange nicht einfach für mich.

Es war okay, traurig und auch wütend zu sein, dass es uns als Familie verwehrt blieb, das Leben zu führen, das wir uns vorgestellt hatten.

Der Gendefekt von Henry ist ja, wie schon gesagt, sehr selten und dementsprechend bislang wohl auch wenig erforscht. Was habt ihr inzwischen darüber herausgefunden? Hattet ihr gute Unterstützung durch Ärzt*innen, Therapeut*innen oder sonstige Stellen?

Natürlich haben wir uns auf den wenigen englischsprachigen Seiten, die es über Henrys Gendefekt zu lesen gibt, informiert, sind aber nicht tief eingetaucht, denn außer, dass es uns Sorgen bereitet, was alles noch kommen könnte, bringt es uns kein Stück weiter. Wir lassen es auf uns zukommen und sind zuversichtlich, in jede neue Situation hineinzuwachsen. Zum Glück sind wir durch Ärzte, Therapeuten und Frühförderzentrum gut betreut.

Macht ihr derzeit Therapien mit Henry?

Oh ja, Henry hat einmal pro Woche Sprachtherapie, einmal Ergotherapie und zweimal pro Woche Physiotherapie. Zusätzlich macht er wöchentlich seine Übungen auf der Galileo Rüttelplatte hier zu Hause, das stärkt enorm seine Muskelkraft. Ca. einmal im Jahr machen wir eine Intensivtherapie, entweder mit Schwerpunkt Sprache oder motorische Entwicklung, dies gibt ihm meistens nochmal einen richtigen Entwicklungsschub.

Du gehst ja auf deinem Instagram Profil sehr offen mit der Behinderung euers Sohnes um. Was möchtest du deinen Follower*innen gerne vermitteln?

Viele denken, ein Kind mit Behinderung zu haben, bedeute ein Leben voller Traurigkeit, Belastungen und Einschränkungen zu führen. Sie denken, wir haben es schwer, seien vom Schicksal hart getroffen und können unser Leben nicht mehr genießen. Bei Instagram geht es mir deshalb genau darum. Nämlich zu zeigen, dass das Leben mit einem behinderten Kind zwar anders als geplant, aber nicht weniger glücklich verläuft. Mir ist es außerdem wichtig, Barrieren abzubauen. Ich hoffe, dass ich durch meinen offenen Umgang mit Henrys Behinderung anderen die Angst nehme und dadurch den Dialog fördere. Zusätzlich möchte ich als pflegende Angehörige, die ich ja nun mal bin, gesehen werden.

Bei Instagram geht es mir deshalb genau darum. Nämlich zu zeigen, dass das Leben mit einem behinderten Kind zwar anders als geplant, aber nicht weniger glücklich verläuft.

Welche Hürden begegnen euch typischerweise im Alltag?

Ich muss sagen, dass wir bisher wirklich Glück hatten, was die Genehmigung von Therapien und Hilfsmitteln betrifft. Ich musste noch nie einen Widerspruch einlegen. Das ist absolut nicht selbstverständlich. Viele Familien haben damit zu kämpfen. Was mir wirklich fehlt, ist ein inklusives Freizeitangebot für Kinder. Turnverein, Fußballclub, Tanzen, Turnen, musikalische Früherziehung und und und… In einer Großstadt wie Köln gibt es nichts dergleichen für behinderte Kinder. Henry kann also nicht selbstverständlich mit dabei sein. Das ist schade und so kann auch keine Inklusion gelingen.

Was mir wirklich fehlt, ist ein inklusives Freizeitangebot für Kinder.

Wie sieht euer Familienalltag so aus? Wie oft sind die Kinder deines Partners aus erster Ehe bei euch? Und wie funktioniert das Zusammenleben?

Unter der Woche geht Henry, mithilfe seiner Begleiterin, in einen Regelkindergarten. Den besucht er, seit er ein Jahr alt ist und fühlt sich dort sehr wohl. Ich arbeite Teilzeit im Personalbereich und Peter pendelt seit einigen Monaten unter der Woche. Das war eine große Umstellung, an die wir uns erstmal alle gewöhnen mussten. Früher waren Jule und Luis regelmäßig, alle zwei Wochen, bei uns. Das ist jetzt, wo sie größer sind, nicht mehr der Fall. Luis besucht uns in unregelmäßigen Abständen, er studiert und hat eine Freundin. Wir freuen uns dafür umso mehr, wenn er hier ist. Jule ist mehr oder weniger alle zwei bis drei Wochen bei uns. Henry liebt die beiden und sie haben ein sehr inniges Verhältnis zueinander. Es erfüllt mein Herz mit Glück, die drei zusammen zu sehen. Manchmal habe ich das Gefühl, es wäre nicht so intensiv, wenn Henry nicht unser Überraschungskeks wäre. Das hat uns als Familie sehr viel enger zusammengebracht.

Du schriebst vor kurzem, dass Henry, wie viele andere behinderte Kinder, noch nie zu einem Kindergeburtstag eingeladen war. Was wünscht du dir diesbezüglich von Eltern nicht behinderter Kinder?

Das Gute daran ist, dass Henry es vermutlich nicht vermisst, er weiß weder, was Geburtstag, noch was eine Geburtstagsfeier ist. Spaß beiseite, ich denke schon, dass er es gut finden würde, den anderen Kindern beim Spielen zuzuschauen, auch wenn er selber nicht mitspielen kann und damit für die anderen Kinder uninteressant ist. Grundsätzlich finde ich, dass Eltern nicht behinderter Kinder das Gespräch mit ihren Kindern suchen könnten und vielleicht nochmal die Frage stellen, ob es nicht schön wäre, Henry einzuladen. Aber ich denke auch, dass man eine Einladung nicht erzwingen sollte. Dann lieber gar nicht. Das ist ok.

Wie würdest du Henry in einem Satz beschreiben?

Henry ist ein liebenswürdiger, immer gut gelaunter Sonnenschein, der mit seinem Charme alle um den kleinen Finger wickelt.

Was ist für dich das schönste am Mamasein?

Am schönsten finde ich die bedingungslose Liebe, die ich für dieses kleine Menschlein empfinde. Das kannte ich so vorher noch nicht. Henry braucht mich zum Leben und ich ihn auch. Ohne ihn möchte ich nicht mehr sein.

Und was das Nervigste?

Keine oder wenig Zeit für sich alleine zu haben. An einem verregneten Tag lange im Bett liegen zu bleiben, Netflix zu gucken und für niemanden, außer sich selbst, die Verantwortung zu haben. Das wäre hin- und wieder toll.

Wenn die Welt morgen tatsächlich komplett inklusiv wäre: Was würde sich für euch und Henry ändern? Was wünscht du dir für die Zukunft?

Henry könnte überall selbstverständlich mit dabei sein, keiner würde komisch gucken, weil er nicht perfekt läuft oder nicht sprechen kann. Man würde ihn so nehmen wie er ist. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass Henry immer geliebt ist und er nur auf Menschen trifft, die gut zu ihm sind.

Das wünschen wir Henry auch! Danke dir, liebe Eva, für die Einblicke in euer Zuhause und euren Familienalltag.

Eva Karbaumer (Instagram Evieva) mit Henry (5), Jule (17) und Peter
Fotos: Aimilia Theofilopoulos
Interview: Hannah Stenke