Kennt ihr den Spruch: »Ich war die perfekte Mutter. Bis ich selbst eine wurde.« Auf mich trifft das zu. Bevor ich eigene Kinder hatte, hatte ich starke Meinungen, was mit der richtigen Erziehung alles zu regeln (und v.a. zu erreichen) sei. Würde ich jemals eigene Kinder bekommen: Meine Kinder würden nicht andauernd rumschreien, sie würden um 20 Uhr ins Bett gehen, sie würden essen, was ich koche, wenn ich nein sage, würden sie auf mich hören. Ich sag mal so: Bei einem der vier Dinge kann ich ein Häkchen machen. Ich halte das aber eher für Zufall. Eigene Kinder zu haben, hat mich sehr demütig gegenüber (anderen) Eltern werden lassen. Mir ist sehr bewusst geworden, wie weit Idealvorstellung und Realität auseinander liegen.
Tatsächlich bin ich oft erstaunt, was ich für eine Mutter geworden bin. Ich selbst stamme aus einem Elternhaus, in dem das, was die Erwachsenen (speziell mein Vater) gesagt haben, Gesetz war. Wann immer ich es gewagt habe, zu widersprechen, brach ein großer Streit aus. Diese Streits habe ich nie gewonnen. Notfalls wurden sie mit einer Ohrfeige und ähnlichen Maßnahmen beendet. Ich war damit kein Einzelfall. Ein Recht auf eine gewaltfreie Beziehung haben Kinder in Deutschland erst seit den späten 1990ern.
Ich habe mir lange gesagt, dass das früher eben so war und fand es ganz normal, dass Erwachsene das Sagen haben. Ich hatte sogar lange das Gefühl, dass die Strenge meines Elternhauses mir im Leben weitegeholfen hat. Ich habe sie verinnerlicht und zu mir selbst streng sein, hat mir ein Einser Abi, ein Einser Diplom und einen guten Job gebracht. Ich war immer fleißig, diszipliniert und ehrgeizig.
Ich dachte, wenn ich Kinder bekomme, werde ich ihnen das auch vermitteln. Gewaltfrei – die Zeiten haben sich geändert, aber was soll sie denn sonst auf die Welt vorbereiten, wenn nicht Strenge und ein Bewusstsein für Hierarchien.
Dann kam alles anders. In der Welt der anderen Erwachsenen fühle ich mich wie ein dauerverstrahlter Hippie. Wir diskutieren alles aus, begegnen uns auf Augenhöhe und achten die Bedürfnisse des jeweils anderen. Jetzt, da die Kinder älter sind, führen wir ein Familienleben, das ich nicht für möglich gehalten hätte. Eines meiner Kinder sollte im Englischunterricht einen Aufsatz über typische Konflikte der Teenagerzeit in einem Aufsatz festhalten, es konnte sich an keine Konflikte erinnern und hat dann einfach Klischees zu Papier gebracht, weil es Angst hatte, dass die Aussage, es gäbe keine Konflikte als ein Zeichen besonders dysfunktionaler Familie mit toxischen Unterdrückungsmustern gedeutet werden könnte.
Ich weiß nicht genau, wie das gekommen ist. Wahrscheinlich eine Mischung aus Bildung – ich habe über mein Psychologiestudium hinaus schon immer gerne Sachbücher über Kindheit, Erziehung und Entwicklungspsychologie gelesen – und den gut ausgebildeten Erzieher*innen meiner Kinder. Denn die waren stets vorbildhaft. Von ihnen habe ich gelernt, dass man auch 18 Monate alte Kinder mit Respekt behandeln kann. Durch sie habe ich verstanden, was es heißt, auf Augenhöhe mit Kindern zu agieren.
Theoretisch ist das vermutlich vielen klar: Im Idealfall wachsen Kinder und Jugendliche in einer Umgebung auf, die von Respekt und Achtung für sie als Individuen geprägt ist. Praktisch fällt uns das sehr schwer. Dabei ist das eine der wichtigsten Grundlagen, um am Ende Erwachsene zu haben, die ohne Machtgefälle miteinander auf Augenhöhe agieren. Ich glaube, wir unterschätzen sehr stark, wie wichtig das für das Thema Gleichberechtigung im späteren Leben ist.
Wenn wir schon in unseren engsten familiären Beziehungen lernen, dass Hierarchien normal sind und dass es eine Reihe von Menschen gibt, die autorisiert sind, einem zu sagen, was man tun und lassen kann oder was angemessen oder nicht ist, dann legen wir damit auch die Grundlage für ein Machtungleichgewicht zwischen den Geschlechtern.
Wir reden von Adultismus. Der Begriff Adultimus ist eine Zusammensetzung des lateinischen Worts adultus (Erwachsener) und der Endung -ismus als Kennzeichnung eines gesellschaftlich verankerten Machtsystems. Adultismus beschreibt die Machtungleichheit zwischen Kindern und Erwachsenen und infolge dessen die Diskriminierung und Herabsetzung jüngerer Menschen allein aufgrund ihres Alters.
Die Frühpädagogin Sandra Richter schreibt dazu: »Diese Ungleichbehandlung wird von sozialen Institutionen, Gesetzen und Traditionen unterstützt. Die Vielzahl der Menschen betrachtet Adultismus als gegeben und so alltäglich, dass diese Art der Ungleichbehandlung nicht hinterfragt wird.«* Adultismus ist so normal, dass man mit großer Sicherheit davon ausgehen kann, dass jeder Mensch diese Art von Diskriminierung am eigenen Leib erfahren hat. Richter führt weiter aus: »Adultimus, als erste Diskriminierungserfahrung eines fast jeden Menschen, kann […] konditionieren, alle weiteren Diskriminierungsformen zu akzeptieren oder selbst auszuüben, zumindest wird weiterführende Diskriminierung erleichtert.«
Adultimus zeigt sich in unserem Verhalten und der Art wie wir uns ausdrücken. Er äußert sich in Sätze wie »Wenn Erwachsene reden, haben Kinder Sendepause!« oder »Weil ich es so sage!«.
Durch Sätze wie diese erfahren Kinder einerseits ihre eigene Machtlosigkeit und lernen andererseits sehr früh, dass die Abwertung und Unterdrückung anderer Menschen fester Bestandteil unserer Kultur ist.
Wenn wir Erwachsene solche Dinge sagen, glauben wir oft im Recht zu sein, weil wir davon ausgehen, dass es sich um erzieherische Maßnahmen handelt, wenn wir Kindern vorschreiben, was sie wie in welcher Form oder wann zu tun oder zu lassen haben. Tatsächlich gibt es diese Situationen, z.B. wenn wir Gefahren abwenden wollen (»Du darfst das nicht in den Mund stecken …diese Blume ist giftig«). Vieles von dem, was wir wollen oder verbieten hat aber eher etwas mit unseren als mit den Bedürfnissen und Wahrnehmungen der Kinder zu tun. Wenn wir z.B. unseren Kindern sagen: »Doch, Du bist müde, Du musst jetzt schlafen!« oder »Doch, das ist lecker. Iss das jetzt auf!« sind das adultistische Verhaltensweisen, weil sich Erwachsene über die Gefühle (oder besser die Einschätzung der Kinder zu ihren Bedürfnissen) hinwegsetzen und meinen es besser zu wissen, weil sie erwachsen sind. Streng genommen fallen solche Sätze sogar unter Gaslighting. Denn wir stellen die Realität der Kinder damit in Frage und definieren diese nach unseren Vorstellungen. Das Kind spürt dann zwar, dass es nicht müde ist oder eine Abneigung gegen ein bestimmtes Essen hat, soll aber glauben, was die Erwachsenen sagen.
Was dagegen tun?
- Zuerst: Habt ihr selbst adultistisches Verhalten als Kind oder Jugendliche erlebt? Was hat das mit euch gemacht?
- Denkt ihr, ihr verhaltet euch ungewollt auch manchmal adultistisch? Wie sieht das aus? Wie hat das Kind oder der/die Jugendliche reagiert?Konkret im eigenen Verhalten:
- Prüfen, ob man Kinder entsprechend ihres Reifegrads nicht doch in die Entscheidung miteinbeziehen kann.
- Echte Wahlmöglichkeiten bieten (mit echt ist gemeint: Das Kind darf wirklich entscheiden, man stellt die Wahl nicht nachträglich in Frage: »Wäre aber besser wenn, …«).
Hinterfragen, welche Vorgaben wir machen, um unseren eigenen Alltag zu erleichtern und Diskussionen zu umgehen.
- Sich bemühen auf Fragen altersgemäße Antworten zu finden, statt den Kindern zu sagen: »Das kannst Du nicht verstehen, dafür bist du zu jung«.
- Sich bemühen, dass man Regeln, die man aufstellt auch selbst einhält.
- Wenn es um Kinder geht, die Kinder direkt ansprechen, nicht deren Eltern und sie nur in dritter Person adressieren.
- Abgleichen: Das was man zu einem Kind/Jugendliche*n sagt – würde man das so auch gegenüber einer erwachsenen Person formulieren?Susanne Mierau geht in New Moms for Rebel Girls** ausführlich darauf ein, dass es besonders in der Erziehung von Mädchen wichtig ist, sich nicht adultistisch zu verhalten und den Kindern beizubringen für sich und die eigenen Belange eintreten zu können. Sie stellt fest: »Gerade Kinder und Jugendliche haben aber in unserer Gesellschaft einen schweren Stand, anerkannt zu werden (Adultimus), und insbesondere Mädchen wird ein energisches Auftreten oft abgesprochen« So ist es natürlich schwer für Mädchen für sich selbst einzustehen. Sie lernen, dass sie sich zu fügen haben. Was ihnen unter Umständen lebenslang erhalten bleibt.
Psychoanalytisch gesehen ist Adultimus die beste Erklärung, warum Kinder sich in ihrer Pubertät oft zwischen den Extrempolen Rückzug oder Rebellion bewegen. Menschen entwickeln ihr eigenes Ich in Abgrenzung zu ihren engen Bezugspersonen. Lässt diese Bezugsperson keinen Platz für die Eigenheiten, die Bedürfnisse und Interessen eines Kindes und wertet diese stark ab, kann das kindliche Ich sich nur in zwei Richtungen bewegen. Es unterwirft sich der machtausübenden Bezugsperson oder es rebelliert. Entscheidet sich das Kind für Unterwerfung lernt es außerdem, dass in Beziehungen immer nur Platz für ein Ich ist – genauer gesagt für das andere Ich. Menschen, die so aufwachsen haben große Probleme ihre eigenen Bedürfnisse zu formulieren und Raum einzunehmen. Im Patriarchat unterwerfen sie sich freiwillig.
Erziehung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen kann aber auch ohne Adultimus stattfinden. »Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Adultismus geht es nicht darum, jegliche erzieherischen Handlungen in Abrede zu stellen. Es ist für Kinder überlebenswichtig Dinge von anderen, zunächst zumeist älteren Menschen, zu lernen, da wie bereits erwähnt noch nicht genügend Informationen vorliegen, um Zusammenhänge verstehen und Gefahren einschätzen zu können. Doch dieses Lernen sollte immer auf respektvoller, freiwilliger Basis verlaufen und nicht von Kommandos oder Gehorsam geprägt sein.« stellt Richter klar.
Des Pudels Kern:
Adultistische Verhaltensweisen sind in unserer Gesellschaft stark akzeptiert. Wir bringen unseren Kindern bei: Es ist normal, dass es Machtgefälle gibt. Du musst dich fügen und akzeptieren, was andere sagen.
Als Erwachsene fällt es uns dann schwer, unsere eigenen Bedürfnisse zu formulieren und auf Augenhöhe aktiv für sie einzutreten.
Wir brechen das Muster, wenn wir unseren Kindern schon auf Augenhöhe begegnen. So finden sie es später nicht normal ungerecht behandelt zu werden.
*Richter 2013, S. 6.
**Mierau 2022, S. 24.
***Benjamin 1990, S.40ff.
Der Post basiert auf dem Inhalt meines neuen Buchs »Musterbruch: überraschende Lösungen für wirkliche Gleichberechtigung«. Ihr bekommt es in eurem Buchladen um die Ecke, online und auch als Hörbuch. Die Premierenlesung in Berlin findet am 22.2. in der Urania statt.
Mehr zum Thema Adultismus:
Lila Podcast: Was gehen uns die Kinder an? Adultismus und Feminismus (mit Susanne Mierau)
Foto: Sophie Weise-Meißner