Vom Vergessen
Ich habe mich noch während meiner Schwangerschaft gefragt, wie das wohl würde. Ich und ein Kind. Ich und ein klitzekleines, zartes, sauberes und immerzu selig schlafendes Baby – das konnte ich mir wiederum vorstellen. Aber ein Kind, das laufen, sprechen, ein Eis haben bedeuten konnte – ein mehr oder minder mündiges Wesen also, das einem wiederum aber nur in schiefen Halbsätzen aus einem Zahnlücken-Mund begegnete? Schwierig. Und so gab es etwa folgende Situation, während ich im 6. Schwangerschaftsmonat mit Julius’ Vater Bekannte seinerseits traf, die bereits zwei Kinder hatten (wir waren darüber hinaus so ziemlich die ersten in unserem Umfeld, die ein Kind bekamen). An ihrer Seite jedenfalls: ihre Tochter, damals zweieinhalb Jahre alt. Ich weiß noch, wie sie viel selbstständiger als ich es erwartet hätte durch den Park lief, wir an einem Teich stehenblieben – ich und sie ganz allein – und ich partout nicht wusste, was ich mit ihr anfangen soll. Ich glaube, ihr ging es mit mir ebenso.
Jene Hemmungen mögen mir dieser Tage noch so fern sein, ich komme doch so langsam wieder an den Punkt, an dem ich sehen und nachvollziehen kann, warum nicht jeder Mensch ohne Kind unbedingt mit Kind oder dessen Eltern können muss.
Zwischendurch nämlich ist mir genau diese Vorstellung abhanden gekommen. Wie man denn mein Kind nicht ausschließlich süß finden könne, oder zumindest nicht total ätzend, wenn es gerade einmal krähte oder kreischte. Wie man nicht selbstverständlich finden kann, auf so ein kleines Kind Rücksicht zu nehmen oder seiner Mutter an der Rolltreppe mit dem Kinderwagen zu helfen. Ich konnte nach Julius’ Geburt eine Zeit lang nicht begreifen, warum Menschen ohne Kinder Menschen mit Kindern im Zug, im Flugzeug, an anderen engen öffentlichen Orten schwierig finden. Ja, ich war wohl sogar zuweilen eine jener Mütter, die in Kinderwagen-Kolonnen durch Prenzlauer Berg schob und sich wunderte, wenn sich jemand ärgerte, dass drei Frauen mit drei Kinderwägen in einer Reihe den Bürgersteig belegen.
Nun referiert Julius’ Vater gerne wiederum über die Zustände in Berlin, wenn er mal wieder auf Heimatbesuch aus der Schweiz anreist. Wie die Menschen dort zwischen den Bergketten insgesamt freundlicher, rücksichtsvoller, einfach weniger aggressiv wären. Und dahingehend kann man sicher sagen, dass unsere deutsche Hauptstadt gewisser Weise ein Unikum ist; Man wahrscheinlich in anderen Städten beim Bäcker nicht per se abgewatscht wird, wenn man sich erdreistet, freundlich um ein Brot zu fragen.
Aber dennoch: Im Nachhinein würde ich fast annehmen, dass ich mich auf jenem Still-Hormonfilm zuweilen regelrecht asozial verhalten habe. Von wegen: hier komme ich und mein Kind im Tragetuch und dann irgendwann alle anderen. Oder: “Raucht der gerade neben mir? Wie kann er nur an der Ampel neben mir stehen und rauchen, wo ich doch ein Baby dabei habe?! Und wenn es euch anderen schon gibt, dann ist Rücksicht doch wohl nicht zu viel verlangt. Allein, weil ich seit Wochen nicht geschlafen habe. Ach, von wegen Wochen – ein gefühltes halbes Leben.”
Nun ist es mit dem Schlafentzug und all den Torturen, die man so im ersten Babyjahr und auch darüber hinaus mit Kind erlebt, ja so, dass man schlichtweg vergisst, wie schlimm diese Zeit tatsächlich war und allein deshalb wahrscheinlich in seinem Empathievermögen von allen Eltern abrückt, die gerade noch mitten drin stecken. Andererseits aber genau jener Effekt dazu beiträgt, dass das eine oder andere Elternteil nicht mehr nachvollziehen kann, wie es um Menschen ohne Nachwuchs steht, sobald das erste eigene Kind geboren ist. Dabei wollen doch irgendwie alle Parteien das selbe: ein wenig mehr Verständnis. Und das kann man als Eltern vielleicht sogar trotz Schlafentzug und Überforderungskommando einrichten.