Mädchen wie Jungs behandeln – und Jungs wie Mädchen
Stopp! Genau das ist das Problem und so beginnt das Dilemma. Ohne es bewusst zu tun, erziehen wir Eltern unsere Kinder sehr unterschiedlich und sind uns dessen nicht unbedingt bewusst. Als Luise zur Welt kam, bekam sie ein Püppchen geschenkt und wir hatten auf einmal sehr, sehr viel rosafarbene Kleidung. Luise wurde also groß in einer Welt, in der ihr Puppen zum Kümmern und pinke Kleidchen zugewiesen wurden, so wie ihren Kindergartenfreundinnen auch. „Ich gehöre dazu, weil ich ein Mädchen bin“, dachte sie sich wahrscheinlich, und lief im Kindergarten mit Puppe Anna in die Puppenecke zu den anderen kleinen Damen.
Rosa weist den Weg
Erkennungszeichen Rosa, aha, hier geht’s lang, denkt sich Luise dann auch im Spielwarengeschäft, und läuft zum Regal mit dem pinken Bügeleisen und den kleinen Kutterschaufeln. „Mama macht ja zuhause auch meist sauber, das passt“. Und schon wünscht sich Luise vom Osterhasen ein Kinder-Putz-Set aus roséfarbenem Kunststoff. Die Oma schenkt es ihr, und betont noch einmal, dass Luise im Gegensatz zu ihren Brüdern ja so ordentlich ist.
Nun ist Luise von Natur aus eher eine Ronja Räubertochter, denn auf den Charakter unserer Kinder haben wir zum Glück wenig Einfluss. Da kann sich meine Freundin noch so sehr bemühen, ihre Johanna mit geschlechtsneutraler Kleidung und einer Kiste mit Autos und Kreiseln nicht in die Schublade zu stecken: in der Werbung, die auf Youtube läuft, wenn sie sich ein paar Folgen Peppa Wutz anschaut, sieht sie trotzdem pinke Ponys und Barbies und Eisköniginnen-Accessoires und erinnert sich, dass ihre Freundinnen solche Dinge auch schön finden. Kinder möchten dazu gehören, sie wollen keine Extrawurst spielen und einen Ledertornister tragen, den die Mama so schön „oldschool“ findet. Johanna will lieber einen rosafarbenen Barbie-Ranzen und spricht von nichts Anderem mehr. „Lass sie doch“, sagt Johannas Papa, und meine Freundin weiß, dass sie machtlos ist.
Wir können unsere Kinder kaum davor bewahren, in die Pink-Blau-Falle zu treten, und manche Menschen fragen sich, was denn überhaupt schlimm daran ist, wenn Mädchen Pink lieben und gerne mit Puppen spielen. Farben haben nichts Böses an sich, früher galt sogar Rosa als männlich. Es war das „kleine Blutrot“ des tapferen Nachwuchs-Kriegers und so wurden männliche Babys in ritterliches Pink gewickelt, während die Mädchenfarbe blau war wie der Umhang von Maria.
Miese Botschaft
Das Problem sind nicht die Farben, sondern die Stereotypen, die wir in unserer Gesellschaft mit den Geschlechtern verbinden. Rosa ist nicht problematisch, aber die Farbe zeigt Mädchen den Weg in ihre Zukunft. Jetzt ist es ein kleiner Puppen-Wäscheständer, später ist es die mentale Belastung. Heute ist es die niedliche Puppe Anna, morgen ist es das Gefühl, die gesamte Verantwortung für Kinder und Care-Arbeit zu übernehmen. Auch der Drogeriemarkt steckt voller mieser Botschaften für unsere Mädchen. Auf Badezusätzen versprechen Piraten kleinen Jungs ein Leben voller Abenteuer. Der Blick in die Ferne zeigt, dass sie sich nicht scheren sollen, was andere denken. Anders dagegen die Prinzessin auf dem Schaumbadpäckchen. Sie schaut uns an und scheint zu sagen: „Bin ich nicht reizend?“
Jungen haben es nicht einfacher. Sie sind die Typen für alles Wilde und Gefährliche, sollen sich nicht zimperlich anstellen. Was aber, wenn ein kleiner Junge sehr sensibel ist und lieber mit der Puppe seiner Schwester spielt, sich sogar Haarspangen in die Haare knipst? Der spürt sicher schnell, dass seine Vorlieben nicht in unserer Welt passen. „Guck mal, der Junge trägt Haarspangen“, werden andere Kinder rufen. „Was, euer Sohn spielt mit Puppen?“, fragen andere Eltern verwundert. Hier kann doch was nicht stimmen, denn wir möchten die Menschen gerne einschätzen können. Alles soll so sein, wie wir es kennen, Neues macht erst einmal Angst und alles was anders und fremd ist, lehnen wir zunächst ab. Wer weiß, was da wohl hinter steckt?
Gefühle nicht erwünscht
Auch Gefühle werden Jungen eher abgesprochen. Zumindest reden Väter mit ihren Mädchen viel eher übers Traurig und glücklich sein, wie eine Studie zeigt.
Der heutigen Vätergeneration wurde damals noch der Satz „ein Indianer kennt keinen Schmerz“ eingetrichtert und wenn sich heute Frauen fragen, wieso ihre Partner so selten über Gefühle sprechen, erahnen sie vielleicht, was Opas „Heul nicht wie ein Mädchen!“ angerichtet hat.
Zurück zu Luise und dem Abendessen. Ich selbst bin nicht frei von Vorurteilen, die mir die Sozialisation mit auf den Weg gab. Ich schreibe Luise Eigenschaften zu, die sich dann selbst erfüllen. Sie räumt ihr Schulmäppchen auf, weil ich es von ihr erwarte, sie schlichtet Streit, weil sie gelernt hat, dass das die Aufgabe von Mädchen ist. Und sie wird sich später für den Haushalt zuständig fühlen, wenn ich weiter ausnutze, dass sie sofort zur Stelle ist, wenn ich die Kinder zum Tischdecken rufe.
Von Räubermädchen und Jungs, die im Haushalt helfen
„Mütter, die ihre Söhne verhätscheln, ziehen Männer auf, die nicht klar kommen. Das ist eine patriarchale Tragödie“, hat ein Vater in der amerikanischen Serie „13 Reasons why“ einmal zu zwei jungen Männern gesagt, und damit den Nagel auf den Kopf getroffen. „Jungs, jetzt wird der Tisch gedeckt“, rufe ich, und setze mich mit Luise aufs Sofa, um mit ihr ein Kapitel aus Ronja Räubertochter zu lesen. Und dann machen wir gemeinsam den Frühlingsschrei, ganz laut und ganz wild.
Lass dich nicht unterkriegen, liebe Räubertochter!