Von meinem Kind, das nicht hineinpassen will (und auch nicht muss)

Als Autorin findet das Leben ja irgendwie innerhalb einer ewigen Verwertungslogik statt - ja, scheint es kaum Begegungen und Anlässe zu geben, die einen nicht bewegen, darüber zu schreiben, sie in die Welt hinauszutragen.

Heute Morgen etwa in der Teeküche neben meinem Büro:

Zwei Kollegen unterhalten sich über den Leistungsdruck und wie in ihrem Umfeld, etliche Menschen darüber zugrunde gehen und sich ihm doch fügen, dem Druck – oder sich alternativ in Angst, Hass, Schuldzuweisungen einrichten.

Und ich – die sich irgendwann einklinkt, weil sie bei diesem Thema ja doch nicht die Füße still stehen lassen kann – sage: Aber ja, man denke allein an den scheinbar kollektiven Glaubensatz unserer Tage, für alles immer selbst verantwortlich zu sein – ja, alles schaffen zu können und zu müssen, weil es schlichtweg kein Entschuldungsprinzip mehr innerhalb dieser neuen Religion der Selbstwirksamkeit gibt und übrigens auch keinen Raum, dahinter zurückzufallen. Ausfallen ist nämlich nicht drin. Überall scheinbar Potenziale. Potenziale, nur das zu tun, was einem wirklich liegt. Potenziale, genau damit dann erfolgreich zu sein. Potenziale, frei und unabhängig zu leben. Keine Grenzen, nur Flügel. Glücklichsein als Diktatur. Und die, die aus diesem Prinzip herausfallen – ja, die sind eben selbst schuld (und OPFER), säuseln die, die profitieren: “Ein kosmologisches Gesetz!”

Unseren Kindern aber, denen wollen wir die Selbstwirksamkeit zuweilen nicht zugestehen. Die sollen nicht genau das machen, was sie wollen und können, sondern das, was sich Erwachsene für sie ausgedacht haben.

Was will sie denn nun schon wieder von uns, die Katharina? Ich will ehrlich mit euch sein: Eigentlich will ich selbstredend vor allem erst einmal für meinen Sohn. Aber allein damit gerate ich immer wieder an Grenzen.

Denn mein Kind ist eines dieser Geschöpfe, die nicht so richig hineinpassen. Bzw: Dieses Kind will nicht hineinpassen und im Übrigen sich auch nicht darum duellieren, wer besser hineinpasst. Es ist scheinbar “zu” sensibel, “zu” sehr in seiner eigenen kleinen Phantasiewelt eingerichtet, bringt außerdem “zu” wenig Durchsetzungswillen mit und noch viele andere “Zus” außerdem. In der Summe ergibt sich daraus wiederum: ein Wettbewerbsnachteil.

Mein Kind ist ein Wettbewerbsnachteil und ich bin sein Wettbewerbsnachteil – weil ich nicht bereit bin, so lange an ihm zu schrauben, zu zerren, ihn zu verbiegen, bis er genau in die Logik der Anderen, wie die Dinge sein müssten, hineinpasst.

Für andere mag dieses Kind nicht hineinpassen. Für mich setzt es Standards. Seine eigenen.

So richtig aufgetischt wurde uns jedenfalls, was er alles nicht ist (aber eigentlich sein sollte) – und damit kommen wir dann final und zu meinem eigentlichen Begehren innerhalb dieses Posts – am vergangenen Montag bei der schulärztlichen Untersuchung:

Montagmorgen also im Amt. Wir warten seit einer Stunde. Im Warteraum sitzen Eltern und Kinder wie Hühner auf der Stange, um begutachtet zu werden. Schlachthof oder Legebatterie? Wer taugt, wer nicht? Es ist früh und Julius hat mindestens zwei Stunden zu wenig geschlafen, irgendwann hält es ihn nicht mehr auf dem Stuhl. Er rennt und springt, außerdem hat er Hunger. Als er mit seinem Brot vor mir steht, werden wir aufgerufen. Die Arzthelferin hat weder für ihn, noch für mich ein Lächeln übrig. Sie hat zu tun. Sie muss einen Zeitplan einhalten. Im ersten Untersuchungsraum wird deshalb – und ehe vorher ein anderes Wort gewechselt ist – bedeutet: “Sie sitzen hier, ihr Kind da.” Mein Kind, das hier zur Disposition steht, will aber erst gar nicht den Raum betreten. “Du willst doch aber zur Schule gehen?”, wird es gefragt. “Nein, will ich nicht. Ich will nicht zur Schule gehen.”, widerspricht mein Kind und hat es sich damit wahrscheinlich schon verscherzt, weil doch alle Kinder in die Schule gehen wollen. So qua Evolution und so.

Ich rede ihm gut zu und irgendwann sitzt Julius dann doch auf dem ihm zugewiesenen Stuhl. Dann folgen Seh- und Hörtest. Julius macht mit und findet beides sogar ganz lustig, nestelt aber für den Geschmack der Arzthelferin zu oft mit der Hand an seinem Mund herum. “Nimm jetzt mal deine Hand aus dem Mund.”, heißt es nämlich bald und eine Sekunde später ist ihre Hand am Arm meines Kindes und drückt ihn auf den Tisch. Ich bebe schon hier innerlich und schäme mich sogleich, nichts zu sagen. Nicht zu sagen, dass das übergriffig ist. Nicht zu sagen, dass das nicht ok ist. Die Untersuchung nimmt ihren Lauf und als Julius auf einem Bein hüpfen soll und das schon wieder nicht so läuft, wie es wohl von Kindern in seinem Alter angenommen wird, werden Augen verdreht und geseufzt und als er sich schließlich wieder anziehen soll, ein “jetzt beeil dich mal, da draußen warten Kinder, die Lust haben, in die Schule zu gehen”, hinterher geschickt.

Zurück im Warteraum. Ich würde am liebsten gehen.

Als Julius wieder an seinem Butterbrot nagt, werden wir für die zweite Runde aufgerufen. Es ist inzwischen Vormittag und mein Kind insistiert, es habe Hunger, als man mich darauf verweist, dass das Kind nun aufhören müsse zu essen. Ich verhalte mich nicht besser als die Arzthelferin und klaube meinem Sohn die Brotreste aus seiner Hand. Sie krampft, die Hand. “Du sitzt hier, die Mama da.”, sagt die Ärztin und auch, dass dieses Kind wohl nicht allzu häufig auf irgendwen hören müsse. Wieder Beben. Aber der weiße Kittel, die alte Autoritäts-Ohnmacht, hält mich im Stuhl. Julius werden allerlei Vorformen eines Intelligenztest vorgesetzt. So malen wie er sollte konnte er schon bei der Arzhelferin nicht, kombinieren und assoziieren hingegen schon und deshalb fällt dann das Urteil bis zu diesem Punkt auch nicht gänzlich vernichtend aus. Aber insgesamt wird mein Kind hier vor allem als Problem betrachtet, habe ich den Eindruck. Als ich erzähle, wie lang sich Julius manchmal mit Dingen zu beschäftigen weiß, um den Fokus einmal auf seine Stärken zu verschieben – sortiert die Ärztin diesen Aspekt in ihren flüchtigen Eindruck von meinem Kind so: Nämlich, dass Julius vielleicht in der Kita außen vor sei, sagt sie, und er sich deshalb im Spiel verliere. Ich räuspere mich und denke: wie stumpfsinnig und bezeichnend und verkürzt gedacht. Vor allem: wie hier alles in die eine Schublade verfrachtet wird, die diese Ärztin für mein Kind aufgezogen hat. Sie fragt ja nicht mal, ob sie mit ihrem Verdacht richtig liegt (tut sie nicht), stattdessen, ob es in meiner Familie Auffälligkeiten gibt. Irgendwann beginnt Julius schließlich zu versuchen, mir den Mund zuzuhalten, als ich mit der Ärztin über ihn spreche und noch einen Moment später sitzt er da, sein Blick ganz leer, sein Kopf nach unten geneigt.

Als wir raus sind, bin ich regelrecht paralysiert. Die Sätze und Bilder dieses Vormittags schieben sich in Dauerrotation durch meinen Kopf. Julius sitzt in der Ubahn auf dem Weg zur Kita auf meinem Schoß und ich flüstere, sein Kopf ganz dicht an meinen, meine Arme um seinen kleinen Körper geschlungen, dass ich ihm noch etwas sagen müsse. Dass es mir gar nicht gut ginge mit dem Vormittag. Dass ich doof finde, wie die Ärztin und die Arzthelferin mit ihm und mit uns gesprochen hätten. Und ich sage ihm, was ich ihm auch jeden Abend, und insbesondere diesen Abend später am Bett sage: Dass ich ihn genau so liebe, er genau so richtig ist, wie er ist.

Denn mein und dieses Kind ist genau richtig. Kein Aber. Nur Punkt.

Seine Defizite sind keine Probleme, keine Einschränkungen. Seine “Probleme” bedeuten seine Potenziale. Was er nicht kann, lässt Raum und Platz, anderes besser zu können. Und selbst wenn es kein Gleichgewicht gäbe: Es könnte mir nicht weniger egal sein. Das änderte an meiner Liebe zu ihm doch nichts.

Ich finde jedenfalls sehr eigentümlich, welches Menschenbild mir da während der schulärztlichen Untersuchung vermittelt wurde. Ein recht überholtes, finde ich – beziehungsweise eines, in dem vor allem angelegt ist, darauf zu achten, dass alle Kinder eines gewissen Alters ungefähr in der Lage sind, im gleichen Schritt und Takt durch die ersten Schuljahre zu gehen. Ein Menschenbild, in dem der oder das einzelne kaum Platz hat oder nur so weit er die Gruppe nicht stört. Ein Menschenbild, in dem man Kindern vorgeben und sie disziplinieren muss, zu sein – anstatt anzunehmen, dass sie bereits etwas sind.

Warum fällt uns das eigentlich so schwer? Kinder als das zu begreifen, was sie sind und darin zu vertrauen, dass sie, so wie sie sind, nicht nur jemand sein werden, sondern bereits sind? Dass sie alles in sich tragen und wir eher diejenigen sein sollten, diese Schätze zu hüten, anstatt unsere Kinder darum zu berauben.

Ich lasse mein Kind um ein Jahr zurückstellen. Nicht, weil ich denke, dass er irgendetwas aufholen müsste – sondern, weil er offenbar einen eigenen Plan davon hat, was richtig für ihn ist. Und ich widerspreche ihm darin nicht.