Eure Kinder gehören euch nicht

Ich kann mich grob erinnern, dass ich diesen Text einmal Ende vergangenen Jahres schreiben wollte in Anlehnung an das, was dann Isabel vor kurzem in ihrem Spielzeugwaffen-Text niedergeschrieben hat. Es sollte darum gehen, inwieweit man seinem Kind zugesteht, eben das zu tun: mit Waffen zu spielen. Oder expliziter und in unserem Fall: mit NinjaGo. Ich wollte behandeln, inwieweit man ihm, dem Kind, eigene Interessen und ein eigenes Wesen zugesteht, anstatt es als einen Teil seiner selbst zu begreifen, den es nach den erwachsenen und eigenen Vorstellungen zu steuern gilt.

Denn – und das kann ich gar nicht verleugnen: In mir schlummerten (und schlummern immer noch) Anteile, die das alles nicht so richtig cool fanden und finden. Das mit den Waffen und den Ninjas und der Gewalt.

Das Kind geht seinen Weg. Ob wir das nun wollen oder nicht.

Julius war schon immer monothematisch unterwegs. Irgendwann mit einem Jahr begann er sich für Pferde zu interessieren und dann gab es eben nur das, die Pferde und irgendwann Einhörner. Gerne auch in pink und mit Glitzer. Darauf folgten die Dinosaurier und in kürzester Zeit wusste dieses Kind scheinbar alle und mir bis dahin unbekannten Gattungen zu benennen und zu typologisieren. Ein Triceratops sieht vielleicht manchmal sehr aus wie ein Styracosaurus, ist aber eigentlich ein Protoceratops. Er beschäftigte sich sehr eindringlich und sehr versessen damit, welche Dinos an Land jagen und welche in der Luft, welche Fleisch gefressen haben, welche nur Pflanzen und wer wann gelebt hat. Irgendwie so.

Jedenfalls waren wir bis dahin auf Linie. Pferde waren nie meins, aber ok. Dinosaurier fand ich selbst interessant und sich darüber Wissen anzueignen, aus einem verqueren akademischen Ansatz auch erstrebenswert.

Und dann zogen hier mit dem 4. Geburtstag die Ninjas ein, nachdem ich ihm Astronomie unterzujubeln versucht hatte, und mit ihnen jener Lego-Merchandise-Wahnsinn. Es gab Wochen, wenn nicht Monate in diesem Haushalt, in denen das Kind als allerliebstes und erstes Ritual am Tag pflegte, Lego-Kataloge zu studieren und zu benennen, was es alles bräuchte, was es sich zu Ostern, von der Zahnfee, zum Geburtstag, vom Nikolaus und zu Weihnachten wünschte.

Und in mir wuchs irgendwo eine Sperre. Weil ich das Thema total stumpfsinnig fand und meinem Sohn recht schnell bedeutete, dass mich das alles sooo überhaupt nicht interessierte – ich erst recht kein Interesse an einer Auseinandersetzung, gar am gemeinsamen Spiel dazu hätte und überhaupt an dieser mir scheinbar überzogenen Form von Konsum.

Nun fahren wir hier kein Nachmittagsprogramm in der Musikschule. Ich sitze mit meinem Vorschüler auch nicht zuhause und schiebe Perlen über Rechenmaschinen oder lasse ihn seinen Namen malen. Er geht nicht zum Fußball, auch nicht zum Hockey oder Judo. Ja, wir sind nicht mal zum Babyschwimmen oder Pekip gegangen, als das alle anderen um uns taten.

Und doch, existierte sie da irgendwo in mir, jene Stimme – die irgendwo im Hintergrund leise säuselt, vielleicht dann doch noch das dritte Buch zu lesen oder bald mal wieder ins Planetarium zu gehen, in die Kinderoper, in klassische Konzerte oder das Naturkundemuseum.

Viel ärger aber noch beschäftigte mich, dies Kind von der Ninja-Plage loszueisen und ein neues, besseres, sinnvolleres Themenfeld zu erschließen – anstatt es sein zu lassen. Anstatt es sein zu lassen, was und wer es ist. Dieses Kind. Mein Kind, das ich zwar geboren – aber über das ich doch eigentlich nicht verfügen und schon gar nichts diktieren sollte.

Es ist ja doch unveränderlich, wie es ist, dieses Kind und ich im besten Fall nur sein Gefährte, nie eine Gouvernante.

Dass dieses Thema darüber hinaus noch eine andere Ebene hat, wurde mir vor kurzem wiederum im Zwiegespräch mit einer Freundin bewusst, der ich erzählte, mich manchmal in Julius selbst zu erkennen und sie mir darauf Einhalt gebot, da sei wahrscheinlich auch oft einfach Übertragung im Spiel. Ich nähme zuweilen vielleicht Dinge für Julius an, die zwar für mich, deshalb aber noch lange nicht für ihn gelten würden. Vielleicht wünschte ich mir zuweilen Dinge, die ich selbst als erstrebenswert empfinden würde – aber die deshalb nicht für mein Kind erstrebenswert sind.

Und dann schickte sie mir ein paar Tage folgende Passage aus Jessica Benjamins “Die Fesseln der Liebe” und es machte einmal wieder sehr deutlich: Klick.

Die Anerkennung, die ein Kind braucht, kann die Mutter nur aufgrund ihrer eigenen selbstständigen Identität geben. Deshalb ist die Selbst-Psychologie im Irrtum, wenn sie die Anerkennung, die die Mutter für die Gefühle und Leistungen ihres Kindes aufbringt, nur als “mütterliche Spiegelung” begreift. Eine Mutter ist kein Spiegel – und sollte kein Spiegel sein. Sie soll nicht nur die Ansprüche des Kindes widerspiegeln. Vielmehr sollte sie so etwas wie ein Nicht-Ich verkörpern. Sie sollte die unabhängige Andere sein, die auf ihre eigene, unabhängige auf das kindliche Selbst reagiert. In dem Maß, wie das Kind zunehmend einen eigenen Mittelpunkt seines Lebens findet, wird die Anerkennung von Seiten der Mutter nur noch insofern bedeutsam, als sie deren eigene, gleichermaßen eigenständige Subjektivität zum Ausdruck bringt.

Und:

Darum betone ich, dass die gegenseitige Anerkennung, die auch voraussetzt, dass das Kind die Mutter als selbstständige Person anerkennt, ein ebenso wichtiges Entwicklungsziel wie die Ablösung ist. Differenzierung setzt eine reziproke Beziehung zwischen dem Selbst und der Anderen voraus, also ein Gleichgewicht zwischen dem Selbst und der Anderen voraus, also ein Gleichgewicht zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung.

Oder, wie es Jaques Rousseau einst formulierte:

Das Ziel der Erziehung? Es ist das Ziel der Natur selber…

Rousseau formulierte damit seine Sicht auf Bildung; Nämlich unsere Kinder nicht auf ein vorgegebenes Ziel hin zu erziehen, sondern ihrer eigenen Natur gemäß zu begleiten, die in ihm angelegten Fähigkeiten entwickeln zu können. Denn, und so Rousseau, wenn man einen Menschen für andere oder für sich selbst leitet, ist Übereinstimmung unmöglich. Man bekämpft dann die Natur des Kindes, und muss wählen, ob man einen Menschen oder einen Bürger erziehen will.

Ich habe hier bei Little Years ja genau das schon so häufig formuliert: Dass ich mein Kind als eigenständiges Wesen erziehen möchte. Ich will – wie Isabel ebenso vor kurzem geschrieben hat – sein sicherer Hafen sein. Er soll zu mir zurückkehren können. Jederzeit. Er soll aber auch von dort aus losziehen dürfen und wollen – die Welt und das Leben selbst und auf eigenen Wegen bereisen anstatt auf von mir ausgewiesen vermeintlich sicheren Pfaden. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass mein Sohn zu einem Menschen heranwächst, der um sich selbst und sein Wesen weiß, anstatt sich ob fremder Ansprüche selbst zu negieren – ja, immerzu in Frage zu stellen. Er soll nicht mir oder irgendwem gerecht werden, er soll sich selbst gerecht werden.

Er gehört mir nicht. Mein Sohn ist weder meine Marionette, noch mein Abziehbild. Er ist erst einmal nur er selbst.

In diesem Sinne und als Abschluss zu meinen Gedanken diese Fundstelle (über die ich ehrlicher Weise nur gestolpert bin, deshalb keine Quelle auszuweisen weiß):

Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch. Und wenngleich sie bei euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, doch nicht eure Gedanken, denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Ihr dürft Ihrem Körper eine Wohnstatt geben, doch nicht ihren Seelen, denn diese wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht aufsuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.

Ihr könnt euch bemühen, wie sie zu sein, aber trachtet nicht danach, sie euch gleich zu machen.
Denn das Leben geht weder zurück, noch verharrt es im Gestern.