“Mama, warum ist der Himmel blau?” – Die Fragen unserer Kinder als dritter Teil der Autonomiephase
“Oh je, ich wachse!” etwa, in dem die Entwicklungssprünge von Babys geschildert werden: Klang immer plausibel. Ich bin trotzdem am Buch wie an den Sprüngen vorbeigeschlittert. Oder und worüber Isabel ja auch schon einmal so eindrücklich geschrieben hat: “Das gewünschteste Wunschkind treibt mich in den Wahnsinn“. Auch viel darüber gelesen oder gehört, aber nie bestellt (ebenso verhält es sich übrigens für die Fortsetzung des Buches für Kinder zwischen 5 und 10 Jahren, die sicher sehr empfehlenswert ist).
In meinem Fall ist es meistens eher so: Ich begegne Gedanken zu meinem Kind oder zu mir als seiner Mutter eher scheinbar beliebig in ganz anderen Formen von Büchern. Etwa bei Brecht oder bei Byung Chul Han oder Alice Miller. Gut, “Das Drama des begabten Kindes” von Miller ist gewisser Wiese auch ein Ratgeber, wenn auch aus der Psychoanalyse heraus komplexer geschrieben.
Von der Obszönität des Fragestellens
Vor kurzem springt mich also ein solches Buch im Antiquariat an. Ich kaufe gelegentlich sehr impulsiv, was mich im ersten Moment anspringt und gelesen werden will. An diesem Tag ist es dieser Titel: “Warum? Von der Obszönität des Fragens”.
Jedenfalls ist darin ein Gedanke formuliert, der meine Weltanschauung (oder zumindest wie ich mein Kind betrachte) regelrecht auf den Kopf gestellt hat, sie um einen Aspekt hat explodieren lassen:
Nämlich, dass Kinder nicht ausschließlich Fragen stellen, um die Welt zu begreifen, sondern auch, um sich selbst zu begreifen – als Individuum und in Abgrenzung zu ihren Eltern. Vor allem, dass das “Warum?” oder das “Wie? oder das “Woher” als dritter Teil der sogenannten Autonomiephase zu begreifen ist.
Oder wie Ronald Bodenheimer darin schreibt:
“Das Kind lernt synchron und interdependent
(1) zu sagen ich (statt sich selbst mit seinem Vornamen zu benennen);
(2) zu sagen nein (statt zu tun, was es geheißen wird);
(3) und zu fragen.”
Weiter:
“Das Kind kommt mittels dieser Prozesse zur Gewinnung seines Ich-Bewusstseins. Das Instrumentarium, welches diese Vergegenwärtigung des Ich herbeiführt, bewirkt ein Messen der eigenen Kraft und der eigenen wie der fremden Grenzen.”
Und:
“Die Entwicklung des ich – wie die des nein-Sagens – reichen für sich allein lediglich aus, die eigenen Kräfte, Möglichkeiten, Grenzen abzuschätzen, und zu prüfen. Aber das genügt dem Kind nicht. Es will mehr; will erfahren, wie diese Grenzen geartet sind, wodurch sie bedingt, wie weit und wie eng oder wie leicht zu erreichen, womit die Grenzen des anderen, nämlich des Erwachsenen zu durchstoßen sind.”
Wie gesagt: ich finde diesen Gedanken hoch spannend. Allein, weil ich – und wahrscheinlich tun das viele Eltern da draußen – immer in dem Reflex unterwegs war zu denken, ich müsste alle Fragen beantworten, die mir Julius stellt. Wenn er mich dieser Tage etwa fragt, ob es Drachen gibt oder, ob sie aus Eiern schlüpfen, was Freundschaft bedeutet oder warum wir Milch trinken, wenn die doch eigentlich für die Kälber ist (ja, dieses Kind mutiert hier gerade aus eigenen Stücken zum Veganer, aber das ist ein anderes Thema).
Ich antwortete also und antworte und antworte oder sagte zumindest: “Das können wir ja mal nachschlagen.” Was ich aber selten tat, war mir und meinem Sohn einzugestehen, dass ich auf seine Fragen keine Antwort wüsste. Dabei, und das schreibt Bodenheimer sehr eindrücklich, ist genau das so wichtig zu erfahren für ein Kind: Dass die scheinbare Allmacht des Erwachsenen endlich ist.
“Nach einiger Zeit, da der Vater geduldig und beständig geantwortet hat, kann es entweder dazu kommen, dass der Vater explodiert und etwa dies von sich gibt: So hör doch schon endlich auf mit deiner Fragerei” Oder es geschieht, dass er die Achseln zuckt und bekennt: Jetzt weiß ich wirklich nicht mehr, was ich dir antworten soll. Das ist der Punkt, an dem Papa seine Grenzen gezeigt hat. Jetzt weiß das Kind, dieser Vater ist nicht unendlich groß.”
Ich beantworte insofern und dieser Tage nun nicht mehr zwanghaft alles, was das Kind als Frage an mich formuliert. Sicher verneine ich auch nicht ständig, eine Antwort zu wissen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen oder wie Rousseau – und das abschließend als Denkanstoß – schrieb:
“Erinnert euch, dass der Sinn meiner Erziehung nicht ist, dem Kinde vieles beizubringen […]. Wenn es gar nichts wüsste, läge mir wenig daran, wenn es sich nur täuscht […]. Fragt es [das Kind] euch, so antwortet nur so viel, wie nötig ist, seine Neugierde wachzuhalten, nicht aber, um sie zu befriedigen.”