Vom Humanismus und unserem (ganz eigenen) Bildungsweg

Das Thema Schule bzw. Lernen ist ja doch ein mich dieser Tage sehr einnehmendes Thema und so will ich heute daran anknüpfen, worüber ich vergangene Woche hier begonnen habe zu schreiben.

Unter euren Kommentaren zu diesem vor kurzem publizierten Post fand sich einer, der darauf abzielte, wie ich dazu stünde, wenn man Kinder abseits von Kita und Schule aufwachsen ließe. Und ich will so viel vorausschicken: Ich bin kein großer Fan davon, Kinder aus allem herauszunehmen und sich in einer persönlichen Utopie einzurichten, die am gesamtgesellschaftlichen Status quo vorbeiführt. Zumindest, wenn sich solche Utopien aus einem Argwohn gegen äußere Umstände und damit als Verbarrikadierung verstehen.

Aber:

Ich möchte mit meinem Kind gerne daran anknüpfen, was bereits mit der Französischen Revolution formuliert worden ist, in meinem Erleben dieser Tage aber ausgehöhlt wird: Das Humboldtsche Bildungsideal. Ein Ansatz, den Wilhelm von Humboldt vor mehr als zwei Jahrhunderten angedacht hat.

Nämlich so und wie es in diesem SWR-Feature benannt ist:

“Die Idee der Aufklärer bestand ja darin, durch Bildung aller Schichten, aller Stände erreichen zu können, die Gesellschaft zu verbessern – zum Positiven zu verändern.”

Und weiter:

Ein Postulat, dass selbst Bauernkinder erlauben sollte, nicht zweckorientiert und nicht im Sinne einer Berufsausbildung zu lernen, sondern in aller erster Linie darauf abzielte, zu durchdringen, was es heißt, Mensch zu sein. Was heißt es, für die Gesellschaft tätig zu sein. Was heißt es, für sein individuelles Wohlsein zu sorgen. Eine Idee, nach der es eine Zeit des Nachdenkens und der Muße wenigstens am Anfang des Lebens geben – ja, die in der Jugend allen Menschen ermöglicht sein sollte.

Wie ich mir das für uns vorstelle

Nun ist es ja so, dass diese in der Aufklärung formulierten Humboldtschen – respektive humanistischen – Ideale immer noch Teil der Curricula an Schulen und Universitäten – ja, scheinbar selbstverständlich in den Lehrplänen verankert sind, aber gleichsam – so mein Eindruck – von der Praxis in deutschen Klassenzimmern und Seminaren konterkariert werden.

Und zwar, weil in der Praxis genau ein Aspekt zu kurz kommt: Zeit.

Zeit für Müßiggang, Zeit für Leerlauf. Zeit fürs Denken und Sein. Zeit, zu reisen und zu entdecken. Vor allem: Zeit, Dinge zu tun, die abseits kollektiv angelegter Lehrpläne für einen selbst und ganz persönlich bedeutend sind.

Für die Gebrüder Humboldt müssen wir gewiss anderes annehmen und genau an dieser Stelle eröffnet sich dann gleichsam auch, woran ihr Ideal krankt: Nämlich, dass in unserer Gesellschaft bis heute und entgegen der hehren Vorhaben der Revolutionäre, keineswegs allen möglich ist, sich Zeit zu nehmen.

Weil Zeit zu haben, ein Privileg ist und das in unserer Industriegesellschaft vor allem jenen offen steht, die sich Zeit erkaufen können oder einfach qua Geburt und Sozialisation über so viele Mittel (und sei es in Form eines gewissen Bildungsniveaus- bzw. vorsprungs) verfügen, dass sie ihre Lebenszeit erst gar nicht gegen Lohnerwerb verkaufen müssen.

Ich will mir für uns Zeit nehmen.

Und wenn das bedeutet, dass ich für Julius nach einer Nische im bestehenden Schulsystem suchen muss, dann bin ich bereit dazu.

Die Rückstellung ist Teil dieses Ansatzes.

Unser Alltag ist schon heute darauf angelegt, so viel Zeit wie möglich fürs Miteinander und die schönen Dinge zu haben, und so wenig Zeit wie möglich für die vermeintlich obligatorischen Pflichtfelder Arbeit (und Kita) dreinzugeben.

Ich habe mir diesen Freiraum die vergangenen Jahre geschaffen und gewisser Weise versteht sich die Rückstellung nun als Fortsetzung dieses Prinzips, sich Zeit zu nehmen.

Ein weiteres Jahr als Geschenk und Raum fürs Entdecken

Wenn ich eines in meinem Sohn erkennen kann und für seinen Bildungsweg essenziell halte, dann sind es seine Begeisterungsfähigkeit und seine Neugierde.

Seine Neugierde, der Welt und den Menschen gegenüber. Sein Begehren, die Dinge durchdringen zu wollen. Sein unbändiger Wille, das Leben zu erfahren – und zwar in einem selbstgesteckten Rahmen, in seinem eigenen Tempo und seinem Wesen entsprechend.

Oder wie Humboldt es sagen würde:

„Bildung ist Selbstbildung, die keiner für einen anderen erbringen kann.”

In diesem Sinne folge ich dieser Tage genau dem, was Julius mir vorgibt. Im Moment sind Drachen hier ein großes Thema. Also stürzen wir uns knietief in diese Materie. Ich versuche mit ihm alles darüber zu lernen und zu erfahren, was es über Drachen zu wissen gibt. Wir lesen ausschließlich Bücher mit und über Drachen. Wir bauen Höhlen und planen Reisen etwa in Moorgebiete, weil Julius von letzteren annimmt, dass es dort eine ganz besondere Art Drachen gibt. Zuweilen verstecken sich jene Drachen aber auch im Park um die Ecke und hinter Falltüren, die nur er und seine besten Kitafreunde sehen (meint er). Ich höre zu und staune – immer wieder -, wieviel Potenzial doch die Phantasie dieses, meines Kindes hergibt.

Und weil ich ein paar Jahre älter bin als er und weiß, dass die Welt nicht hinter den Grenzen unserer Stadt aufhört, werde ich dieses zusätzliche Rückstellungs-Jahr auch fürs Reisen nutzen, im Kleinen wie im Großen.

Wir werden in den kommenden Monaten verlängerte Wochenenden nutzen, Freunde in Hamburg, an der Ostsee und in Irland zu besuchen. Ich will mit Julius wieder Fahrradtouren fahren und in die Berge zum Wandern losziehen. Im Sommer reist er mit seinem Vater nach Italien und besucht später seine Großmutter in Serbien für ein paar Wochen.

Und irgendwann am Ende dieses letzten Jahres vor seiner Einschulung schaffen wir hoffentlich auch, was ich schon lange plane: nur mit einem Rucksack für ein paar Monate in die Welt hinauszuziehen. Ich weiß noch nicht genau, ob es Südostasien oder doch Lateinamerika wird, wir am Ende vielleicht “nur” in einem alten Mercedes und einem Zelt auf dessen Dach in Osteuropa landen – aber ich habe den dringenden Verdacht, dass das eine wesentliche – ja, prägende Reise wird. Für mich wie für ihn.