Das Ich im Du: Gleichberechtigte Elternschaft mit vier Kindern

Ach, wir freuen uns wirklich für Tanja und Chris! Noch vor einigen Jahren haben die beiden von ihrer Weltreise bei uns erzählt, dann durften wir sie letztes Jahr zu Hause porträtieren und jetzt hat eines der coolsten Paare Berlins ein Buch herausgebracht! Für alle, die sich schon immer mal gefragt haben, wie die beiden das mit vier Kindern beziehungsmäßig so hingekommen und für alle, die mehr über sich als Paar, aber auch als Individuum lernen möchten, für die ist: Das Ich im Du.

Wir haben heute einen exklusiven Auszug aus dem Buch für euch, natürlich geht es um Gleichberechtigung, ihr kennt uns ja!

Gleichberechtigung: Lebt ihr auf Augenhöhe?

»Without justice, there can be no love.« Bell Hooks

In einer Paarbeziehung und insbesondere für Paare mit Kindern bedeutet Gleichberechtigung ganz praktisch, dass Care- und Beziehungsarbeit emotional und monetär (!) gleich wertgeschätzt werden wie Erwerbsarbeit. Und dass diese Wertschätzung finanziell gleichermaßen ausgedrückt wird! In keinem anderen Lebensbereich hat die Gesellschaft und das Wirtschaftssystem aktuell einen derart negativ prägenden Einfluss auf die persönlichen Beziehungen wie bei der Gleichberechtigung. Diese Konditionierung wirkt sehr tief, und das System macht es uns schwer, aus dieser auszusteigen. Wenn wir eine gleichberechtigte Beziehung leben wollen, können wir das nicht tun, wenn wir nicht zunächst den größeren politischen und wirtschaftlichen Rahmen untersuchen, in dem wir alle unsere Beziehungen leben »müssen«. Warum? Weil dieser Rahmen genau die begrenzenden Glaubenssätze über die Geschlechter und über Wohlstand sind, in denen wir alle aufgewachsen sind. Das Wasser, in dem wir schwimmen. Wie immer: Wir müssen uns ihrer bewusst werden und sie verstehen, bevor wir sie persönlich wandeln. Bevor wir gegen den Strom schwimmen können. Auf geht’s!

Gleichberechtigte Elternschaft mit vier Kindern: Wie haben wir das eigentlich hinbekommen?
Wir haben vier Kinder im Alter von zehn, sieben, vier und einem Jahr. Wir haben kein Erbe und keine übermäßigen Rücklagen. Wir haben keine Großeltern in Berlin, die uns unterstützen. Nur Chris’ Mama in Hamburg, die aber selbst noch Vollzeit beruflich tätig und dadurch viel unterwegs ist. Wir hatten nie ein Au-pair und keine Nanny (auch wenn wir uns das manchmal gewünscht hätten), nur ab und zu in unregelmäßigen Abständen Babysitter-Support. Wir haben alle Modelle durch. 100:0, 0:100, 50:50, 70:30, 30:70, 100:100.

Wir haben Care-Arbeit und Erwerbsarbeit in allen denkbaren Formen gelebt. Die meiste Zeit allerdings 50:50 bzw. Chris ca. 70 % hauptverantwortlich Care und 30 % Erwerb und ich etwa 30 % Care und hauptverantwortlich 70 % Erwerb. Chris hat mit dem zweiten Kind seine sichere Festanstellung als promovierter Maschinenbauingenieur bei einem großen Automobilkonzern in München gekündigt und ist dann in mein (Tanja) Start-up eingestiegen. Ab da hat er die meiste Care-Arbeit übernommen. Und ich habe bei jeder Schwangerschaft bis kurz vor der Geburt und gleich danach wieder gearbeitet. Wir haben nie vom Ehegattensplitting profitiert, und als Selbstständige mit Start-up habe ich bei den ersten zwei Kindern nur den Mindestsatz Elterngeld bekommen. Chris hat den Maximalsatz gekriegt und beim ersten Kind sechs Monate Elternzeit genommen und beim zweiten Kind zwölf Monate. Aus finanzieller Sicht hätte Chris weiterarbeiten müssen, weil er damals mehr verdiente. Aber so war es für uns die größte Form der Weiterentwicklung, auch wenn es uns sehr viel abverlangt hat. Persönlich wie finanziell.

Durch diese Aufteilung haben wir enorm viel gelernt, uns selbst erweitert und hatten die größte (zeitliche) Freiheit und maximal viel Nähe als Paar und Familie. Im Vergleich zu einer »klassischen Auf- teilung« gab es aber natürlich auch Nachteile: weniger Sicherheit und die Tatsache, auf manches aus unserem bisherigen Lebensstandard verzichten zu müssen. Aber das war es uns wert. Wir wollten möglichst viel Qualitätszeit als Familie verbringen. Wir bereuen nichts, außer dass wir dazwischen gezweifelt haben, unsere Prioritäten so gelegt zu haben. Wir haben viel über geschlechtsspezifische Sozialisierung, Klischees, wo unser Land steht und was es braucht, diskutiert und können unter anderem durch diese Aufteilungen und verschiedenen Rollen, die wir gelebt haben, heute verständnisvolle Beziehungs-Coaches sein. Es hat uns zwar häufig an die Grenzen der Belastbarkeit getrieben, und wir waren manchmal fix und fertig.

Wir wollten trotz allem Widerstand zeigen, dass es geht: eine gleich- berechtigte, erfüllte und erfolgreiche Familie sein. Hat es funktioniert und sich das Risiko gelohnt? Ja. Braucht das System eine große Veränderung? JA! Es ist wichtig zu betonen, dass wir dieses Risiko (wir nennen es gern Investment ins Beziehungskonto) nur deshalb eingehen konnten, weil wir beide eine sehr gute Ausbildung haben, weil wir Weiß sind, weil wir gut vernetzt sind und im Zweifel immer wissen, dass wir einen Job finden. Zusammengefasst: wegen unserer Privilegien. War es trotzdem sauanstrengend? Ja.

Im Folgenden möchten wir euch alles mitgeben, damit ihr euren eigenen Weg der Gleichberechtigung findet. Heute kommen so viele unzufriedene Paare mit kleinen Kindern zu uns in die Praxis und haben viele Fragen: Wie können wir gleichberechtigter leben? Wa-rum haben wir so viele Vorwürfe? Warum fehlt bei uns die Wertschätzung? Wenn die Kinder schon älter sind, spürt man häufig eine große Distanz zwischen den Paaren. Viele Frauen haben dann den Vorbehalt, sich für die Familie aufgegeben zu haben. Ihre Träume seit Jahren hintenangestellt zu haben. Sie sagen dann Sätze wie »Ich vermisse mich selbst«. Hier kommen unsere Lösungsvorschläge. Aber erst noch ein paar Fakten.

Wir sind gesellschaftlich nicht gleichberechtigt

Männer und Frauen sind gleichberechtigt, so steht es in Artikel 3 des Grundgesetzes. Gleichberechtigung bedeutet grundsätzlich, dass alle die gleichen Rahmenbedingungen und Chancen haben. Die gleichen Chancen, sie selbst zu sein, sich zu entwickeln und zu verwirklichen. Es geht um die Freiheit, das eigene Leben zu gestalten. Ohne dabei gegenüber anderen benachteiligt zu werden. Aber die Gesetzeswirk- lichkeit sieht anders aus:
Nur 8 % der Väter in Deutschland nehmen mehr als zwei Monate Elternzeit. Hingegen nehmen 98 % der Mütter weit mehr als zwei Monate Elternzeit. 66 % der Mütter arbeiten in Teilzeit, aber nur 7 % der Männer. Der Gender Care-Gap beträgt mehr als 50 %, oder anders gesagt: Frauen leisten mehr als doppelt so viele Stunden täglich an Care-Arbeit wie Männer, und das (meist) unbezahlt (!). Bei 34-Jährigen mit Kindern liegt diese Mehrarbeit von Frauen sogar bei 110 %! Der Gender Pay-Gap in Deutschland liegt bei 18 %. Nur 10 % der weiblichen CEOs, aber 80 % der männlichen CEOs in Deutschland haben Kinder. Frauen haben durch die Geburt einen bleibenden Einkommensverlust von 60 % – der von Männern liegt bei weniger als 10 %. Weltweit werden 75 % der unbezahlten Arbeit von Frauen verrichtet. Jede fünfte Frau ab 65 Jahren gilt als armutsgefährdet. 43 % der Ein-Eltern-Familien gelten als einkommensarm, wobei 90 % der Alleinerziehenden Frauen sind. Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland gemäß § 218 Strafgesetzbuch (StGB) nach wie vor grundsätzlich für alle Beteiligten strafbar. 80 % der Probleme in Partnerschaften werden durch Frauen angesprochen. Wenn ein Partner in der Beziehung mauert, also nicht über diese Probleme in der Beziehung reden will, dann sind das in 85 % der Fälle Männer.
Die genannten Zahlen drücken aus, wie ungleich diese Rahmenbedingungen für Männer und Frauen und generell Menschen sind. Wie unfair das System ist, wie patriarchalisch geprägt. Wie benachteiligend und alles andere als gleichberechtigt. Die Zahlen sind Ausdruck unserer begrenzenden gesellschaftlichen Glaubenssätze, in denen wir alle sozialisiert wurden. Die Zahlen sind zudem Ausdruck davon, was die gesellschaftliche Nummer 1 ist, nämlich wirtschaftliches Wachstum und eben nicht zwischenmenschliche Beziehungen und die dafür erforderliche Care-Arbeit.

 

“Das Ich im Du: Du hast dein Beziehungsglück selbst in der Hand. Der Ratgeber für eine gleichberechtigte und erfüllte Beziehung”. Von Tanja & Christian Roos. Erschienen im allegria Verlag.