21st Century Mom: “Aller guten Dinge…”

Wieso sagt man, dass aller guten Dinge drei sind? Wie viele Kinder hätte ich denn gerne? Weiß ich, wann genug ist und wo ist meine innere Stimme, die mich zur richtigen Entscheidung bringen wird? Wieso höre ich nichts? Diese Fragen kamen mir, als ich vor ein paar Monaten in unserem Bad auf dem Boden saß.

Heulend, während sich langsam ein zweiter Strich auf dem Schwangerschaftstest einfärbte. Anders als bei meinen beiden vorherigen Schwangerschaften stellte sich keine freudige Aufgeregtheit ein, mir war einfach schlecht und es fühlte sich alles zu viel an. In den kommenden Wochen erzählte ich kaum jemandem, dass ich schwanger bin. Rein rechnerisch war es ein Ding der Unmöglichkeit, dass ich es überhaupt war und vielleicht bin ich’s ja doch nicht, dachte ich. Vielleicht kann ich den Zustand noch eine Weile ignorieren und mir dann Gedanken machen, wie es weitergeht.

Vielleicht ist Verdrängung eine Option.

Es vergingen Tage und Wochen, in denen es mir mit der Situation kontinuierlich schlechter ging. Ich habe nicht wirklich mit anderen über meine Gefühle gesprochen. In meinem Kopf war die ganze Zeit, dass die Verkündung einer Schwangerschaft ein schöner Moment ist, den man Leuten glücklich erzählt und dann wird gratuliert. Ich war aber nicht glücklich. Ich wollte gedanklich keine Beziehung zu dem Leben in mir aufbauen. Immer, wenn ich daran denken musste, fühlte ich mich eingeengt, bedrängt und unter einem undefinierbaren Druck, dem ich gerne irgendwie entkommen wäre.

In dieser Zeit waberten in mir Glaubenssätze wie: „Verhüten ist so leicht, niemand muss ein Kind bekommen. Selbst schuld, wenn man so dumm ist. Das hast du jetzt davon. Andere würden sich freuen, wenn sie in deiner Situation wären. Du wirst dich schon daran gewöhnen. Daran wirst du zu Grunde gehen. Du schaffst das“. Die Sätze kreisten von morgens bis abends in mir. Ich aß sehr wenig, schlief viel und schaffte es kaum noch, mich um unsere beiden kleinen Kinder zu kümmern.

Mein Mann merkte, wie schlecht es mir ging und fing alles ab, so gut es ging. Meine Familie unterstützte uns und der Alltag floss so vor sich hin, aber mir ging es nicht besser. Es stellte sich über Wochen keine Freude über die Schwangerschaft ein. Ich fragte mich, ob das der Moment wäre, an dem ich über eine Abtreibung nachdenken sollte. Einige Zeit zuvor hatte eine Influencerin öffentlich gemacht, dass sie sich für eine Abtreibung entschieden hatte, da sie mit der Situation überfordert war und es ein „Unfall“ gewesen sei. Ich mag dieses Wort nicht. Unfall, das klingt nie gut, ungewollt und gleichzeitig entschuldigend und brutal. Kinder sind keine Unfälle, Situationen sind es aber manchmal schon. Unachtsamkeiten, Augenblicke, in denen man die Kontrolle über die Situation verliert und plötzlich ist alles anders.

Für Frauen hat das manchmal lebenslange Folgen.

Für sie bedeutet das vielleicht, dass sich ihr Leben körperlich, psychisch und seelisch für immer verändert. Sie müssen plötzlich Verantwortung für eine Situation tragen, die in keinem Verhältnis zur vorangegangenen Unachtsamkeit steht. Eine Freundin erzählte mir, wie sehr sie die Influencerin für ihre Entscheidung zur Abtreibung verachten würde. Als Mama kann ich sehr gut nachvollziehen, warum Frauen sich so entscheiden. Man kennt die Tragweite und die Folgen. Ab dem Moment der Schwangerschaft geraten Frauen in einen Zustand, der für sie körperlich, psychisch, emotional und finanziell starke Veränderung, meist Verschlechterung bedeuten kann, ganz zu schweigen von der mindestens temporären Abhängigkeit vom Partner. Ich verstehe, dass man sich in so einer Situation gegen ein Kind entscheidet.

Aber da ist eben auch die andere Seite. Man weiß als Mutter, was für ein wunderbarer, kleiner Mensch aus diesem Zellhaufen wird, für den man sich entschieden hat. Der willkürlich erscheinende Geburtstermin bekommt mit jedem Tag der Schwangerschaft mehr Gewicht und man fiebert auf einen Moment hin, der das eigene Leben auf eine unglaubliche Weise bereichern kann. Meine Mutter meinte immer zu mir „Am besten, du kommst gar nicht erst in die Situation, dich für oder gegen ein Kind entscheiden zu müssen“. Ich kann diesen Rat nachvollziehen, er hilft ein Problem zu lösen, das man besser gar nicht erst hat. Trotzdem kenne ich zu viele Menschen in meinem Umfeld, die in diese Situation geraten sind, so vermeidbar sie auch schien.
Nach einer Zeit des Grübelns raffte ich mich auf und ging zur Therapie. Dort wurde mir gesagt, dass ich mir im Kopf erlauben soll, das Kind nicht zu bekommen. Dieser erlaubnisgebende Gedanke half, aus diesem grauschwarzen Loch zu kommen, in dem ich mich seit dem zweiten blassen Strich auf dem Schwangerschaftstest befunden hatte.

Endlich ploppten neue Fragen in mir auf.

Allerdings waren auch diese zunächst überhaupt nicht freudig oder auch nur positiv. Würde ich den errechneten Geburtstermin jemals vergessen, wenn ich abtreiben würde? Wie wird es sich anfühlen, mich vielleicht irgendwann später doch noch für ein Kind zu entscheiden, in dem Wissen, dass ich dieses Kind aktiv nicht gewollt hatte? Kann ich damit leben, dieses Wesen niemals kennenzulernen? Alle diese Fragen brachten mich plötzlich, so dunkel sich die Situation emotional auch für mich anfühlte, zu einem klaren Wunsch und einer Erkenntnis: „Ich will dieses Kind, aber es geht mir gerade sehr, sehr schlecht.“ In meinem Kopf löste sich die Vorstellung, dass ich mit unserem Kind in einem Loch saß. Das Loch war weiter da, ich war auch noch mitten drin, aber mein Kind nicht.
Trotz der Entscheidung für das Kind war nicht alles wieder in Ordnung und ich musste mir Hilfe suchen. Ich begann, mit meinem älteren Sohn jeden Morgen ein paar Kilometer durch die Stadt zu laufen und über meine Ängste nachzudenken, während wir Müllautos und Krankenwägen beobachteten. Ich überlegte, was genau mich in meinen Gedanken an die Schwangerschaft und die Zeit nach der Geburt überforderte und was ich konkret dagegen tun könnte.

Mit meinem Arzt besprach ich, welche Optionen es für Medikamente gegen Depression in der Schwangerschaft und im Wochenbett gibt. Neben regelmäßiger Therapie und vielen Gesprächen in meinem Umfeld, suchte ich mir aber auch eine Beschäftigung, in der ich etwas Abstand zu der Situation und mir selbst schaffen konnte. In dieser Zeit bin ich über ein Lied von Tom Rosenthal gestolpert. Es heißt „Albert Camus“ und handelt von dem französischen Philosophen und Schriftsteller, der die Idee hatte, dass man sich von der Welt oder einer Sache manchmal entfremden muss, um sie richtig zu verstehen. Wenn es mir psychisch schlecht geht, neige ich dazu, mich über Wochen in irgendein Wissensgebiet reinzusteigern, und mich darin zu verlieren. Das war in diesem Fall Albert Camus und sein Schaffen. Ich las, dass er in Algerien aufgewachsen war. Sein Vater war gestorben, als er ein kleines Kind war, weswegen er von seiner Mutter großgezogen wurde, die wegen einer Hör- und Sprachbehinderung weder lesen noch schreiben konnte. Das alles hinderte den kleinen Albert aber nicht daran, über sich und seine Gedanken hinauszuwachsen und schließlich einer der größten Denker seiner Zeit zu werden. Das absolut Tollste an diesem Menschen fand ich mit einem Buch heraus, das 2021 erschien.

Es heißt „Schreib ohne Furcht und viel“ und ist eine knapp 1500-Seiten Sammlung von Liebesbriefen, die sich Albert Camus und Maria Casares zwischen 1944 und 1959 schrieben. Was in diesem Buch und auch in seiner ganzen Biografie so sichtbar wird, ist die Liebe und Loyalität zu seinen Mitmenschen, insbesondere den Frauen als Lebensmenschen in seinem Leben. Er unterstützte beispielsweise seine erste Frau, die ihn permanent betrogen hatte und stark opiumabhängig war, finanziell bis zu ihrem Tod. Man könnte sich ja auch leicht verstecken hinter der Erkenntnis, sich von seinem Leben entfremden zu müssen, um es richtig verstehen zu können. Diese Erkenntnis könnte eine Art Generalentschuldigung sein, sich aus der Verantwortung zu ziehen. Ich finde es faszinierend, dass Camus sich aber trotzdem oder gerade deshalb für das exakte Gegenteil entschied. Er war da, kümmerte sich, hörte zu, forderte Nähe ein und gab die Hoffnung auf eine Liebe und enge Verbindung zu anderen nie auf. Dass mir seine Entscheidung, sein Leben so führen zu wollen, knapp 100 Jahre später in meiner Situation half, finde ich so zufällig wie schön.

Manchmal führt Abstand eben nicht zu Entfremdung, sondern zu mehr Nähe.

Ich musste einige Wochen für mich sein, um zu begreifen, dass ich mich in dieser Situation zurecht finden kann. Ich brauchte Zeit, um diese Schwangerschaft anzunehmen und zu verarbeiten, so naheliegend das klingt, so schwierig fühlte es währenddessen an.

Natürlich ist Albert Camus kein Allheilmittel gegen eine depressive Erschöpfung, oder eine Antwort auf die große Frage, wie viele Kinder man bekommen möchte. Mir hat er mit seinen Einsichten über das Leben aber geholfen, mich zurecht zu finden. Familie und Kinder fühlen sich für mich seit Jahren nach permanenter Überforderung an. Ich habe inzwischen gelernt, dass das normal ist und dass es vielen Eltern so geht. Man strebt nicht den Zustand der absoluten Kontrolle über sein Leben an und bekommt deswegen Kinder. Die Überforderung, das Chaos, die permanente Anspannung sind elementarer Bestandteil dieser wundervollen Erfahrung namens Familie – und trotzdem kann öfter alles viel zu viel sein.

Wenn man das so gut weiß, wie Eltern es eben wissen, dann ist, anders als in irgendwelchen Filmen oder Serien, eine Schwangerschaft eben nicht immer die großartige Nachricht, die alle jubeln lässt. Und wenn man am neu entstehenden Leben im eigenen Bauch zweifelt oder verzweifelt, dann gibt es nicht unbedingt die eine, einzelne Sache, die alles verändert und besser macht. Bei mir war es nicht nur Camus, sondern ein Prozess, länger, dunkler und komplizierter, als er in eine Kolumne passen würde.

Glücklicherweise leben wir in einem Land, in dem es die Option gibt, sich bis zur 12. Woche gegen das Austragen eines Kindes entscheiden zu können. Obwohl für mich inzwischen klar ist, dass ich mich richtig entschieden habe, sind mir Menschen, die sich in so einer Situation gegen das Kind entscheiden, durch die letzten Wochen so nah wie nie zuvor. All diese erdrückenden Gedanken rund um Kinder gehören für mich zum Familienleben und der Entscheidung für oder gegen ein Kind dazu. Ich sehe so viele wunderschöne Babyshower-Torten und Ballons und glückliche, werdende Eltern, die mit Freudentränen in Kameras lachen. Aber ich glaube, es wäre gut, wenn Zweifel, Sorgen und Ängste um dieses Thema genau so normal werden würden. Ungefähr so, wie es inzwischen zum Glück viel alltäglicher geworden ist, offen über psychische Probleme zu sprechen.

Ich freue mich riesig auf dieses Baby, auf unseren dritten Sohn, und dass ich Angst vor der Situation hatte und manchmal noch immer habe, lässt mich nicht an meiner Liebe für mein Kind zweifeln. Ich habe mit dieser Schwangerschaft zum ersten Mal das Gefühl, mich mit der Möglichkeit einer Abtreibung bewusst und aktiv auseinandergesetzt zu haben und für mich die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Das ist nach vielen anstrengenden Monaten zur Abwechslung mal ein wirklich, wirklich gutes Gefühl.