„Liebe Inke… Haben wir alles falsch gemacht?“

Hurra! Wir haben eine neue Rubrik. ERZIEHUNG. Also, das Leben mit Kindern eben. Beziehung, Erziehung, Regeln, Normen, Werte – in der Theorie wissen wir ja alle, wie das gehen soll, in der Praxis kommt es oft zu Konflikten. Und zwar in wirklich fast allen Familien. Und eben diesen Konflikten und den Fragen, die diese aufwerfen, bieten wir nun zusammen mit Inke Hummel Raum.

Inke Hummel ist Pädagogin, sie hat viele Bücher geschrieben (unter anderem „Mein wunderbares schüchternes Kind“ und „Nicht zu streng, nicht zu eng“) und sie bietet Eltern als Familienbegleiterin, Erziehungsberaterin und pädagogischer Coach Hilfe an. Was wir lieben: Sie will nicht belehren, sondern unterstützen. Dabei, gelassener und beziehungsstärker mit den Kindern zu leben. Einfühlsam und alltagsnah gibt sie Impulse und öffnet neue Blickwinkel, um die Eltern-Kind-Bindungen zu intensivieren. Und nun hilft Inke EUCH. Hoffentlich! Ihr dürft ihr jeden Monat eine Frage stellen oder eine Situation schildern, die euch Bauchweh bereitet. Diese Woche fangen wir an. Mit einer Frage, die sicher viele nachvollziehen können. Mir zumindest kam sie gleich ziemlich bekannt vor.

Schreibt uns gerne eure Frage, Situation, euer Problem an hello@littleyears.de – die Fragen werden natürlich anonymisiert veröffentlicht!

„Liebe Inke… Unsere Kinder sind 8 und 5 Jahre alt. Wir haben ganz am Anfang, als die Kinder klein waren, viel Jesper Juul gelesen, auch Renz-Polster, eben die Klassiker. Da mein Mann und ich ziemlich mit Autorität erzogen wurden, waren wir uns einig, dass wir es anders machen wollen.

In den letzten Jahren habe ich aber immer wieder gemerkt, dass es aus dem Ruder läuft, mein Mann und ich streiten oft wegen Erziehung, er findet, man muss strenger sein, ich versuche, es nicht mit Strenge zu machen.
Unsere Kinder sind total launisch, lassen ihre Gefühle viel raus. Sie haben immer noch oft Wutanfälle und es gibt im Alltag sehr oft Situationen, wo ich auch denke:

Wir haben alles falsch gemacht, die benehmen sich unmöglich.

Beispiel Essen. Wir haben immer das Problem, dass die Kinder nach Schule und Kita verhungert sind. Sie haben zwischen 16 und 17 Uhr einen Bärenhunger, wir gehen ihnen Snacks, Obst – dann kommen wir in den Stress mit dem Kochen. So oft schnappen sie sich eine Waffel, einen Keks, wenn einer von uns gerade kocht und dann gibt es immer Streit, weil das ja auch irgendwie respektlos ist, es gibt ja schließlich gleich Essen!

Beim Essen selbst schlingt das eine Kind (Wir haben Tischmanieren besprochen, leben es vor, aber es wirkt einfach nicht), das andere mümmelt herum. Beide Kinder sind keine guten Esser, oft beginnt das Abendessen mit „BÄÄHHH, eklig“. Selten bleiben sie sitzen, noch seltener entsteht eine Konversation, meist steht mindestens ein Kind einfach auf, manchmal kriecht ein anderes sogar unter den Tisch. Es ist fast immer schlechte Stimmung, mein Mann und ich sind gestresst. Dabei ist uns dieser Moment eigentlich total wichtig und wir würden so gerne schön zusammen essen jeden Abend. Es geht auch immer noch viel um „Nicht diese Wurst, ich mag nur diese!“ Und „Ich will den blauen Teller und den gelben Becher“, Diskussionen, von denen ich dachte, die hat man nur mit 2-Jährigen.

Auch beim ins Bett gehen kommt es immer wieder zu Stress, die Kinder rennen regelmäßig weg, wenn es ans Zähne putzen geht und machen dann fast ein Spiel daraus, einer von uns beiden Eltern flippt fast immer aus.

Mein Mann macht mittlerweile mich und meine verständnisvolle Erziehung verantwortlich für unsere Situation, was natürlich zu weiteren Konflikten führt. Er meint, man muss konsequent sein, jedes schlechte Verhalten der Kinder sofort ansprechen und ahnden. Er arbeitet mittlerweile auch mit Drohungen und Strafen, schimpft viel, erklärt lang und breit, wenn etwas falsch gelaufen ist. Unsere Kinder sind so autonom und selbstbewusst, dass sie das nicht annehmen, nicht zuhören, dass auch Strafen nichts bringen, sie machen einfach weiter. Erst wenn er richtig laut wird und mit Fernsehverbot, etc. droht, dann machen sie mit. Für ihn ein Beweis, dass es so gut funktioniert.

Ich habe oft das Gefühl, dass wir kleine Tyrannen erzogen haben, die uns den ganzen Tag auf der Nase herumtanzen. Ich bin hin- und hergerissen, zwischen ruhig und auf Augenhöhe bleiben und man muss strenger sein, die Kinder behandeln  uns so respektlos, sie schreien uns an, etc. Haben wir alles falsch gemacht?”

Das rät Inke:

Das klingt nach einigen herausfordernden Situationen im Alltag, sowohl mit den Kindern als auch zwischen euch als Paar. Das Gute ist: Ihr seid damit nicht allein.
Viele Eltern kämpfen damit, dass es schwierig ist, Kinder ohne alte Methoden wie Beschämen oder Ängstigen an Regeln zu gewöhnen.
Und viele Elternpaare geraten darüber in Streit, wie streng oder liebevoll der Umgang mit den Kindern sein sollte.
Vielleicht ist dir das ein erster, kleiner Trost. Wir sind in Deutschland auf einem guten Weg und viele Menschen sehen grundsätzlich, dass Kinder es verdient haben, genauso respektvoll behandelt zu werden, wie Erwachsene.

Aber das WIE ist im Alltag dann doch oft sehr herausfordernd.

In „Nicht zu streng, nicht zu eng: Dein sicherer Weg zwischen Schimpfen und falschem Verwöhnen“ schreibe ich genau über dieses Problem. Denn allzu leicht wird aus einem „Ich möchte mit meinem Kind liebevoll umgehen.“ eine konfliktscheue Unklarheit. Und wenn das Kinderverhalten dann mehr und mehr stresst, wird bei dem Gedanken „Das mit dem liebevollen Umgang klappt wohl nicht.“ der Rückwärtsgang eingelegt: Dann kann es ja nur mit Strafen und kühler Härte funktionieren. Diese Methoden kommen beispielsweise von Maaß, Winterhoff & Co., die Begriffe wie „Generation lebensunfähig“ und „Tyrannenkinder“ etabliert haben. Doch da fehlt der echte Mittelweg: Nicht zu streng und nicht zu eng. Nicht eiskalt und ohne Mitgefühl, aber auch nicht überfürsorglich-verwöhnend.

Was heißt das für eure Alltagskonflikte am Esstisch?
Wenn ich den Bericht über eure Essenssituationen lese, habe ich den Eindruck, ihr seid selbst unsicher und habt erst einmal nur eine Idee im Kopf, wie es sein soll: ein bisschen wie in der Werbung. Fröhlich glucksend probieren Kinder alles, was auf dem Tisch steht, während die Eltern sich über den Tag unterhalten und ab und zu einen Funfact vom Schultag erfahren – überspitzt gesagt. Das Problem daran ist, dass diese Vorstellung zu viele Ziele beinhaltet:
Ihr möchtet, dass die Kinder dann essen, wenn ihr Zeit hattet zu kochen, nicht wenn sie hungrig sind.
Ihr möchtet, dass sie eine warme Mahlzeit essen, keine Snacks.
Ihr möchtet, dass sie eure Arbeit respektieren.
Ihr möchtet, dass die Kinder so essen, dass es den anderen am Tisch nicht unangenehm ist.
Ihr möchtet, dass die Kinder sich höflich äußern, wenn ihnen etwas nicht schmeckt.
Ihr möchtet als Paar und Familie gern gemeinsam am Tisch sitzen, essen und reden.
Ihr möchtet, dass die Kinder nicht so viel über Teller & Co. diskutieren.
Ihr möchtet die Probleme rasch lösen.
Das ist ziemlich viel für eine tägliche Situation mit vier Personen, von denen zwei Kinder sind.

Ich rate euch zu klären, was davon eure wichtigsten Ziele sind, und danach die Abendessensituation neu zu gestalten.
Das kann dann in jeder Familie ganz unterschiedlich aussehen.
Wenn eure Kinder warm essen sollen, müsst ihr vielleicht abends vorkochen, um gleich nach dem Kindergarten ein entsprechendes Angebot zu haben.
Wenn ihr möchtet, dass sie eure Mühe mehr respektieren sollen, bezieht sie mit ein ins planen, einkaufen, kochen und bleibt unermüdlich dran, sie mitfühlen zu lassen, wie es ist, für diese Arbeit keine Wertschätzung zu bekommen. Das kann gut funktionieren, wenn ihr einfach bei euch bleibt: „Ich fühle mich dann…“ Und wenn ihr eurem Kind Zutrauen vermittelt: „Wenn du so redest, wirkt es, als seien dir andere Menschen egal. Aber das glaube ich gar nicht. Du bist so ein lieber Mensch, der sich gern um andere bemüht.“ Es wird aber dauern.
Wenn beim Essen viel Erziehung hinsichtlich von Tischmanieren stattfinden soll, lohnt sich das Essen zu zweit: Bezugsperson und Kind. Dann könnt ihr zugewandt und auch mal lustig über Schmatzen & Co. sprechen.
Wenn ihr als Paar in Ruhe beim Essen über euren Tag sprechen möchtet, esst getrennt von den Kindern und ladet euch nicht noch parallel ihre Erziehung auf.
Wenn die Kinder euch zu viel über das Geschirr oder ähnliches diskutieren, übergebt ihnen Verantwortung: decken, abspülen, Einkäufe notieren…
Oder, oder, oder. Es sind viele individuelle Wege möglich, die dann auch nicht für immer in Stein gemeißelt sind. Aber vielleicht ist jetzt gerade eine Variante die beste für euch und eure Ziele, die nicht dem Klischee aus der Werbung entspricht. Und mit jedem einzelnen erreichten Ziel kann es nach und nach dahinkommen, dass ihr irgendwann recht oft recht fröhlich gemeinsam kocht und esst.

Und was heißt das grundsätzlich für eure erzieherische Haltung?
Es lässt sich kurz zusammenfassen: Ihr seid für das passende Setting verantwortlich sowie für die richtige Begleitung. Gerade hören eure Kinder vor allem, was sie lassen sollen. Sie hören auch, was von ihnen erwartet wird. Aber sie bekommen zu wenig Begleitung darin, wie sie diese Ziele erreichen können. Und sie spüren zu wenig Zutrauen, dass ihr sie und ihre Fähigkeiten auch entsprechend einschätzt.

Wenn ihr sie lange liebevoll, aber zu unklar begleitet habt, kann es sein, dass sie deshalb oft über Tische und Bänke gehen. Dass der Vater das zum Vorwurf macht und daraus schließt, jetzt müsse euer Erziehungsverhalten ins Gegenteil kippen, ist deshalb trotzdem nicht fair und nicht hilfreich.

Die Zukunft zählt:
Was macht ihr ab jetzt?
Was sind die Ziele?
Wie helft ihr euren Kindern dorthin?

Um eine gemeinsame erzieherische Haltung zu entwickeln, die möglichst bedürfnis- und beziehungsorientiert ist und damit den aktuellen pädagogischen Erkenntnissen für die bestmögliche Begleitung von Kindern entspricht, kann es euch helfen…
…viel entwicklungspsychologisches Wissen über Kinder zu erwerben: Was könnt ihr ihnen wann zutrauen?
…die eigene erzieherische Haltung zu festigen – zum Beispiel durch Arbeit mit meinem Buch.
…Gespräche darüber zu führen, wie euer Weg aussehen soll und wie nicht. Ein guter Einstieg ist immer zu versuchen, den anderen zu verstehen anstatt ihn oder sie zu kritisieren.

„Was versprichst du dir davon?“ ist eine hilfreiche Frage, um dann zu beleuchten, ob eine erzieherische Methode tatsächlich hilfreich ist oder nicht. Schimpfen und Strafen zeigen dem Kind eben beispielsweise nicht, wie es etwas anders machen kann, sondern vornehmlich „Meine Eltern haben Macht über mich.“ Wenn sich ein Kind dann fügt, liegt es daran, dass es auf der Hut ist oder sich genötigt fühlt, nicht daran, dass es verstanden und gesund gelernt hat.

Hoffentlich helfen euch diese Impulse weiter. Alles Liebe, Inke

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Außerdem war sie schon in vielen Podcasts zu Gast, zum Beispiel bei “Elterngedöns“, “Das gewünschtes Wunschkind” und “Eltern ohne Filter“.

Foto: Benjamin Jenak, Veto Magazin