Let’s talk about: Wenn das Kind vor den Eltern geht…

Wenn mich jemand fragt, was das Schlimmste wäre, was mir passieren könnte, dann würde meine Antwort lauten: wenn ich eines meiner Kinder verliere. Vermutlich würden die meisten Mütter oder Väter eine ähnliche Antwort geben. Kinder dürfen einfach nicht vor den Eltern gehen. Das ist ein Naturgesetz. Und doch widersetzt sich das Schicksal – aus welchen Gründen auch immer – manchmal gegen dieses ungeschriebene Gesetz. Sei es ein Unfall, ein Suizid – oder eine Krankheit. Wie im Fall von Jana. Die 48-Jährige hat vor fünf Jahren ihre damals zwölfjährige Tochter verloren. Sie hatte Leukämie. Eine nicht zu beschreibende Trauer hat Jana danach förmlich umgehauen und trotzdem kann sie heute wieder sagen: Das Leben hat auch schöne Seiten...

Wie Jana aus diesem Schmerz herausgefunden hat, ohne zu zerbrechen; was ihr dabei am meisten geholfen hat; wie ihre Partnerschaft diesen Schicksalsschlag überstanden hat und wie sie heute an ihre Tochter denkt – all das erzählt sie uns im Interview. Anhand ihrer Geschichte wollen wir zeigen, dass der Verlust eines Kindes den schlimmstmöglichen Einschnitt im Leben bedeutet – aber dass das Leben danach auch weitergehen kann. Dass man es sogar wieder genießen kann, wieder lachen kann – selbst wenn einen die Trauer ein Leben lang begleiten wird.
(Jana heißt eigentlich nicht Jana. Für sie war es aber schon ein großer Schritt ihre Geschichte zu erzählen – sich komplett sichtbar machen, wollte sie nicht. Und das respektieren wir!)

Liebe Jana, ich starte gleich mit einer schweren Frage: Wenn dich jemand fragt, wie viele Kinder du hast, wie lautet deine Antwort?
Ach Mensch, da kommen mir gleich bei Frage eins die Tränen… Ich hatte da einen Schlüsselmoment: Ich gehe regelmäßig mit zwei Freundinnen frühstücken. Und einmal war eine Frau dabei, die kannte ich nicht und sie stellte mir natürlich die üblichen Fragen: „Was machst du? Wie alt bist du? Wie viele Kinder hast du?“ Darauf konnte ich gar nichts sagen, weil mir gleich die Tränen hochschossen. Ich bin dann erst mal aufs Klo und hab nur schnell gesagt, dass meine Freundin ihr die Sache erklären wird. Kurzum: wenn mir diese Frage von Fremden gestellt wird, muss ich immer weinen. Zum Glück war bisher immer jemand dabei, der die Frage für mich beantworten konnte. Ich schaffe das noch nicht. Aber meine Antwort würde natürlich lauten: Ich habe drei Kinder!

Euch ist 2016 das Schlimmste passiert, was Eltern passieren kann: Ihr habt ein Kind verloren… Magst du kurz umreißen, wie es dazu kam?
Unsere Tochter bekam mit acht Jahren die Diagnose Leukämie gestellt. Das war am 14. Februar 2012. Und auf den Tag genau vier Jahre später ist sie gestorben. Am Valentinstag. Da war sie zwölf.

Oh Mann, vier Jahre habt ihr gekämpft… Erinnerst du dich noch an den 14. Februar 2016 – oder liegt der wie im Nebel?
Ich erinnere den Tag noch gut. Sie ist daheim bei uns im Wohnzimmer gestorben… Mehr kann ich dazu nicht sagen. Das fällt mir zu schwer. Wir wussten schon seit November 2015, dass die Ärzte nichts mehr für sie tun können. Wir haben sie also irgendwann heim geholt. Gesagt haben wir ihr aber nichts. Damit wollten wir sie nicht belasten. Und obwohl wir wussten, was auf uns zukommt, war es so hart. Unglaublich hart. Als es dann passiert war, hab ich nochmal ganz lange an ihr gerochen… So als wolle ich sie und ihren Geruch in mir konservieren.

Wie verlief das erste Jahr nach ihrem Tod?
Das war einfach Scheiße. Ich hab sehr viel geweint. Zum Glück musste ich nicht auf Arbeit. Und meine große Tochter war bereits 14 und relativ selbstständig… Ich war also nicht gezwungen, zu funktionieren, sondern konnte trauern… Und dennoch, die Psyche schützt sich ja irgendwie selbst, dass man nicht kaputt geht: Ich hab teilweise wirklich verdrängt, dass meine Tochter nicht mehr wiederkommt. Hab an manchen Tagen gedacht, sie sei in der Schule. Mit ihrer großen Schwester. Und beide kommen nachmittags wieder… So geht’s mir zum Teil auch heute noch.

Haben du und dein Partner unterschiedlich getrauert – jeder für sich oder gemeinsam?
Das hat jeder für sich verarbeitet. Ich bin eher ein Typ Mensch, der vieles mit sich selbst ausmacht. Mein Partner ist da aber ähnlich.

Hast du in der Zeit Hilfe aber bei einem Therapeuten gesucht?
Nein. Wie hätte der mir auch helfen sollen? Ich hätte nicht gewusst, was mir ein Therapeut hätte Tröstendes sagen können… Mich hätte nichts getröstet. Und meinen größten Wunsch hätte auch er mir nicht erfüllen können – nämlich, das ich mein Kind zurück bekomme. Aber mir ist absolut bewusst, dass das meine Art zu denken ist. Ich kenne Frauen mit ähnlichen Schicksalen, denen hat eine Therapie wirklich etwas gebracht. Aber man muss einfach der Typ dafür sein.

Hast du mit irgendwem geredet?
Was verstehst du unter „darüber reden“…? Ich hatte wirklich keinen großen Redebedarf, ich war einfach traurig. Und klar war da auch mein Partner an meiner Seite. Denn der hat noch am ehesten verstanden, wie es mir geht. Weil es ihm ja genauso ging. Aber wir haben uns da eher ohne viele Worte Trost geschenkt. Haben auch mal zusammen geweint. Und ab und an habe ich mich mit einer Mutter ausgetauscht, der Ähnliches passiert ist. Die hatte ich im Krankenhaus kennengelernt.

Was hat dir noch geholfen in der Zeit?
Komischerweise habe ich mich immer etwas besser gefühlt, wenn ich auf dem Friedhof war. An manchen Tagen bin ich da fünfmal hingerannt. Dort hab ich mich meinem Kind nah gefühlt. Und dort wurde ich ruhig… Und was mir auch gut getan hat – schon während der Zeit, als meine Tochter krank war – ich hab angefangen, Tagebuch zu schreiben. Sich alles von der Seele zu schreiben, das hat mir sehr geholfen. Gelesen habe ich die Aufzeichnungen aber bis heute nicht… Das konnte ich bisher nicht.

Wie ist eigentlich euer Umfeld mit euch umgegangen? Mit Trost oder mit Unsicherheit?
Ganz unterschiedlich. Aber zurückgezogen hat sich keiner. Die meisten waren schon sehr lieb.
Was ich damals aber wirklich kaum ertragen habe, war der Spruch: „Ich wünsch dir viel Kraft“. Natürlich war der gut gemeint – aber ich hätte jedes Mal losschreien können, wenn irgendwer diesen Satz zu mir sagt. Viel mehr haben mir die kleinen Gesten geholfen. Wenn mich jemand angeschaut und einfach verständnisvoll genickt hat. Oder meine Hand gedrückt hat… Also die wortlosen Gesten, die zeigen: „Ich fühl mit dir mit!“. Die haben mir am besten getan.

Was denkst du, wann war der Moment, als du wahrgenommen hast, dass es ein bisschen leichter wird, ein bisschen weniger weh tut?
Puh, das kann ich gar nicht sagen… Vermutlich kam das mit meiner erneuten Schwangerschaft. Irgendwie hab ich mir eingeredet, die Seele meiner Tochter sei in das Baby gewandert. Das klingt vielleicht absurd, aber mir hat der Gedanke damals unglaublich geholfen. Das war meine Strategie, um über den Verlust hinwegzukommen.

Das bedeutet, euren Sohn hätte es ohne den Verlust deiner Tochter nicht gegeben…
Da bin ich mir zu 100 Prozent sicher. Wir hätten kein drittes Kind bekommen. Für mich war die Schwangerschaft damals der beste Trost, um über den Verlust meiner Tochter hinwegzukommen. Heute, fünf Jahre später, kann ich aber sagen, dass mein Sohn so viel mehr ist als nur ein „Trostpflaster“. Er ist ein eigenständiger großer Glücksfall und wir sind so froh, dass wir ihn haben.

Du warst aber anfangs nicht glücklich, als es hieß, es wird ein Junge, oder?
Ja, das stimmt. Ich wollte lieber ein Mädchen. Im Nachinein denke ich, für mich und für das Kind ist es viel besser, dass es ein Junge geworden ist. Weil ich sonst zu viele Vergleiche gezogen hätte. Aber in manchen Verhaltensweisen von ihm sehe schon meine Tochter. Zum Beispiel, wenn er tanzt…  das ist schön.

Weiß er von seiner mittleren Schwester?
Ja, darum haben wir nie ein Geheimnis gemacht. Ich gehe ja auch regelmäßig mit ihm zum Friedhof und da gießen wir zusammen die Blümchen. Er weiß also, dass sie nicht mehr lebt und dass sie ein ganz lieber Mensch war. Aber so richtig fassen kann er den Gedanken vermutlich noch nicht.

Was war sie für ein Mädchen?
Sie war ein richtiges Mädchen Mädchen. Ganz anders als ihre große Schwester. Sie liebte ihre Puppen, frisierte sie gern. Hat viel gebastelt… Sie trug gern Röcke und Haarspangen… Und sie war sehr aufmerksam und total empathisch. Wenn man da in einem Nebensatz mal gesagt hat, dass man blaue Blumen liebt, hat sie einem zum Geburtstag blaue Blumen geschenkt. Weil sie sich das gemerkt hatte.

Das Leben geht ja trotzdem weiter. Was hat dich angetrieben, weiterzumachen, weiterzuleben? Also was hat dich morgens aus dem Bett kommen lassen?
Natürlich meine große Tochter. Auch mein Vater, der hier bei uns lebt. Und ich hab trotz allem versucht, mich an den kleinen Dingen zu erfreuen. An meinen Blumen im Garten, an einem guten Buch, einem guten Film… Und dann, nach ein paar Monaten, war ich ja wieder schwanger. Und darauf lag dann natürlich auch mein Fokus.

Wann wurdest du denn wieder schwanger?
Im Februar ist meine Tochter gestorben. Im September war ich wieder schwanger. Davor haben wir aber nochmal einen Arzt konsultiert, um zu klären, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass mein drittes Kind auch Leukämie bekommt. Der beruhigte uns aber und sagte, das sei sehr unwahrscheinlich. Und dann bin ich noch zum Frauenarzt, um zu klären, ob eine Schwangerschaft noch infrage käme. Ich war ja zu der Zeit schon Mitte 40. Aber auch der gab grünes Licht. Und nach dem ersten Versuch war ich dann schon schwanger. Wie auch bei allen beiden Kindern zuvor. Was das betrifft, hatten wir immer Glück.

Erinnerst du dich, wann du das erste Mal nach dem Tod deines Kindes wieder gelacht hast? Also, wann hast du dir wieder Freude und Leichtigkeit erlaubt? Und wie hat sich das angefühlt?
Den genauen Moment weiß ich nicht mehr. Aber irgendwann konnte ich wieder lachen – obwohl ich nie für möglich gehalten hätte, dass das wieder gehen wird. Doch es ist tatsächlich so: der Mensch ist ein Überlebenstier. Und die Zeit heilt Wunden. Ich komme heute also besser mit dem Verlust klar – die Wunde ist also nicht mehr so tief. Aber komplett verheilen wird sie nie.

Hinter dir lag ja nicht nur dieser Verlust, sondern auch vier Jahre der aufopferungsvollen Pflege, des Bangens und des Hoffens…
Das stimmt. Aber in der Zeit habe ich das nicht so betrachtet. Wir wussten ja nicht, was da auf uns zukommt. Natürlich war die Diagnose blöd. Aber es hieß ja immer, die Heilungschancen seien sehr sehr gut. Und daran habe ich mich bis zum Schluss festgehalten. Erst im November 2015 hab ich realisiert, dass die Ärzte mein Kind nicht mehr retten können.

Andere Elternpaare zerbrechen unter so einer Last – du und dein Lebensgefährte, ihr seid nach wie vor zusammen. Wie ist euch das gelungen?
Ja, das stimmt. Da kenne ich auch einige Beispiele… Wie wir das geschafft haben, kann ich nicht konkret sagen. Durch Gespräche war es zumindest nicht. Sich zu trennen stand einfach nie zur Debatte. Das wäre keinem von uns in den Sinn gekommen.

Hast du den Eindruck, dieser Schicksalsschlag hat euch noch enger zusammengeschweißt?
Ach, das würde ich nicht sagen. Wir waren vorher fest verbunden und sind es genauso heute noch.

Hattest du mal den Gedanken, ich kann in diesem Haus nicht mehr wohnen?
Nein, das hatte ich nie. Im Gegenteil. Dazu bin ich hier auch zu sehr verwurzelt.

Und was hast du mit den Sachen deiner Tochter gemacht?
Die Dinge, die mir besonders viel bedeuten, hab ich in eine Kiste gepackt. Aber in die konnte ich bis heute nicht reinschauen. Und die anderen habe ich meinen Cousinen geschenkt, die haben auch Töchter. Klamotten und Spielzeug von ihr zu verkaufen oder wegzuschmeißen, das hätte ich nicht übers Herz gebracht. Und ihre liebsten Kuscheltiere haben wir ihr mit in den Sarg gelegt.

Würdest du sagen, der Verlust hat dich irgendwie verändert? Oder bist du annähernd wieder die alte Jana?
Nein, und das werde ich vermutlich auch nie wieder. Ich bin heute viel näher am Wasser gebaut und bin viel sensibler und emotionaler. So war ich früher nicht. Mich hat zum Beispiel mal mein Chef wegen einer Kleinigkeit kritisiert, da kamen mir sofort die Tränen… So kannte ich mich früher nicht.

Wie ist eure Tochter in eurem Leben noch präsent? Feiert ihr ihren Geburtstag?
Wir reden oft von ihr. Und ich denke sehr viel an sie. Und hier hängen auch noch Bilder von ihr. Aber ihren Geburtstag feiern wir nicht. Das fiele mir zu schwer. Mein Partner wollte auch gern auf die Malediven fliegen. Denn das war immer unser Ziel. Wenn sie wieder gesund ist, fliegen wir alle auf die Malediven. Aber sie ist ja nicht gesund geworden, deshalb käme es mir falsch vor, diese Reise ohne sie zu machen.

Ihr habt noch eine große Tochter. Wie ist sie mit dem Verlust umgegangen?
Unsere große Tochter ist mir sehr ähnlich. Die macht auch viel mit sich aus. Nach dem Tod ihrer Schwester ging sie erstmal nicht zur Schule und war jeden Tag bei einer anderen Freundin, die dann auch daheim blieben. Das fand ich sehr schön. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass sie mit mir darüber reden möchte. Ich glaube, bei ihren Freundinnen fiel ihr das leichter. Zumindest hat sie mir gesagt, dass sie da auch mal geweint hat. Das hat mich beruhigt.

Denkst du manchmal: Meine Tochter wäre heute soundso alt. Was würde sie jetzt wohl tun, denken oder sagen?
Ja, solche Gedanken habe ich. Dieses Jahr wäre sie ja 18 geworden. Da überlege ich schon manchmal, wo wir ihren Geburtstag gefeiert hätten; ob sie schon einen Freund gehabt hätte und wenn ja, was für einen; was sie zum Abschlussball angezogen hätte… Solche Sachen gehen mir da durch den Kopf. Und irgendwie hilft mir das. Ich hab so das Gefühl, sie ist mir noch ganz nah…

Liebe Jana, hab ganz ganz vielen Dank für deine Offenheit! Dir und deiner Familie wünsche ich alles Beste der Welt!

Titelfoto: Julia Kadel