“Pass auf!” – Wie Ängste unsere Erziehung bestimmen
Eine kluge Freundin sagte vor Jahren einmal zu mir: “Es gibt Leute, die pflegen ihre Ängste.” Dieser Satz hat mich seitdem beschäftigt wie kaum ein anderer. In den verschiedensten Szenarien musste ich immer wieder an ihn und unser Gespräch in New York City denken. Und wenn so eine Aussage von einer Frau kommt, die es durch schiere Willenskraft schaffte, ihre Panikattacken zu überwinden, trägt er gleich viel mehr Gewichtung. Anstatt sich ihren Ängsten zu ergeben, stellte sie sich ihnen ganz bewusst. Sie hat meinen größten Respekt dafür. Denn ja, wie gesagt, es gibt eben so viele Leute, die ihre Ängste pflegen.
Sich selbst im Weg stehen
Im Dunkeln kein Auto fahren, die Autobahn meiden, nicht in ein Flugzeug steigen, nicht Fahrstuhl fahren, Angst vor Höhen, Angst vor Hunden, Angst vor Wasser. In meiner Familie und meinem Freundes- und Bekanntenkreis ist alles vertreten. Und ich gebe zu, ich selbst habe schreckliche Angst vor Wasser. Nicht vor dem alltäglichen Wasser, aber dem weiten, tiefen Ozean. Ich würde jede Flugreise einer Kreuzfahrt vorziehen, jeden Strandspaziergang einer Segeltour. Wenn ich am Strand liege, habe ich null komma null Drang, mich in die Wellen zu stürzen. Der Pazifik ist, wenn man mich fragt, unberechenbar, zu kalt und sowieso voller Haie. So eine Einstellung ist eigentlich ganz schön schade, besonders wenn man in San Diego wohnt, wo sich doch das halbe Leben an, in und auf dem Meer abspielt. Man verpasst also unter Umständen so einiges, wenn man Ängste hat. Wenn ich allein daran denke, wie viele deutsche Freunde mich noch nicht besucht haben, weil sie unter Flugangst leiden, wird mir bewusst, wie viele schöne Erfahrungen und Abenteuer man sich selbst verbaut.
Bisher konnte ich meine Ozean-Phobie eigentlich immer gut rechtfertigen. Aber in letzter Zeit wurde mir immer bewusster, wie sie sich auf die Erziehung meiner Kinder überträgt. “Pass auf! Geh’ nicht so tief rein,” oder “Achtung, die Welle ist stärker als du denkst. Nicht, dass du rein fällst!” Vielleicht übertreibe ich jetzt ein wenig, aber so läuft es oft ab, wenn wir als Familie am Strand sind. Meinen Mann nervt das ziemlich, denn, ganz anders als ich, ist er mit dem Element Wasser groß geworden. Er hat schon im Kleinkindalter das Schwimmen gelernt und hat großen Spaß daran, auf oder im Meer zu sein. Er kommentiert oft, und das wohl zu recht, dass ich unseren Kindern meine Angst aufzwänge. Ich beiß mir dann zwar meistens auf die Zunge, aber es fällt mir nicht leicht, mich wirklich zu entspannen.
Ängste in der Erziehung
Dabei mag ich es gar nicht, so eine ängstliche Mutter zu sein. Kinder müssen schließlich ihre Grenzen selbst austesten und sich dabei unweigerlich auch mal weh tun. Nun gut, im Ozean könnte so ein “weh tun” gravierend ausfallen, aber wäre ich eine Wasserratte wie mein Mann, würden unsere Kinder bestimmt auch einen ganz anderen Bezug zum Meer haben. Wir würden vielleicht am Wochenende Kayak fahren oder mit Freunden segeln. Bestimmt wären wir alle regelmäßig mit Surf- bzw. Boogie-Boards in den Wellen. Aber da ich, wie in so vielen Familien, den sozialen Kalender verwalte, kommen solche Aktivitäten erst gar nicht auf unsere Agenda. Und ich frage mich, was ich meinen Kindern damit vorenthalte. Denn schließlich bieten Strand und Meer für uns hier doch den wunderbarsten Abenteuerspielplatz.
Mein innerer Konflikt ist derzeit der: Einerseits predige ich immer, dass man über sich hinauswachsen und jede Herausforderung annehmen soll, andererseits bestimmen meine Ängste zum Teil meine Erziehung bzw. die Freiheiten, die ich meinen Kindern einräume. Und seitdem ich mich mit diesem Gedanken beschäftige, fällt mir auf, wie häufig ich anderen, offensichtlich ängstlichen Müttern begegne. “Nicht so schnell, das ist gefährlich!” “Mach das nicht, sonst tust Du Dir weh!” Variationen dieser Warnungen höre ich ständig im Kindergarten und auf Spielplätzen. Ich persönlich bin eine Verfechterin der “free range”- Erziehung, wenn es um Spielplätze und das Sammeln von Erfahrungswerten im Spiel geht. Da mische ich mich ungern ein. Aber am Strand ist es eben etwas anderes – für mich. Und somit hat vielleicht jede Mutter ihr “spezielles” Gebiet. Natürlich müssen wir als Eltern auf die Sicherheit unserer Kinder achten, aber ich frage mich einfach, inwieweit viele dieser “Pass auf”’-Warnungen eigentlich unbegründet sind, da sie von uns und unseren Ängsten auf unsere Kinder projeziert werden.
Sich der Herausforderung stellen
Frei nach dem Motto “mit gutem Beispiel voran gehen”, habe ich für mich beschlossen, dass ich partout nicht eine Frau sein will, die ihre Ängste pflegt. Und somit stelle ich mich ihnen. Wie das konkret für mich aussieht? Ich nehme Surfstunden. Vor ein paar Wochen habe ich für einen seichten Einstieg ins Wasser einen Surfbrett-Yoga-Kurs belegt. Zugegeben, dieser fand in der Bucht mit minimalem Wellengang statt. Dennoch war ich überrascht, wie schnell ich mich überwinden konnte und wie viel Spaß ich doch hatte. Und vor ein paar Tagen war es dann soweit. Ein Freund und erfahrener Surflehrer gab mir meine erste Surfstunde. Nach ein paar Trockenübungen am Strand ging es dann ab in die kalifornischen Wellen – und zwar für meinen Geschmack ziemlich weit raus. Und obwohl ich meines Erachtens dank Bikram Yoga recht fit bin, war ich doch überrascht darüber, wie anstrengend und vor allem schwierig dieser Sport doch ist. Wirklich gesurft habe ich in dieser ersten Stunde noch lange nicht. Stattdessen bin ich unzählige Male in die Wellen gestürzt, unter getaucht, und habe Wasser geschluckt. Ich musste mich permanent überwinden, aber ich habe es geschafft. Und genau darum ging es ja auch eigentlich. Ob mich diese Erfahrungen zur leidenschaftlichen Wassersportlerin konvertieren lassen, wage ich zu bezweifeln. Trotzdem, ich habe ein Stück Angst verloren und bin ziemlich stolz, dass ich mich dieser Herausforderung gestellt habe. Und Spaß hat es sogar, trotz allem Respekt vor dem Wasser, auch gemacht.
Foto: Jorge Gil