Liebe Inke… bis zu welchem Alter sind Wutanfälle normal?

Es ist wieder Zeit für eine weitere Folge… “Liebe Inke…”  Hier könnt ihr Familienberaterin Inke Hummel Fragen stellen, die euch belasten. Denn: Beziehung, Erziehung, Regeln, Normen, Werte – in der Theorie wissen wir ja alle, wie das gehen soll. In der Praxis kommt es aber oft zu Konflikten. Und zwar in wirklich fast allen Familien. Und eben diesen Konflikten und den Fragen, die diese aufwerfen, bieten wir hier zusammen mit Inke Raum. In den letzten Wochen sind viele Emails bei uns eingetrudelt – einige beschriebene Situationen kennen wir auch selbst. Und wissen, wie überfordernd sie sein können. Die Frage nach den Wutanfällen (und wann diese endlich aufhören??) kam gleich mehrmals, deshalb haben wir uns diesen Monat dafür entschieden.

Schreibt uns gerne eure Frage, Situation, euer Problem an hello@littleyears.de – die Fragen werden natürlich anonymisiert veröffentlicht!

Liebe Inke…

Mein Sohn wird im Mai fünf Jahre alt. Er ist ein fröhliches und lustiges Kind. Was mir jedoch langsam sorgen bereitet. Er hat immer noch wahnsinnig oft Wutanfälle.
Er war schon als Baby nicht ganz „einfach“. Wenn der Mittagsschlaf zu spät kam oder er nicht in den Schlaf fand, oder zu früh aufwachte, war der Tag im Eimer, weil Baby schrie oder weinerlich war.
Mit 15 Monaten kam er in die Krippe, es lief gut, aber nachmittags war er oft komplett erledigt und man konnte nichts mehr mit ihm unternehmen.
Seit knapp 2 Jahren geht er in den Kindergarten, er liebt es dort, hat viele Freunde und toller Erzieherinnen.
Er macht immer noch Mittagsschlaf, was ihm gut tut.
Meistens hole ich ein ausgeglichenes Kind ab.
Es ist also nicht mehr so, dass ich seine Wutanfälle auf die Nachmittags-Müdigkeit schieben könnte.
Es passiert auch oft am Wochenende und es gibt kein richtiges Muster, wann er ausrastet.
Manchmal ist es, weil ich den Fernseher ausmache (obwohl wir natürlich eine Abmachung hatten), manchmal, weil ihm das Essen nicht passt. Er schiebt dann den Teller mit Karacho von sich (ist auch schon mal runtergefallen….) und schreit und tobt.
Einmal wollte ich ihm vom Klettergerüst helfen, er stand oben und traute sich nicht. Er flippte aus und spuckte mich an.
Es passiert alle paar Tage und er ist dann wie in Trance. Brüllt, kreischt, spuckt, schlägt um sich. Ich sitze daneben und versuche, ruhig zu bleiben (manchmal schreie ich mit, ich gebe es zu). Er lässt sich nicht anfassen und wenn ich ihm gut zurede, rastet er noch mehr aus. Nach den Anfällen (manchmal dauern sie echt lange, so 30 Min) ist er erschöpft aber dann oft wie umgekrempelt. Einfach wieder fröhlich. Es ist fast ein bisschen beängstigend.
Ich habe mittlerweile richtig Angst vor diesen Momenten. Und merke, dass ich ihm manchmal schon alles recht mache. Damit er auch ja nicht ausflippt. Das erscheint mir aber auch keine sehr gute Strategie.
Was würdest du mir raten?

Das rät Inke:

Danke für deine Frage – die treibt nämlich ziemlich viele Eltern um. 5-jährige Kinder sind schon ziemlich groß, ihre Eltern sind mit dem Kopf schon fast beim Thema Einschulung, und da passt emotional herausforderndes Verhalten oft nicht mehr gut in unser Erwartungsbild. Das ändert aber nichts daran, dass es in dem Alter noch häufig vorkommt, ohne dass man sich Gedanken machen oder das Kind irgendwo vorstellen muss.

Warum stresst dich das so?

Dass das nicht ungewöhnlich ist, ändert leider nichts daran, wie anstrengend die Begleitung der Kinder in diesem Alter ist. Das liegt an verschiedenen Ursachen:
Ressourcen sind endlich und deine unterscheiden sich von denen anderer Menschen.
Wut und Aggression sind uns unangenehm. Sie können verursachen, dass wir uns und unsere erzieherischen Fähigkeiten in Frage stellen. Und gerade vor „Publikum“ können sie Schamgefühle auslösen.
Kleine Kinder, die viel Begleitung brauchen, bringen das Gefühl von starker Fremdbestimmung auf. Selbstbestimmung ist aber ein elementares psychisches Grundbedürfnis. Und wenn das leidet, kannst du dich nicht immer so zugewandt verhalten, wie du gern würdest.

Vielleicht ist es schon mal ein erster Schritt hin zu mehr Leichtigkeit, dass du darum nun weißt. Und noch mehr Wissen wird dir dabei helfen, weiteres Verständnis für dein Kind aufzubauen und vielleicht manches in eurem Miteinander zu verbessern.

Warum verhält er sich so?
Einen guten, sozialverträglichen und sinnvollen Umgang mit Wut müssen alle Kinder erst lernen – genau wie Laufen oder Schwimmen. Einige tun sich schwerer und brauchen länger als andere – genau wie beim Laufen oder Schwimmen!

Das Alter
Es kann also sein, dass dein Kind einfach noch nicht so weit ist. Etwa bis zum Einschulungsalter zeigen sich Kinder im sozialen Miteinander manchmal noch herausfordernd. Das liegt daran, dass sie kognitiv, emotional und sozial noch wichtige Entwicklungsschritte machen müssen:

Sie müssen sich aus einem egozentrischen Denken herausentwickeln.

Dazu gehört, dass sie lernen müssen, das normale, gesunde menschliche Streben nach Autonomie in Einklang mit dem sozialen Umfeld zu bringen. Mitgefühl, Kooperation und Perspektivwechsel sind hier die Stichworte.
Sie müssen frustrationstoleranter werden.
Das kommt nicht von allein. Es muss reifen wie Feinmotorik zum Zeichnen oder Verständnis für komplexe Textaufgaben.

Alles geht etwas langsamer

Manche Kinder brauchen auch noch ein bisschen länger und tun sich daher auch nach der Einschulung noch schwer mit dem Thema Wut. Das wird dann gern kritisiert: „Mit Sieben muss er das doch können!“ Dabei braucht es Toleranz für die Spannbreite an kindlicher Entwicklung. Und natürlich weitere Unterstützung. Und hier ist ein wichtiger Gedanke: „Durch Strafe lernt man nichts!“ – aber den Exkurs zur Schule lasse ich hier mal aus.

Weitere Ursachen

Zeigen Kinder mit 5, 6, 7 Jahren ein sehr herausforderndes Wutverhalten, ist es dennoch immer wichtig, genau hinzusehen. Denn natürlich kann auch etwas anderes dahinterstecken als eine eher langsame emotionale Entwicklung. Leider ist das Klären nicht so einfach, denn es gibt nicht nur eine mögliche Ursache:

– Es kann sein, dass euer Erziehungsstil seine Bindungssicherheit ungut beeinflusst: zum Beispiel, wenn du sehr herrisch und machtvoll oder auch stark überfürsorglich und konfliktvermeidend bist. Trägt dein Partner eher einen bindungsunsicheren Stil in sich, kann das zu Verhaltensauffälligkeiten wie starken Aggressionen führen. (Dazu magst du mehr wissen? Dann empfehle ich dir mein Buch „Nicht zu streng, nicht zu eng“, humboldt, 2022.)

– Auch wäre möglich, dass dein Kind keinen guten Zugang zu seinen Gefühlen hat. Merkt jemand nicht, welche Gefühl hochkommt und kann es nicht richtig benennen, einordnen und steuern, wird ein Wutanfall natürlich zum Problem. Dahinter kann verschiedenes stecken. Manchmal braucht dein Kind nur mehr Zeit und Input dazu. (Ist das Euer Thema? Dann empfehle ich dir das „Gefühlstagebuch“ von „Ein guter Plan“ oder den Elternratgeber „Gemeinsam durch die Wut“ von Kathrin Hohmann, edition claus, 2021.)

– Manchmal kann auch eine Störung der Grund dafür sein, dass dein Kind mit Gefühlen überfordert ist. Das gehört dann in die Hand von Mediziner:innen.

(Der folgende Gedanke gilt nicht für die ursprüngliche Fragestellerin, aber vielleicht betrifft er andere Eltern)

– Es könnte sein, dass dein Kind gar keine Auffälligkeiten zeigt, aber du eine Art „eingeschränkten Blick“ hast. Lass dich beraten oder belese dich dazu, was du im Alter deines Kindes von ihm erwarten kannst und was nicht. (Dazu empfehle ich sehr die Bücher vom Gewünschtesten Wunschkind Team.)

– Stress von außen kann dein Kind auch in die Lage bringen, dass es so unausgeglichen wird, dass seine Wut immer zu extremen Momenten führt: eine Geschwistergeburt, Streit zwischen euch Eltern, ein Todesfall im nahen Umfeld, ein Kindergartenwechsel, Ängste nach einem Einbruch oder Unfall oder aufgrund von Radionachrichten… Schau genau hin, ob es da etwas gibt, was beruhigt werden sollte.

– Ebenso kann es auch Stress von innen geben, der den Umgang mit Wut erschwert: Das kann ganz verschiedenes sein, beispielsweise ein angeborenes sehr impulsives Wesen, eine Unter- oder Überempfindlichkeit in einem Wahrnehmungsbereich, eine andere diagnostizierbare Störung oder auch nur eine Verunsicherung, weil ein Sinnesorgan nicht so fit ist, wie es sein sollte (z.B. Kurzsichtigkeit). Dauerhafte, heftige Wut kann also auch mal den Weg zu Kinderärzt:in oder Ergotherapeut:in sinnvoll machen, um nichts zu übersehen und ggf. eine Besonderheit auszuklammern.

Kannst du die Punkte alle ausschließen?

Falls nicht, geh sie mit Unterstützung an, zum Beispiel durch eine Familienberatung, durch ein entsprechendes Buch oder auch in einem Beratungsgespräch in eurer kinderärztlichen Praxis – das dann gern erst einmal ohne Kind, denn seine Ohren müssen das nicht hören.
Falls doch, scheint es wirklich ein Reifethema zu sein. Dein Kind braucht Unterstützung und Zeit.

Was verraten die individuellen Besonderheiten?

Ganz konkret zu dem fast 5-jährigen aus der Ausgangsfrage:
Dein Kind hat sich schon als Baby eindeutig eher regulationsschwach und sensibel gezeigt und das blieb auch im Krippenalter noch so. Das deutet für mich sehr darauf hin, dass die Ursache stark in seinem Wesen liegen wird (Ob andere Ursachen aus der Aufzählung oben dazukommen könnten, musst du bitte beurteilen.).
Mit 5 kommen die meisten Kinder an den Punkt, dass sie sich selbst regulieren können oder zumindest von allein um Unterstützung einer Bezugsperson bitten können (das heißt auch: Sich in Papas Arme stürzen oder auf Mamas Schoß). Aber die meisten heißt eben „nicht alle“. Und da gehört er als eher regulationsschwacher Mensch wohl dazu.
Der Ablauf (kaum erreichbar, Hilfsangebote machen es noch schlimmer, danach totale Erschöpfung) ist dabei typisch. 30 Minuten ist allerdings auch eher lang. Das ist natürlich für euch beide unfassbar anstrengend.

Was kannst du tun?

Konfliktscheue und überfürsorgliches Vorbereiten einer watteweichen Welt ohne Frustration ist kein Hilfsmittel – das vermutest du richtig. Deine Angst ist auch kein guter Berater. Hierfür möchte ich dir folgenden Gedanken mitgeben: Dein Sohn kann den Umgang mit Wut nicht lernen, wenn er es nicht übt. Er muss da durch. Aber möglicherweise mit ein paar besseren Hilfsmitteln als bisher.
Deine Angst ist verständlich, aber versuch, sie ein bisschen zu zähmen mit dem Wissen aus meiner Antwort hier. Denn sie macht dir Stress und Druck und lässt dich nicht sicher entscheiden.

Du kannst…
…die Liste zu den weiteren möglichen Ursachen oben durchgehen.
…mit ihm das Thema Gefühle intensiver angehen: Welche gibt es? Wie heißen sie? Wie zeigen sie sich? Wie geht man damit um?
…rund um das Thema Gefühle vor allem an den Strategien arbeiten, die er bisher hat. Schreien ist schon gut. Spucken und schlagen natürlich nicht. Welche Alternativen fallen dir ein für orales und manuelles Abreagieren? (Mehr Input dazu findest du in meinem Buch „Mein wunderbares wildes Kind“, humboldt, 2021 – da stecken auch Strategien drin, wie du gelassener werden kannst.)
…mit ihm das Thema Wahrnehmung und besonders Innenwahrnehmung intensiver angehen, denn nur wer sich selbst gut kennt und spürt, weiß was er braucht und kann andere gut spüren. (Mehr Input zu diesem Bereich findest du in meinem aktuellen Buch „Mit allen Sinnen wachsen“, humboldt, 2023.)
…ein gemeinsames Projekt mit ihm aus dem Thema machen: Was willst du verändern an deinem Umgang mit Wut? Erzähl ihm davon? Wie kann er dich an deine Ziele erinnern im akuten Fall?
…ggf. mit Hilfe von Erziehungsberatung absichern, dass du nichts übersiehst, zum Beispiel auch bei eurer Tagesgestaltung oder beim Raum für Autonomie, den er hat.
…dich mit dem Konzept der „wirkungsvollen Aufforderung“ befassen. In Kurzform:
Nur auffordern, wenn du sicher bist, dass etwas gemacht werden muss.
Andere Reize minimieren, damit es dich hören kann.
Deinem Kind dabei nah sein, es ansehen, vielleicht anfassen und bei ihm bleiben, wenn du es zu etwas aufforderst.
Nicht bitten.
Nur eine Sache anführen.
Die Aufforderung wiederholen lassen.

Und der wichtigste Gedanke neben dem „Er muss dadurch und üben.“ ist:

Zeig ihm nicht nur, was er lassen soll, sondern vor allem, was er tun kann – und wie.

Inke Hummel ist Pädagogin, sie hat viele Bücher geschrieben (unter anderem „Mein wunderbares schüchternes Kind“ und „Nicht zu streng, nicht zu eng“) und sie bietet Eltern als Familienbegleiterin, Erziehungsberaterin und pädagogischer Coach Hilfe an. Was wir lieben: Sie will nicht belehren, sondern unterstützen. Dabei, gelassener und beziehungsstärker mit den Kindern zu leben. Einfühlsam und alltagsnah gibt sie Impulse und öffnet neue Blickwinkel, um die Eltern-Kind-Bindungen zu intensivieren.

Ihr habt diesen Artikel gern gelesen? Wir freuen uns über eure Unterstützung!

Foto: Timothy Eberly