Kinderhaben anderswo: Ines in Portugal

Geboren in Süddeutschland, und laut eigenen Angaben "ein richtiges Landkind", zog es Ines dann doch früh in die Ferne. Ihre Abschlussarbeit Im Fach "Mehrsprachige Kommunikation" hat sie in Bogotá geschrieben, Südamerika war eine ganze Weile ihr Zuhause. Eigentlich wollte sie in die Entwicklungshilfe, wurde dann aber Übersetzerin, Texterin und Stewardess. Passt gut zu Ines, denn sie sagt: "Zwei Seelen leben, ach, in meiner Brust". Bei zu viel Alltag bekommt sie Platzangst, aber sie liebt ihr geborgenes Familiennest. Familiennest? Ja, mittlerweile ist Ines in Lissabon sesshaft, hat einen portugiesischen Mann und einen zauberhaften Sohn. Außerdem wartet ein Babymädchen in ihrem Bauch gerade auf seinen großen Auftritt. Wie es dazu kam und wie es so ist, Kinder in Portugal groß zu ziehen, das soll sie uns am besten selbst erzählen. Bühne frei für Ines!

Mein Weg nach Lissabon

Nach insgesamt fast zwei Jahren in verschiedenen Ländern in Südamerika, nach einer turbulenten Zeit und Freiberuflichkeit als Übersetzerin und Texterin, meistens knapp am Existenzminimum, hatte ich mich irgendwann, eigentlich aus einer Laune heraus, als ich am Flughafen saß und eine ankommende Crew beobachtete, als Stewardess bei einer großen deutschen Fluglinie beworben. Nachdem die Zusage da war, hatte ich den Schulungstermin zweimal verschoben, weil ich eben in Südamerika war und nicht nach Deutschland zurück wollte. Jetzt wollte ich. Ich wollte ein halbwegs sicheres Einkommen haben und trotzdem das Reisen nicht aufgeben müssen. Eine Bekannte, die schon länger bei der Airline arbeitete, legte mir nahe, den Ausbildungstermin, der auf Ende Januar 2012 gelegt war, nicht noch ein weiteres Mal zu verschieben, da von einem langen Einstellungsstopp die Rede war.

Also flog ich von Santiago de Chile nach München und begann zwei Tage später die Ausbildung. Tatsächlich war ich im letzten Schulungskurs, der mit einem unbefristeten Vertrag und guten Konditionen endete, den die Firma bis heute gegeben hat. Ich lebte für vier Monate in München und merkte schnell, dass ich mir ein Leben in Deutschland nicht mehr vorstellen konnte. Als absehbar war, dass ich nach der Probezeit einen Festvertrag bekommen würde, reiste ich also der Idee von Lissabon in meinem Kopf hinterher.

Mit 18 Jahren war ich auf einer Backpackertour mit drei Freundinnen durch Spanien und Portugal in Lissabon gewesen und war sofort fasziniert von der Stadt und dem Gefühl des Zuhauseseins, des Ichseins, des Richtigseins, das die Stadt in mir auslöste. Das war allerdings zehn Jahre her.

Zweimal flog ich nach Lissabon, fühlte die Stadt, war wieder so sehr zu Hause wie sonst an keinem anderen Ort, organisierte eine Wohnung und zog im September 2012 in „meine“ Stadt. Es macht „plopp“ in meinem Kopf und dieses Gefühl stellt sich ein. Diese Gewissheit, dass genau das Richtige passieren wird.

Schnell reduzierte ich auf Teilzeit und fing wieder an, als freiberufliche Texterin im Mode- und Lifestyle, später im Reisebereich zu arbeiten. Für mich war und ist es das optimale Modell. Einerseits ein gesichertes Einkommen mit einem unbefristeten Vertrag, viele Reisen und dennoch viel Zeit und Flexibilität, um zu Hause meiner zweiten Leidenschaft nachgehen zu können – und an dem Ort leben zu können, der nun seit über vier Jahren mein Zuhause ist.

Im Dezember 2012 lernte ich meinen jetzigen Mann kennen, im April 2015 kam Noah, unser Sohn hier in Lissabon zur Welt und in drei Wochen bekommen wir ein Babymädchen. Unsere kleine deutsch-portugiesische Familie.

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Schwangerschaft

Als wir herausgefunden haben, dass ich schwanger war, wollten wir eigentlich ein paar Tage später nach Tansania und Sansibar reisen. Auf meinem letzten Flug nach Peking waren mir allerdings sämtliche EC- und Kreditkarten gestohlen worden und wir mussten die Reise verschieben. Glücklicherweise, im Nachhinein. Die Malariamedikamente wären dem Baby wahrscheinlich nicht so gut bekommen. Trotzdem habe ich die ersten Wochen heulend verbracht – Spanien (wo wir stattdessen hingereist sind) war eben nicht Sansibar und obwohl wir ein Baby wollten und es auch darauf angelegt hatten, fiel mir erst mal die Decke auf den Kopf. Und zwar sehr. Und meinem Mann dank meiner eher wenig sensationellen Verfassung gleich mit.

Als Flugbegleiterin ist man ab Feststellen der Schwangerschaft im Beschäftigungsverbot. Ich hatte somit auf einmal sehr viel Zeit und sehr wenig zu tun. Alle anderen aber nicht. Ich fühlte mich oft alleine und hatte auch manchmal Heimweh nach Deutschland. Vor allem, weil fast alle meine Freundinnen dort auch gerade schwanger waren oder ein Baby bekommen hatten und mir von gemeinsamen Tagen im Park erzählten, Pekip-Kursen und Biobaumwollmützchen. Alles Dinge, die ich hier nicht hatte, eigentlich auch nicht wollte, aber auf einmal schmerzlich vermisste.

Eine andere Sache, die mir Heimweh verursachte, ist die medizinische Vorsorge hier. In Portugal wird sehr stark unterschieden in öffentliches und privates Gesundheitswesen. Da ich meine Sozial- und Krankenversicherung in Deutschland habe und glücklicherweise eigentlich nie zum Arzt muss, habe ich hier keine private (sehr teure) Zusatzversicherung. Also ging ich zu Beginn der Schwangerschaft ins Gesundheitszentrum des Stadtviertels, in dem wir leben. Dort wird einem ein Familienarzt zugewiesen, vergleichbar mit einem Hausarzt. Und der ist dann auch für die Begleitung während der Schwangerschaft zuständig. Das ist aber ein Allgemeinmediziner, in meinem Fall eine ältere Dame, die bis heute denkt, dass ich Französin bin. Der einzige Kommentar der Ärztin war, dass ich dann in Schwangerschaftswoche 13 wiederkommen sollte, damit sie mir dann eine Überweisung für den Ultraschall geben könnte, um zu sehen, ob das Herzchen schlägt. Und ob ich irgendeine Bescheinigung für den Arbeitgeber bräuchte, fragte sie noch. Ich war einigermaßen schockiert ob der Interessenlosigkeit an meiner ersten Schwangerschaft seitens „meiner“ Ärztin und sehr, sehr neidisch auf Hebammen- und Geburtshausgeschichten aus Deutschland!

Daraufhin habe ich mir dann eine (private) Frauenärztin gesucht, die mich wunderbar begleitet hat und das auch jetzt wieder tut. Sie ist sozusagen meine Hebamme. Ich habe ihre Nummer und wenn irgendwas ist, schicke ich ihr eine Whatsapp oder rufe sie an. Alle sechs Wochen habe ich einen Vorsorgetermin und sie bekommt  70 Euro von mir.

Was mir am Anfang auch sehr fremd war, ist, dass ich hier zu drei unterschiedlichen Orten muss, wann immer eine Vorsorgeuntersuchung ansteht. Für die Blutproben muss ich zuerst ins Gesundheitszentrum um mir die Überweisung fürs Labor und für die Ultraschallpraxis zu holen. Der wird wie in Deutschland dreimal während der Schwangerschaft übernommen. Auch die Blutproben sind ein wenig anders bezüglich der Kostenübernahme durch das öffentliche Gesundheitswesen. Hier werden Dinge übernommen, die man in Deutschland selbst bezahlen muss und andersherum.

Wenn ich dann alle Untersuchungen gemacht habe, gehe ich wieder zu meiner Frauenärztin. Sie bespricht alles mit mir und trägt die Daten in den Mutterpass ein.

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Geburt

Ab Schwangerschaftswoche 37 geht man dann einmal pro Woche ins zuständige Krankenhaus zum CTG und Muttermund prüfen. Es war klar, dass unser Baby im öffentlichen Krankenhaus zur Welt kommen würde. In den privaten Krankenhäusern ist die Kaiserschnittrate deutlich höher, bringt ja auch mehr Geld, und ganz davon abgesehen wären wir ohne private Krankenversicherung auf unter Umständen gut 1000 Euro für die Geburt gekommen.

Eine Alternative zum Krankenhaus gibt es nicht wirklich. Es gibt keine Geburtshäuser, praktisch keine Hausgeburten, da es nicht wirklich Hebammen gibt und die Kreißsäle sind funktional gehalten. Geburtshocker oder Seile, Badewannen oder Dammmassage sind hier eher Fremdwörter. Zur Schmerzlinderung wird eigentlich nur die PDA angeboten, die klassische Geburtsposition ist die Rückenlage. Man darf auch nicht seine eigene Kleidung anbehalten, sondern wird in einen dieser schönen Krankenhauskittel gepackt. Das Baby übrigens auch erstmal nach der Geburt. Alles, was man während der zwei oder drei Tage im Krankenhaus braucht, muss man selbst von zu Hause mitbringen. Also auch Binden und Windeln.

Das für mich zuständige Krankenhaus, die Geburtsklinik Alfredo Costa in Lissabon, gilt eigentlich als eines der besten im Lande. Mit sehr guten Ärzten und einer langen Tradition. Leider sieht es drinnen und auch genauso aus: alt. Das Babymädchen wird hoffentlich in einem anderen Krankenhaus zur Welt kommen. Je nachdem, wie die Situation ist.

Nach einer langen und anstrengenden Geburt, an deren Ende aber ein gesundes und zufriedenes kleines Kerlchen in meinen Armen lag, wurde ich dann für zwei Tage in ein 6-Bett-Zimmer verfrachtet. Sechs Frauen, sechs Babys, Privatsphäre und Erholungsfaktor nach der Geburt: Null. Neben mein Bett passte grade eben das Bettchen von Noah, dann kam schon der Vorhang, der mich von meiner Nebenliegerin trennte. Meine Tasche lagerte ich unter meinem Bett. Toiletten und Dusche auf dem Flur, zwei Toiletten für 12 Frauen, die gerade entbunden hatten. Wie es da aussah, kann man sich vorstellen. Oder besser nicht.

Am zweiten Tag rief ich, einem Nervenzusammenbruch nahe, meinen Mann an, dass er mich und Noah sofort, SOFORT da rausholen sollte, sonst würde ich unser eigenes Kind kidnappen und fliehen. Ich würde mich selbst eigentlich nicht als zimperlich bezeichnen, aber ich war so dermaßen fertig und wollte einfach in Ruhe dieses kleine Menschlein gemeinsam mit Papa kennenlernen und nicht zwei schlaflose Tage und Nächte in einem überheizten Zimmer verbringen. Nix zu machen. Man muss in Portugal nach einer natürlichen Geburt zwei Tage lang, nach einem Kaiserschnitt drei Tage lang, im Krankenhaus bleiben. Selbst als ich mit Noah auf dem Arm den Krankenhausflur entlangspazieren wollte, wurde ich sofort wieder aufs Zimmer geschickt. Alle Überzeugungskünste meinerseits, dass Mama und Kind doch wohlauf seien und ich auch nach einem Tag schon nach Hause gehen könnte, wurden von den Ärzten leider rigoros ignoriert.

Wenn man dann entlassen wird, ist man dann auch tatsächlich voll auf sich gestellt. Da es hier keine Hebammen wie in Deutschland gibt, gibt es im Prinzip nach diesen zwei Tagen Krankenhaus auch keine Betreuung mehr. Erst nach sechs Wochen hat man einen Kontrollbesuch beim Arzt. Man ist also alleine mit Stillproblemen, Dammschnitt (der hier fast immer gemacht wird) und Babypupsen. Es gibt zwar im Krankenhaus eine Stillberatung und eine 24-Stunden-Hotline, an die man sich wenden kann, alles andere ist dann aber Sache von Mama und Papa, Oma, Opa, Tante, Freunden.

Die ersten Impfungen werden hier noch direkt im Krankenhaus gegeben. Der zwei Tage alte Säugling bekommt also gleich die erste Portion gegen Hepatitis B und Tuberkulose. Die nächsten Impfungen folgen dann mit zwei Monaten. Es besteht allerdings keine Impfpflicht, von daher war es okay, wenn auch nicht gerne gesehen, dass wir das nicht gemacht haben.

Registriert wird das Baby hier auch direkt im Krankenhaus. Allerdings sind die Portugiesen sehr streng mit der Namensgebung. Bekannte von uns, beide Portugiesen, wollten ihren Sohn Ben nennen. Das wurde ihnen nicht erlaubt, weil Ben kein portugiesischer Name ist. Deshalb heißen hier auch gefühlt die Hälfte aller Frauen Inês und die Hälfte aller Männer João . Noah war kein Problem, weil ich Ausländerin bin – somit hatten wir praktisch komplett freie Hand.

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Kinder als Luxusgut

In unserem Freundeskreis (alle zwischen Ende 20 und Mitte 30), sind wir und noch ein anderes Paar Eltern. Die meisten anderen möchten zwar Kinder, können es sich aber im Moment noch nicht vorstellen, weil es finanziell oder jobmäßig nicht drin ist. Das Mindesteinkommen in Portugal liegt seit Beginn des Jahres bei 557 Euro. Eine Dreizimmerwohnung in Lissabon kostet locker 700 Euro. Für die Kita bezahlen wir monatlich 320 Euro.

Ein Kind ist hier für viele ein Luxusgut. Und viele unserer Freunde haben mehrere Jobs gleichzeitig, um sich ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können. Die Elternzeit liegt zwischen vier und sechs Monaten, so lange bekommt man den Lohn weiterhin zu 100 Prozent, danach gibt es gar nichts mehr. Kindergeld ist hier einkommensabhängig und mit Glück bekommt man 35 Euro im Monat.

Die meisten Mamas hier müssen nach vier Monaten wieder arbeiten gehen und die Kleinen kommen schon so früh in die Kita, meist auch ganztags, weil es hier sehr wenige Teilzeitstellen gibt. Oder weil eine Teilzeitstelle einfach nicht ausreicht, um eine Familie zu versorgen. Ich war mit Noah 18 Monate zu Hause, das ist ein absolutes Privileg und entspricht keineswegs dem portugiesischen Alltag.

Es wird einem also nicht unbedingt leicht gemacht, eine Familie zu gründen und entsprechend gibt es wenige Kinder und somit ein sehr geringes Angebot an Kursen für Schwangere oder Eltern-Kind-Kurse. Selbst der Kurs für Schwangerschaftsyoga fiel oft aus – zu geringe Teilnehmerzahl. Ein paar Mal war ich mit Noah beim Baby-Yoga und beim Babyschwimmen. Diese Kurse sind dann aber relativ teuer (15 Euro für 30-45 Minuten) und so ganz unser Ding war es ehrlich gesagt auch nie.

Stillen

Dadurch, dass die meisten Babys mit 4-6 Monaten in die Betreuung kommen, stillen die meisten Mamas auch nur bis maximal zu diesem Zeitpunkt. Viele geben aber auch von Anfang an die Flasche, damit es dann nach Ablauf der Elternzeit kein Entwöhnen gibt. Stillen in der Öffentlichkeit ist aber überhaupt kein Problem. Die meisten Frauen decken die Brust ein wenig ab, aber es gibt keine schrägen Blicke oder Kommentare. Noah habe ich gestillt, bis er nicht mehr wollte. Da war er 10 Monate alt war. Auch das fanden die Portugiesen eher merkwürdig. Klar, macht hier ja auch fast keiner.

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Transport

Eine andere Sache, die hier oft zu lustigen bis nervigen Reaktionen geführt hat, ist die Babytragetasche. Mittlerweile sieht man zwar immer öfter Eltern, die ihr Kind im Tragetuch haben, aber vor zwei Jahren noch eher selten. Was konnte ich mir alles anhören! Das Baby bekommt keine Luft! Das ist dem Baby unbequem! Aha, sie macht das wie die Schwarzen!

Das normale Transportmittel hier ist die Babyautoschale, die auf das Kinderwagengestell montiert wird. Das ist praktisch, wenn das Baby im Auto einschläft – man kann einfach den Autositz auf das Fahrgestell packen und fertig. Allerdings in Deutschland ja als sehr rückenschädlich verpönt. Ich finde es vor allem wahnsinnig unpraktisch. In Lissabon gibt es so viele enge, steile Gassen, viele Treppen und oft keine oder zu kleine oder komplett zugeparkte Gehsteige – mir ist Kinderwagen hier viel zu anstrengend und ja, ich bin auch sehr gerne Tragemama.

Portugiesische Kinderfreundlichkeit

Den Umgang der Portugiesen mit Kindern finde ich eigentlich toll. Irgendwie ist hier jeder kinderlieb, egal ob 15-jährige Jungs, die sich in Deutschland eher abwenden würden, Gleichaltrige oder Ältere. Wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf der Straße unterwegs ist, gibt es eigentlich immer jemanden, der mit Noah quatscht oder ihn zum Lachen bringen will. Es erleichtert den Alltag manchmal ganz schön, wenn man nicht immer der Alleinunterhalter sein muss. Wenn ich mit Noah alleine in Deutschland bin, vermisse ich das manchmal. Auf einer langen Zugfahrt wurde ich mal beinahe sauer, weil sich niemand auch mal nur ansatzweise bemüht hat, das Kind mit bei Laune zu halten, und im Gegenteil viele eher genervt gewirkt haben. Eigentlich habe ich da erst den Umgang der Portugiesen mit Kindern zu schätzen gelernt.

Am Anfang, als Noah noch sehr klein war, hat es mich zwar eher oft genervt und es war mir zu viel, dieses ständige mein Kind Anfassen, hach, die kleinen Füßchen und wildfremde Frauen, die den Babykopf küssen wollten. Mittlerweile finde ich es gut und auch wichtig, die Interaktion mit vielen verschiedenen Menschen. Ich kenne auch kein Kind hier, das großartig fremdelt oder schüchtern ist.

Die Portugiesen gehen relativ locker mit Kindern um. Kinder sind Teil der Gesellschaft. Sie werden gerne ein bisschen gehätschelt, vor allem mit Essen, aber auch mit Küsschen aus allen Richtungen und jeder fängt sofort an, mit dem Kind zu sprechen. Aber Kinder müssen hier auch relativ früh lernen, sich zu integrieren. Früh und lange in die Kita, danach Kindergarten, dann (meist) Ganztagsschule. Vielleicht liegt es an der frühen Eingliederung der Kinder in ein soziales, außerfamiliäres System, dass man hier sehr selten ein Kind, das „Theater macht“, trotzig ist oder sich auf den Boden wirft, sieht.

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Familie wird groß geschrieben

Das Wochenende gehört der Familie, im Sommer fahren die meisten an den Strand, Mittagessen mit Oma und Opa, Freunde treffen. Die Eltern sind dann wirklich komplett für das Kind da und die Zeit, die man unter der Woche nicht gemeinsam hat, wird genossen.

Die Großeltern, oder Familie überhaupt, spielen hier eine große Rolle. Nicht selten übernehmen sie die Betreuung der Kinder nach der Kita, wenn die Mütter wieder arbeiten gehen (ich schreibe hier immer Mütter, weil ich eigentlich keine Familie kenne, in der der Vater zu Hause geblieben wäre. Was wahrscheinlich auch wieder an der sehr kurzen Elternzeit liegt und diese dann in der Regel von der Frau genommen wird). Falls die Großeltern nicht in Frage kommen, springt die Tante oder die Cousine ein.

Die Kinder bleiben auch sehr früh über Nacht bei den Großeltern, damit die Eltern Zeit für sich haben oder einfach mal ausschlafen können. Viele Eltern lassen auch schon ihr vier Monate altes Kind für eine Woche oder länger bei Oma und Opa und verreisen zu zweit. Auch Noah verbringt mittlerweile eine Nacht im Monat bei Ricardos Eltern und wir beide machen einen Kurztrip oder gehen Essen oder machen einfach gar nichts, außer am Sonntag um eins zum Brunch zu gehen. Schön ist das!

Schlafen

Die Kinder hier gehen in der Regel ein bisschen später ins Bett als in Deutschland. Die meisten zwischen 20 – 21 Uhr. In vielen Familien gehört das tägliche Baden zum Ritual, der Rest ist eigentlich sehr ähnlich wie in Deutschland. Manche Kinder haben einen Schnuller, andere nicht. Es gibt Gutenachtgeschichten, Einschlaflieder, Familienbetten und in der Regel aber eher ein eigenes Zimmer für das Baby schon mit ein paar Monaten.

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Engagierte Papas

Papas sind hier super integriert, sehr oft sieht man sie Samstagvormittag mit dem Nachwuchs im Park joggen, meistens sind es die Papas, die die Kinder in die Kita oder Schule bringen, füttern, wickeln, baden – ich empfinde das hier als sehr gleichberechtigt. Auch, wieder einmal, weil die Mütter früh wieder in den Job zurückgehen und sich deshalb oft gar keine „klassische“ Rollenverteilung einschleichen kann. Beide gehen arbeiten, beide sorgen für´s Kind.

Mamas unter sich

Mamas gehen hier ganz anders miteinander um, als in Deutschland. Zumindest habe ich den Eindruck. Wenn ich in Deutschland bin, habe ich das Gefühl, eigentlich ständig abgecheckt zu werden. Das empfand ich schon während der Schwangerschaft so und noch viel mehr, als Noah dann da war. Ein ständiges „wie macht die das, wie sieht die aus, was macht das Kind, wie reagiert sie, was trägt das Kind, wie trägt sie das Kind, was isst sie, was gibt sie dem Kind, wie redet sie mit dem Kind, woher ist überhaupt das Tragetuch und wie?! Sie trinkt Kaffee, obwohl sie stillt?!…“. Sauanstrengend! Und nervig! Das habe ich in Portugal nie erlebt. Man ist neutral oder freundlich zueinander, tauscht sich aus, aber ohne zu werten.  Wahrscheinlich liegt das auch einfach an der Tatsache, dass die meisten Mamas eben nach sehr kurzer Zeit wieder arbeiten gehen und sich deshalb gar nicht so sehr (nur) übers Mamasein definieren.

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Reisen

Größere Reisen mit dem Kind zu machen, ist eher ungewöhnlich. Als Noah vier Monate alt war, sind wir mit ihm quer durch Portugal gereist und haben viele überraschte Reaktionen erhalten. Letzten Sommer waren wir mit dem Campertruck in Kanada unterwegs und die Portugiesen waren alle ein wenig ungläubig, wie so eine lange Reise mit Kind funktionieren kann. In Deutschland ist das ja mittlerweile fast normal, dass man während der Elternzeit eine größere Reise macht.

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Kleidung

Portugiesische Kinder sind meist sehr wohlerzogen und sie werden gut gekleidet (Babykleidung ist hier oft wahnsinnig kitschig und wahnsinnig rosarot, beziehungsweise hellblau) und das Wort „Matschhose“ ist ein Fremdwort. Nur dank meiner Mama haben wir trotzdem eine! Man sieht hier auch kaum Kinder durch Pfützen hüpfen oder im Sommer barfuß im Park.

Kleidung wird in der Regel neu gekauft oder innerhalb der Familie weitergegeben. Secondhandläden für Kinder gibt es sehr, sehr wenige, Kinderflohmärkte gar nicht. Das finde ich sehr schade. Mittlerweile hat sich aber die Kette „Kid-to-Kid“ einige Filialen hier aufgebaut und ich bringe manchmal Sachen von Noah hin und nehme noch öfter welche mit. Ein hübscher kleiner Secondhandladen für die ganze Familie, das fehlt aber definitiv und wer weiß, vielleicht habe ich ja bald mein eigenes kleines Ladencafé…

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Ernährung

Mit allerspätestens fünf Monaten bekommen die Babys hier die erste „Sopinha“, meist frische Gemüsesuppe. Und dann wird auch direkt losgelegt mit Fleisch (jeden Tag!) und Fisch (jeden Tag!). Jap! Der normale portugiesische Speiseplan sieht täglich Fisch und Fleisch für das Kind vor. Mittlerweile gibt es immer mehr Eltern, die das anders handhaben. Als bei Noah das Beikostgeben angefangen hat, mussten wir uns aber so Einiges sowohl von Kinderärzten, Verwandten, als auch Wildfremden anhören, weil wir es anders gemacht haben. Selbst Ricardo und ich waren uns am Anfang nicht ganz einig, was die Ernährung angeht. Klar, er ist ja mit genauso viel Fleisch und Fisch aufgewachsen, ich dagegen bin Vegetarierin, seit ich acht bin. Noah bekommt jetzt 1-2 Mal die Woche Fleisch und 1-2 Mal die Woche Fisch und den Rest vegetarische Kost.

Gläschenkost gibt es hier sehr wenig. Die Kinder bekommen tatsächlich von klein an, was die Großen auch bekommen. Eigentlich mag ich das, diese Einfachheit, dieses Entkomplizieren. Nur die Menge an tierischem Eiweiß war mir eben ein bisschen zu viel.

Betreuung

Wie gesagt, ich war eineinhalb Jahre zuhause und damit ein absoluter Exot. Kein Kind bleibt hier zu Hause, bis es anderthalb, geschweige denn drei ist. Die Portugiesen finden es eher merkwürdig bis ungesund, ein Kind so lange zu Hause zu lassen. Die Betreuung ist dann über die Kita abgedeckt und oft auch über die Großeltern und sogar Urgroßeltern. Spielplätze sind unter der Woche meist verwaist und füllen sich erst ab 17 Uhr.

Noah geht vier Tage die Woche in die Kita, seitdem er anderthalb ist. Wir bringen ihn um 9:30 hin und holen ihn gegen vier ab. Meistens macht das im Moment der Opa und bringt ihn dann nach Hause oder nimmt ihn mit ins Restaurant der Familie meines Mannes und dreht dann unermüdlich Runden mit dem Dreirad, Noah hilft der Oma beim Kuchenbacken oder hilft Ricardo, die Tische einzudecken. Freitags bleibt Noah eigentlich immer zu Hause und wir machen uns einen schönen Tag, gehen in den Park, an den Strand oder treffen Freunde.

Die Kitasuche war anstrengend und lang. Auch hier gibt es große Unterschiede zwischen privaten und öffentlichen Einrichtungen. Wir wollten eigentlich, dass Noah in eine öffentliche Kita geht, waren aber ein kleines bisschen zu spät dran und da viele Plätze nach Sozialkriterien wie Einkommen der Eltern vergeben werden, waren wir oft einfach auf Grund der Tatsache raus, dass ich ein deutsches Gehalt bekomme, welches für hier relativ hoch ist.

Andere Kitas waren bei uns direkt raus. Kein Außenbereich, was ein absolutes Muss war, oder dann Überflieger-Kitas mit Zengarten, Englischunterricht für 1,5-Jährige, Schwimmunterricht und Tanz. Das war uns zu viel. Wir wollten einfach nur eine familiäre Kita, nicht zu groß und eben mit Außenbereich – und ohne 500 Euro im Monat bezahlen zu müssen.

Als ich schon kurz vor dem Verzweifeln war, haben wir dann endlich einen tollen Platz für Noah gefunden. Die Kita gehört zur Uni und ist eine Mischform aus öffentlich und privat. Es gibt zwei Gruppen mit je acht Kindern auf je drei Erzieherinnen! Also ein super Betreuungsschlüssel. In der einen Gruppe werden Kinder ab Laufalter aufgenommen und dann bis drei Jahren, in der zweiten Gruppe sind Kinder zwischen drei und sechs Jahren. Der Umgang ist wahnsinnig liebevoll, jedes Kind wird morgens mit Kuss empfangen, der Kontakt zwischen Erzieherinnen und Eltern ist sehr eng – und es wird bei fast jedem Wetter rausgegangen. Die Kita hat einen eigenen Außenbereich und zusätzlich werden Ausflüge in den Park oder auf die Farm gemacht – eine echte Seltenheit hier. Auf jedes Kind wird individuell eingegangen und diese Individualität mit in die ganze Gruppe gebracht. Noah bringt zum Beispiel manchmal eine CD mit deutschen Kinderliedern mit, dann hören sie die in der Gruppe, ein anderes Kind hat eine Mama aus Polen, dann schauen sie ein polnisches Kinderbuch, der Papa von einem anderen Kind ist Reitlehrer, also gehen sie Pferdeschauen.

Ich bin wahnsinnig dankbar und froh, dass wir diese Kita gefunden haben. Während der Suche hatte mich nämlich tatsächlich ein weiterer kleiner Anfall von „Mann, wären wir doch nur in Deutschland, wo es Holzspielzeug- und Bollerwagenkitas gibt!“-Anfall heimgesucht. Und Noah liebt seine Kita mindestens genauso sehr wie wir – Obrigada, „Os Letrinhas“!!

Für Noahs Betreuung bezahlen wir, wie gesagt, 320 Euro im Monat und theoretisch könnte er Montag bis Freitag von 8:00 Uhr bis 19:00 Uhr dort sein. Im Sommer ist die Kita für sechs Wochen geschlossen. Essen bringen die Eltern selbst mit, ebenso Windeln und Pflegeprodukte.

Super finde ich auch, dass die Kinder hier schon in der Kita eine Art „Uniform“ tragen. In Noahs Fall ist das ein blau-gelb-karierter Kittel, der bis zu den Knien reicht. Nicht wirklich schön, aber praktisch und vor allem – alle haben das gleiche an.

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Was mich nervt

Dass sich ältere portugiesische Damen ständig dazu befähigt fühlen, sich in alles einzumischen und ihren Senf dazuzugeben. Während der Schwangerschaft und vor allem, wenn das Kind dann da ist. Wenn es aber wirklich darum geht, den Mund aufzumachen, Zivilcourage zu zeigen und seine Meinung mal Kund zu tun, verschlägt es den allermeisten direkt die Sprache und keiner bekommt von nichts was mit.

Dass manchmal so sehr an dem festgehalten wird, was „schon immer so war“ und deshalb oft wenig hinterfragt wird.

Dass Lissabon nicht gerade die kinderfreundlichste Stadt ist. Die meisten Metrostationen haben keinen Aufzug, es gibt keinen einzigen behinderten- oder kindgerechten Bahnübergang, um von der Stadt an den Fluss zu kommen, oft gibt es keine Gehwege, Spielplätze gibt es für so eine große Stadt sehr wenige und eine weitere Geschäftsidee wäre ein Eltern-Kind-Café.

Warum ich es trotzdem liebe

Wegen der Einfachheit der Dinge. Wegen der Freundlichkeit der Portugiesen. Weil hier viel weniger gemotzt wird. Wegen des Wetters. Wegen der Echtheit der Menschen. Weil hier alles einen Ticken langsamer und stressfreier geht. Weil auf einmal gar nicht mehr so viele Spielplätze nötig sind, wenn alle zusammenhelfen.

Zukunft

Oft werde ich gefragt, ob wir vorhaben, nach Deutschland zu gehen. Nein, das haben wir nicht vor. Wir sind hier zu Hause, Ricardo hat das Restaurant, das er über alles liebt, ich bin wahnsinnig glücklich hier und schätze es sehr, dass unsere Kinder mit zwei Sprachen und zwei Kulturen aufwachsen können.

Was wir allerdings machen werden: wir werden im Sommer aus Lissabon raus, auf´s Land ziehen. So richtig Haus mit Garten. Und mehr Platz für den vielen Besuch!

Ich möchte gerne dieses Mal schneller wieder in den Job einsteigen wenn das Baby geboren ist. Die letzten Monate, die ich ja wegen der Schwangerschaft wieder im Beschäftigungsverbot war, habe ich hier eine tolle Stelle als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache gefunden. Ich kann mir gut vorstellen, stundenweise nach ein paar Monaten wieder zu arbeiten und erst in 2 – 3 Jahren wieder als Stewardess anzufangen. Und dann sind da ja noch die vielen Geschäftsideen…

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