Können wir den Begriff “Fremdbetreuung” bitte endgültig aus unseren Köpfen streichen?

Ich hatte ja mit vielen Kontroversen rund um unser Interview mit Mirna Funk gerechnet. Dass es dann ausgerechnet eine Diskussion über Betreuung wird, hat mich wirklich überrascht. Lag natürlich auch an dem Zitat, das wir ausgewählt hatten… Aber irgendwie hatte ich wohl erwartet, dass wir in der Hinsicht in Deutschland schon weiter wären. Die allermeisten Kommentare waren auch reflektiert und produktiv. Aber es gibt eben auch immer noch SOOOO viele andere. Und für die ist dieser Text.

“Keine Fremdbetreuung vor drei!”
“Wenn es finanziell geht, kann ich echt nicht verstehen, wieso man sein Kind mit eins fremdbetreuen lässt!”
“Kleine Kinder LEIDEN in der Kita! Wie kann man das seinem Kind antun!”

Ich muss wirklich, ganz ehrlich sagen: Ich kann es nicht mehr hören. Und ich möchte es auch nicht mehr hören. Ich rate jeder Frau (und ich sage jetzt bewusst Frau, weil es überüberwiegend Frauen sind…), die solch Gedankengut in sich hat, mal ganz doll zu reflektieren, woher das kommen könnte. Gut. Es gibt Frauen, die haben selbst schlechte Erfahrungen in ihrer Kindheit gemacht. In diesem Fall kann ich total nachvollziehen, wenn man skeptisch gegenüber (früherer) Kinderbetreuung ist – und extra vorsichtig. Ich verwende in diesem Text einfach mal das Wort “Kita” übergreifend für “professionelle und regelmäßige Betreuung”, auch wenn ich weiß, dass in manchen Bundesländern zwischen Krippe (bis drei) und Kindergarten (ab drei) unterschieden wird und es außerdem noch Tages(verbund)pflegen und -mütter gibt.)

Woher kommt die Vehemenz?

Aber der allergrößte Teil der Frauen, der so vehement gegen Kita ist, hat wahrscheinlich wirklich ein Frauen- und Mutterbild in sich, das nicht zeitgemäß ist. Hier ist der Mythos Mutterliebe, welcher über Jahrhunderte hinweg etabliert wurde, noch ganz unreflektiert verinnerlicht: Nur eine Mutter kann ihr Kind wirklich verstehen, die Liebe einer Mutter ist mit nichts vergleichbar, das Kind ist bei der Mutter immer am Besten aufgehoben…

Und ja, es gibt sicher Kinder, die sind mit einem Jahr noch nicht bereit für die Kita. Sie können sich nicht gut trennen, manchen ist es auch einfach zu laut und zu viel. Klar! Dann muss man sehen, was man machen kann, vielleicht findet sich eine andere Möglichkeit. Vielleicht findet sich auch erstmal eine Tagesmutter, bei der es vielleicht ruhiger ist. Oder eine Kindertagesverbundpflegestelle. Aber ich behaupte jetzt einfach mal, dass ein überwiegender Teil der Kinder Spaß in der Kita hat. Dass es ihnen gut tut, mit anderen Kindern zusammen zu sein. Dass ihnen in der Kita viel geboten wird.

Mein Eindruck ist auch – und das spiegelte auch unsere Umfrage bei Instagram wieder, an der immerhin 4000 Leserinnen teilgenommen haben – dass der überwiegende Teil der Betreuungseinrichtungen von guter Qualität ist. Vielleicht nicht mega-gut. Aber, dass die allermeisten Erzieher*innen sich Mühe geben. Das bedeutet natürlich nicht, dass alles gut ist! Das ist es nicht. Es fließt zu wenig Geld in Kinderbetreuung, Erzieher*innen sind manchmal überfordert, was auch am Personalmangel liegt, der sicher auch mit der schlechten Bezahlung zu tun hat. Mancherorts sind die Betreuungsschlüssel auch unter aller Kanone. Alles Dinge, die unbedingt geändert werden müssen! Zudem gibt es nicht genug Plätze, die Unterschiede in den Bundesländern sind immens – und es gibt auch noch ein großes Gefälle in Sachen Kosten. Es kann nicht sein, dass ein Krippenplatz in manchen Bundesländern tausend Euro pro Monat kostet! Ist alles Mist. Muss unbedingt geändert werden.

Aber den meisten Kindern geht es gut in der Kita und die meisten Erzieher*innen sind gut ausgebildet und liebevoll. Sie bemühen sich um die Kinder. Zu sagen: “Wie kann man sein Kind nur in die Kita bringen!” wertet all das ab. All die Mühen, all die professionellen Einrichtungen. So viele schrieben uns “wir hatten Glück”. Aber wisst ihr was? Es sind so viele, die Glück hatten, dass man vielleicht auch sagen kann, dass es einfach viele gute Einrichtungen gibt. Viele gute Erzieher*innen. Und nochmal: Natürlich nicht alle! Wie gesagt, es muss viel getan werden. Aber die meisten sind gut und bemühen sich. Ich habe zudem nicht den Eindruck, dass es in der Diskussion wirklich um das “wie” geht. Es geht um das “ob”.

Und dann dieses Wort!!! FREMDBETREUUNG. Erzieher*innen sind nicht fremd. Sie sind Wegbegleiter*innen der Kinder, oft über Jahre. Sie wickeln sie, füttern sie, helfen ihnen in den Schlaf. Sie begleiten ihre sprachliche Entwicklung, helfen beim Trocken werden. Sie singen mit den Kindern, malen und basteln. Sie machen Ausflüge, trösten, schlichten Streit. In vielen Einrichtungen sind Extra-Programme wie Sport Standard, auch Programme wie Aufklärung über Consent und gesunde Ernährung. Das sind übrigens Dinge, die viele Kinder zuhause in der Familie nicht mitbekommen. Für manche Kinder ist die die Kita der einzige Ort, an dem sie eine vollwertige Mahlzeit erhalten, auch wenn das wieder ein anderes Thema ist. Wenn ich also meiner Tochter erzählen würde, dass manche in Deutschland ihre Kita als “FREMD” bezeichnen, sie wäre sicher völlig erbost. Einige Erzieher*innen sind ihr so ans Herz gewachsen, über Jahre. Sie spricht jetzt schon immer wieder darüber, wie sehr sie sie vermissen wird, wenn sie im Sommer eingeschult wird.

All das wertet die wertvolle und wichtige Arbeit von Erzieher*innen ab

Also: Auch der Begriff “Fremdbetreuung” wertet die Arbeit der Erzieher*innen ab. Gerne wird die Kita ja auch als “außerfamiliäre” Betreuung bezeichnet und das impliziert, dass Betreuung innerhalb der Familie immer besser ist. Ist dem so? Ich finde das nicht. Die Erzieher*innen haben den Umgang mit Kindern gelernt, sie sind Pädagogen*innen, wissen, wie Kinder ticken, wie sie ihnen begegnen. Ob die 70-jährige Oma, die vielleicht noch mit einem ganz anderen Erziehungssystem aufgewachsen ist, das besser kann, bezweifle ich. Ich bekomme so oft mit, wie schwierig es am Ende mit Großeltern, Tanten, etc. ist, weil sie eben ganz anders gelernt haben, mit Kindern umzugehen. Es gibt natürlich auch ganz tolle Großeltern und andere Familienmitglieder, aber ich will damit sagen, dass “innerhalb der Familie” doch wirklich nicht automatisch besser ist. Und die Oma, die alle paar Monate kommt, ist doch im Zweifel auch “fremder” als die Erzieherin, die das Kind jeden Tag sieht.

Viele, die ihre Kinder vor drei partout nicht abgeben wollen, argumentieren auch gerne damit, das sei der “natürlichere” Weg. “Früher” seien die Kinder ja auch einfach zuhause gewesen. Auch das stelle ich ganz klar in Frage. Denn die Kleinfamilie, wie sie heute die meisten leben, ist überhaupt nicht “natürlich”. Der Mensch ist eigentlich mehr ein Herdentier, “früher” hat man eher in der Sippe gelebt, in der Gemeinschaft. Das Klischee vom Bauernhof, an dem alle wuseln und arbeiten und zusammen leben, trifft es sicher eher, als Mutter, Vater, Kind von heute (und dann auch noch abwesender Vater, weil so ist es ja meistens, dass dieser die meiste Zeit weg ist). Und da waren die Kinder dann oft einfach zusammen, altersgemischt, die Großen passten auf die Kleinen auf, oft frei und unbeobachtet. Kommt die Kita nicht viel eher an dieses vermeintlich “natürliche” Aufwachsen ran? Da sind auch viele Kinder, die lernen, miteinander umzugehen. Es ist auf jeden Fall nicht “natürlich”, dass ein Kind alleine bei seiner Mutter den ganzen Tag verbringt. Aber so ist es ja meist gemeint, wenn die Kita erst mit drei oder sogar gar nicht sein soll. Sicher geht man dann auch mal in einen Kurs, trifft Freund*innen. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Kinder am glücklichsten sind, wenn sie in altersgemischten Gruppen frei agieren können – und das können sie eben in der Kita.

Ob es nun mit eins ist, mit sechs Monaten, mit zwei oder drei, ist mir eigentlich egal. Auch wie lange. Ob bis mittags, oder bis abends. Jedes Kind ist anders, die Bedürfnisse sind unterschiedlich und – wie gesagt – manchen Kindern ist eine Kita auch am Anfang noch zu viel. Manchmal ist es auch beruflicher Druck und es geht gar nicht anders. Manch eine Frau will vielleicht auch einfach eine berufliche Auszeit haben, eng mit dem Kind oder den Kindern sein und möchte sie betreuen. Dann sollen sie das aber bitte auch so sagen, dass sie das gerne so möchten. Und nicht die Kita generell bashen.

Ich bin der Meinung, dass die allermeisten Kinder von der Kita profitieren. Und zwar auch und gerade schon vor drei Jahren. Wie gesagt: Es gibt Ausnahmen! Aber ich kann nicht glauben, dass so viele Frauen immer noch durch die Welt laufen und schreien, “Betreuung vor drei ist schlecht!”. Denn das ist einfach nicht wahr. Und zeugt von Ideologien und Bildern, die längst überholt sein sollten.

Fremdbetreuung ist die Betreuung bei Ikea

Können wir also den Begriff “Fremdbetreuung” bitte endlich aus unserem Wortschatz streichen? Nora Imlau hat letzte Woche in ihren Insta-Stories erzählt, dass dieser Begriff während der deutsch-deutschen Teilung verwendet wurde, um aus dem Westen heraus die Krippenbetreuung im Osten abzuwerten (die klar auch kritisch zu sehen ist!). Er ist also sowas von “von gestern”. Er ist Teil einer ideologischen Auseinandersetzung unterschiedlicher Systeme. Sie erzählte weiterhin, der Begriff sei immer abwertend und diskreditierend gemeint. Ich habe dazu keine Quelle gefunden, aber es macht so so viel Sinn. Lasst uns dieses Wort also einfach bitte, bitte nicht mehr verwenden für Kitas und andere Betreuungseinrichtungen. Nora schlägt vor: für die Betreuung bei IKEA kann man es verwenden, oder im Hotel. Wenn die Kinder wirklich für kurze Zeit bei völlig Fremden gelassen werden. Guter Vorschlag, oder?

Vielleicht ist es kein Wunder, dass zu wenig Fokus auf der (Klein-) Kinderbetreuung in Deutschland liegt. Dass der Beruf “Erzieher*in” so wenig Ansehen genießt und schlecht entlohnt wird. Denn es gibt so viele Menschen da draußen, die ihn durch ihre Wortwahl und auch ihr Verhalten diskreditieren. Die behaupten, sie könnten ihren Kindern automatisch eine “bessere” Betreuung bieten, als ausgebildetes Personal (das ja auch einen Bildungsauftrag hat!) Das ist jetzt vielleicht eine gewagte These, aber durchdenken kann man sie mal…

Man soll nicht von sich auf andere schließen und keine anekdotische Evidenz als Beweis erbringen. Ich möchte es dennoch erzählen: In meinem Umfeld sind eigentlich alle Kinder vor drei eingewöhnt worden. Die Erfahrungen waren überwiegend positiv, die Kinder profitieren noch heute davon. Meine Kinder wurden mit 13, bzw. 16 Monaten eingewöhnt. Sie haben die Kita GELIEBT und ich kann felsenfest sagen, dass ihnen dort etwas geboten wurde, was ich nie hätte leisten können. Alleine die Gemeinschaft, sich selbst als Teil der Gruppe wahrnehmen – das war so wichtig für sie. Ihre individuellen Talente wurden gefördert, wenn es Probleme gab, wurden diese offen mit uns besprochen und gelöst. Auch wenn es mal holprig war, waren das im Nachhinein gute Erfahrungen, an denen man gewachsen ist. Wir hatten sicher auch Glück, aber nicht, weil wenige Einrichtungen so gut sind, wie unsere, sondern weil sie eben auch perfekt für unsere Kinder gepasst hat. Ich kenne durchaus Eltern, die ein paar Mal gewechselt haben. Weil es nicht so richtig gematcht hat – mit den anderen Kinder, den Erzieher*innen, den Öffnungszeiten, oder oder. Es gibt natürlich auch nicht-warmherzige Erzieher*innen, es gibt alles. Katharina hat vor Jahren mal ihre Situation hier geschildert. Kita ist eine sehr persönliche Sache und ich finde es logisch, dass es auch mal nicht passt und man dann eine Alternative sucht. Ich weiß auch, dass wir Eltern es in Berlin vergleichsweise gut haben, weil es hier einfach schon relativ gute Strukturen gibt. Ich beobachte aber auch immer wieder ein, ich nenne es mal, “Ost-Süd-Gefälle” in Sachen Kita-Toleranz. In meiner Wahrnehmung geht die Toleranz zurück, je südlicher man sich bewegt. Überspitzt formuliert: in Bayern hört man öfter “Das Kind gehört zur Mutter”. Und dass das ideologische Ursprünge hat, liegt für mich auf der Hand. Ich bin sehr dankbar dafür, dass in Berlin die meisten Familien ähnlich verfahren. Das Kind wird irgendwann in den ersten zwei Jahren, je nachdem, wie es passt und nötig ist, eingewöhnt – fertig. Keine ideologischen Diskussionen. Das macht es allen einfacher. Ich behaupte mal: auch den Kindern.

Wie gesagt: Das Prinzip “Kleinkindbetreuung” generell zu verteufeln finde ich gestrig und überholt (und im Übrigen auch eine sehr privilegierte Sichtweise). Wenn ihr sowas denkt: Fragt euch, warum.