“Rassismus ist ein komplexes System, das auch für Erwachsene oft schwer zu verstehen und zu erklären ist.”

Ja, es bedrückt einen schon, wenn man das Lieblingskinderbuch plötzlich aus einem anderen Blickwinkel betrachten muss und merkt: Es ist nicht gut gealtert. Aber der Rassismus mit dem unsere Generation aufgewachsen ist, steckt leider auch heute noch in so vielen Medien für Kinder, selbst wenn wir uns von einigen “Klassikern” verabschieden. Ob in Kinderbüchern oder -Filmen: Rassismus ist allgegenwärtig. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin Lisa Pychlau-Ezli hat zusammen mit Özhan Ezli dazu geforscht.

Liebe Lisa, alle lieben den Grüffelo. Das Buch wird immer wieder neu verlegt, es gibt einen Film, ein Hörspiel. Ist der Grüffelo rassistisch?

Explizit rassistisch ist er nicht, aber implizit funktioniert das Buch nur aufgrund vorhandener kultureller Muster, wie der “Angst vorm schwarzen Mann”, die wiederum auf rassistischen Menschenbildern aufbauen. Der Grüffelo ist aber meines Erachtens nicht die größte Baustelle, wenn es um Rassismus in Kinderbüchern geht. Viel mehr Bedenken habe ich aktuell wegen der “Thabo”-Reihe von Kirsten Boie, die demnächst ins Kino kommen soll. Hier werden rassistische Denkmuster viel deutlicher reproduziert als im Grüffelo.

Oh, was ist denn das Problem mit “Thabo”?

Hier ist das Schwarze wieder das Andere, also nicht die Norm. Der Hintergrund der Geschichte ist ja die Aids-Krise in Swasiland, mittlerweile heißt es Eswatini und dort leben viele Aids-Waisen. Die Autorin Kirsten Boie deutet das Dasein der Menschen dort, den Hunger und die Armut positiv zum Zwecke der Unterhaltung weißer Menschen um. Das entspricht dem “White Gaze”: Schwarze Menschen spielen nur dann eine Rolle, wenn sie als Unterhaltung gelten. Was mich auch stört: Die kleine Schwester von Thabos besten Freund wird ständig mit Affen parallelisiert…

Wenn man liest, in wie vielen Büchern und Filmen auf rassistische Stereotype zurückgegriffen wird, könnte man sich ernsthaft fragen, ob es überhaupt möglich sei, diese Rassismen auszusortieren. Sie scheinen ja in unserer Alltagskultur festverankert zu sein – und auch in der Kulturgeschichte. Glaubst du, es ist möglich Geschichten ohne Rassismen zu erzählen?

Ja, das “ob” stelle ich gar nicht infrage. Es kommt immer darauf an, “wie” man Geschichten erzählt. Wenn man sich als vorlesende Person nicht sicher ist, ob ein Text, der Afrika oder Schwarze Protagonist:innen zum Thema hat, Rassismen enthält, dann kann man sich ziemlich sicher sein, dass dies nicht der Fall ist, wenn der/die Autor:in potenziell selbst von Rassismus betroffen ist. Dies gilt übrigens für alle Diskriminierungsformen, auch Ableismus beispielsweise. Ich empfehle hier gerne die Reihe “Planet Omar” von Zanib Mian. Da die britische Autorin selbst Muslima ist, enthalten ihre Geschichten keinen anti-muslimischen Rassismus, sondern machen eher auf diesen aufmerksam, aber leicht und spielerisch.

Ihr berichtet im Buch von einer „weißen Norm“ in deutschen, englischen, amerikanischen Kinderbüchern. People of Color werden unsichtbar gemacht oder als das Andere/Fremde dargestellt (Othering). Auch in vielen Spielen oder Rätseln für Kinder entdeckt man diese Sichtweise. Warum brauchen Verlage so lange, um etwas zu ändern?

Rassismuskritik, die langfristig zu positiven Veränderungen führt, ist in der Regel auf das Engagement von Einzelpersonen zurückzuführen und nicht auf eine Eigeninitiative von Institutionen wie z.B. dem Literaturbetrieb. Das heißt, von alleine ändert sich da leider nichts. Außerdem ist der deutsche Kinderbuchmarkt vor allem eine wirtschaftlich orientierte Branche. Die Kinderliteratur ist mit einem Umsatzanteil von rund 20% des gesamten deutschen Buchmarkts die zweitwichtigste Warengruppe nach der Belletristik. Platt formuliert geht es hier also vor allem um Umsatz und nicht um Fairness. Es gilt jedoch das Prinzip von Angebot und Nachfrage. An dieser Stelle sind also alle gefragt, die Kinderbücher kaufen und sich überlegen, ob sie noch weitere Conni-Bücher erwerben sollen, oder mal was Neues ausprobieren möchten. Es hat sich allerdings bereits etwas getan: Nicht-weiße Kinder werden in neueren Büchern und auch in Schulmedien zunehmend mitgedacht; auch wenn die Umsetzung teilweise noch fragwürdig ist.

Was kritisierst du an der Umsetzung? 

Ein Beispiel: Es gibt das “Anouk” Heft vom Klett Verlag.  Dort haben sie die Feder weggelassen und I-Symbolik immer weiter reduziert. Wenn ich aber mein Kind frage, was siehst du da? Antwortet es: Ein I! Ein weiteres Beispiel für eine mangelhafte Umsetzung ist Tokenismus. In Schulbüchern gibt es mittlerweile einen Ali oder eine Elif, aber die Lehrer:innen bleiben alle weiß. Hier bräuchte es wirklich Sensitivity-Gutachter:innen, die sehen sowas nämlich.

Auch wenn man „modernere“ Kinderbücher anschaut, sind nur sehr wenige Nicht-Weiße Menschen darin zu sehen. Hast du ein paar Tipps für Bücher, die es besser machen?

Es gibt inzwischen Verlage mit einer bewusst diversitätssensiblen Ausrichtung, wie beispielweise den Zuckersüß Verlag, Berlin, der ja dieses Jahr den deutschen Verlagspreis gewonnen hat. Außerdem verweise ich gerne auf den Shop “tebalou.de“, da gibt es auch Bücher, und auf den Blog “buuu.ch“, hier werden Kinderbücher im Hinblick auf Diversitätssensibilität besprochen bzw. empfohlen. Die Bücher von Constanze von Kitzing sind wirklich schön. “Julian ist eine Meerjungfrau”, “Nelli und die Berlinchen” oder “Kalle und Elsa” sind ja inzwischen fast Kult. Es gibt da schon einiges, man muss sich halt ein bisschen umschauen. Grundsätzlich finde ich es aber viel wichtiger, dass vorlesende Personen die Kompetenzen entwickeln, um Rassismus in (Kinder-)Büchern oder auch in anderen (Kinder-)Medien selbst erkennen zu können. In Deutschland neigen wir viel zu sehr dazu, Bücher zu ikonisieren. Nicht alles, was zwischen zwei Buchdeckeln steckt, ist pädagogisch wertvoll. Da darf man ruhig mal (literatur)kritisch sein, auch gegenüber den sogenannten “Klassikern”. Für den Anfang helfen die Fragen: Was steht in diesem Buch eigentlich genau drin? Was ist die Kernaussage? Was sind die Menschen- und Weltbilder, welche Werte und Normen werden hier vermittelt? Kommen nicht-weiße Figuren vor? Wie werden sie dargestellt? Wie groß ist ihr Anteil an der Handlung?

Die Bücher von Otfried Preußler sind laut eurer Forschung rassistisch, besonders das kleine Gespenst. Warum?

Otfried Preußler neigt in vielen seiner Bücher zu einer starken Farbsymbolik; so auch im “Kleinen Gespenst”. Schwarz und weiß werden hier bewusst einander entgegengesetzt und weiß dabei sehr positiv konnotiert und schwarz sehr negativ. Das kleine Gespenst findet seine eigene schwarze Körperfarbe “abscheulich” und kann gut verstehen, dass alle Menschen Angst vor ihm haben. Die Figuren in diesem Text halten das schwarze kleine Gespenst auch gar nicht für ein Gespenst, sondern für eine “schwarze Gestalt”, also einen schwarzen Menschen. Das geht in dem Buch gar nicht, da kommt sofort die Polizei, um diese vermeintliche schwarze Person zu fangen. In der weißen Gesellschaft dieser Geschichte wird eine schwarze Figur also pauschal als illegitim eingeschätzt und von der Polizei (!) gejagt. Außerdem haben die weißen Figuren vor dem schwarzen Gespenst Angst, vor dem weißen Gespenst aber nicht. Eine schwarze “Gestalt” ist somit bedrohlicher als ein Gespenst … Das sind alles keine Botschaften, die ich Kindern mitgeben möchte.

Du findest Alltagsrassismus in „Die Schule der magischen Tiere“. Was genau findest du problematisch?

Bei dieser Reihe geht es mir vor allem um das Thema Tokenismus. Die Figuren Hatice und Anthony werden stereotyp dargestellt und spielen eher eine Nebenrolle; das Thema “Islam” wird peinlich vermieden. Für mich sieht das so aus, als hätte Margit Auer hier vor allem einen Trend bedienen wollen; Kinder, die sich selbst als türkisch bzw. Schwarz/afrodeutsch identifizieren, werden sich in den beiden Figuren schwerlich wieder erkennen können. Ein Empowerment findet hier also nicht statt. Dennoch werte ich es positiv, dass die Autorin diese Kinder mitgedacht hat; das war früher anders.

Du hast selbst Kinder. Wie gehst du damit um, wenn du etwas Rassistisches oder einen Stereotyp in einem Buch oder Kinderfilm entdeckst? Sprecht ihr dann darüber? 

Dem Thema Rassismus im Kinderbuch begegnen wir vor allem durch ganz viele Positivbeispiele, also indem wir Bücher lesen, die ganz selbstverständlich alle Kinder klischeefrei repräsentieren. Bücher wie “Pippi in Taka Tuka Land” oder “Jim Knopf” lese ich nicht vor. Rassismus ist ein komplexes System, das auch für Erwachsene oft schwer zu verstehen und zu erklären ist. Kleine Kinder sind kognitiv noch nicht in der Lage, solchen Erklärungen oder historischen Einordnungen zu folgen. Unsere Kinder haben dafür auch gar nicht die Geduld, die wollen einfach nur wissen, wie die Geschichte weitergeht. Die häufigste Form von Rassismus ist die fehlende Repräsentation von nicht-weißen Menschen. Das kann man Kindern ziemlich einfach zeigen und erklären. Begriffe wie das N-Wort, das Z-Wort oder das I-Wort hingegen verwende ich im Umgang mit unseren Kindern nicht. Wenn ich dieses Wort ausspreche und gleichzeitig sage, dass man es nicht sagen darf, sendet das eine verwirrende Doppelbotschaft, da ich selbst es ja gerade gesagt habe … Und warum sollte ich meinen Kindern ein rassistisches Vokabular beibringen? Ansonsten achte ich darauf, dass ich Kindern keine Darstellungen zeige, in denen Schwarze Menschen animalisiert, exotisiert, kriminalisiert oder naturalisiert etc. werden. Leider sind die Comics, die ich selbst als Kind gerne gelesen habe, voll davon, also nichts für uns.

Ich achte darauf, dass ich Kindern keine Darstellungen zeige, in denen Schwarze Menschen animalisiert, exotisiert, kriminalisiert oder naturalisiert etc. werden. Leider sind die Comics, die ich selbst als Kind gerne gelesen habe, voll davon, also nichts für uns.

Ganz grundsätzlich hat Rassismus viele Gesichter und äußert sich auch in Kinderbüchern immer wieder anders, weshalb ich keine pauschalen Lösungen bieten kann, außer die Anregung, sich selbst fortwährend zu informieren und weiterzubilden.
Auf jeden Fall aber benenne ich Rassismus, wann immer ich ihm begegne. Damit gebe ich meinen Kindern einen Begriff an die Hand, mit dem sie Ungerechtigkeiten bezeichnen können, anstatt mit dem diffusen Gefühl zu leben, hier läuft etwas falsch, oder ihn unbewusst zu verinnerlichen. Wenn uns z.B. in einem Schulbuch eine Weltkarte für Kinder unterkommt, die eurozentrisch ist und auf Bildebene Europa Gebäude und Kultur zuordnet und Afrika Lehmhütten, nackte Menschen, wilde Tiere und Palmen (und das ist fast immer der Fall), dann erkläre ich, dass diese Darstellung rassistisch ist, weil Afrika mehr ist als nur Dschungel und Lehmhütten. Sehr empfehlen kann ich als authentische Darstellung das Buch “Afrika. Kreuz und quer durch einen bunten Kontinent” der simbabwischen Autorin Kim Chakanetsa und des nigerianischen Künstlers Mayowa Alabi. Hier haben meine Kinder und ich z.B. erfahren, dass es in Afrika üblich ist, mit dem Smartphone zu zahlen; Afrika also technologisch zum Teil schon weiter ist als Deutschland. Unsere Kinder können auf diese Weise gut nachvollziehen, dass Weltkarten für Kinder oft einseitig und fehlerhaft sind und dass der Fehler “Rassismus” heißt.

Danke dir Lisa!

“Wer darf in die Villa Kunterbunt?” von Lisa Pychlau-Ezli und Özhan Ezli. Erschienen im Unrast Verlag.