Vom Mut, zum eigenen Kind zu stehen

Manchmal bekommen wir Leserinnenbriefe, die sind so vollgepackt mit guten Gedanken, dass wir sie am liebsten veröffentlichen würden. In diesem Fall haben wir das tatsächlich mal getan. Danke an unsere klugen, reflektierten LeserInnen!! Der Beitrag zum Thema “Hauptsache gesund“ auf Little Years hat bei mir viel bewegt. Ich bin dankbar, dass dieses ewige Mantra endlich kritisch beleuchtet wird. Jahrelang hat es mich persönlich unter Druck gesetzt. Als Mutter einer behindertenTochter habe ich nämlich im Laufe der Jahre sehr oft analysiert, warum mir die Akzeptanz meiner Situation schwer gefallen ist – und auch heute noch mitunter schwer fällt.

Die Antwort lautete unter Anderem: Weil ICH als Frau dem Anspruch “Hauptsache gesund” nicht gerecht geworden bin. Während es meine Tochter zumindest in den Anfangsjahren herzlich wenig gekümmert hat, „Defizite“ zu haben, wurde meine innere Stimme von der Stimme meiner Schwägerin dominiert. Diese ließ sich gerne pikiert darüber aus, dass man ein behindertes Kind ja keinem wünschen würde. In meiner Rolle als Wunscherfüllerin der Familie hatte ich also versagt.

Mitnichten ein frommer Wunsch

“Hauptsache gesund” ist nämlich mitnichten immer ein frommer Wunsch Außenstehender an die werdende Mutter. Es ist eine versteckte Forderung der Verwandten und der Gesellschaft. Und ja, insbesondere an die Mutter. Nicht an die Eltern. An die Mutter: “Bring ein gesundes Baby auf die Welt. Mach keine Scherereien. Bring niemandem Schande.” Das mit der “Schande” ist ein christliches Dogma, das sicher veraltet klingt – in den Köpfen aber immer noch existiert.

Mit einem behinderten Kind trägt man etwas sehr Intimes an die Öffentlichkeit – im Zweifel wird für jeden offensichtlich, dass über Generationen hinweg genetisch etwas “defekt” ist. Oder dass man als Mutter Erbmaterial in sich trägt, welches in Kombination mit dem des Vaters versagt hat.

Möglicherweise habe ich als Mutter ja auch in der Schwangerschaft etwas falsch gemacht? Und mit dem unbedacht getrunkenen Sekt noch vor dem ersten Test die „Hauptsache“ hauptsächlich verschuldet? So bedrückend waren meine Gedanken während der Tage dunkelster Depressionen.

Erst seitdem ich erkannt habe, dass ich es niemanden schulde, eine perfekt funktionierende Tochter geboren haben zu müssen, um möglichst wenig Last und Arbeit zu verursachen, bin ich sehr viel mehr mit der Situation im Reinen. Bis dahin war es ein langer Weg.

„Hauptsache gesund“ – diesem Anspruch konnte ich bereits mit meinem ersten Kind, bei dessen Geburt ich taufrische 25 Jahre war, nicht gerecht werden. Andere Frauen bringen kurz vor den Wechseljahren Babys auf die Welt, bei denen zu jeder sich bietenden Gelegenheit „Alles in bester Ordnung“ geflötet wird. Mit mir schien also etwas nicht stimmig zu sein. Mein bis in die 20er Jahre endlich stabil aufgebautes Selbstbild kollabierte nach der Geburt meiner behinderten Tochter langsam aber sicher.

Das eigene Ich im Kind

Ein behindertes Kind zu haben, erfordert nämlich ein hohes Maß an Selbstakzeptanz. Ich denke, jeder darf ehrlich sein. Die eigenen Kinder werden immer als ein Teil des eigenen “Ich” wahrgenommen. Töchter repräsentieren die Frauen. Und sich mit unterentwickelten Teilen seiner eigenen Person auseinanderzusetzen und diese zu akzeptieren, ist ja bekanntlich schwer genug.

Gerne verstecken wir unsere „schwachen“ Seiten hinter perfektem Small-Talk und Show. Ein behindertes Kind aber trägt sprachliche Schwächen, motorische Ungelenkigkeit, körperliche Deformationen, Intelligenzminderung, Speichel und Urin in einem Maße und für alle sichtbar an die Öffentlichkeit, wie ich es bis dahin mit meiner Selbstrepräsentanz als nicht vereinbar empfunden habe.

Ich möchte nicht missverstanden werden: „Leistung“ war mir bei meinen Kindern nie wichtig, ich selber habe nie viel auf Karriere und Status gegeben. Meine Kinder waren nie perfekt gestylte „Mini-Me´s“, keines hat auf Teufel komm raus Fremdsprachen und Instrumente gelernt. Ich liebe alle meine Kinder – meine behinderte Tochter aufgrund ihrer Hilfsbedürftigkeit und engen Bindung zu mir möglicherweise sogar noch ein wenig mehr.

Und trotzdem ist es ein Unterschied, ob man mit normal entwickleten Kindern als „coole Persönchen“ im Schlepptau durch den urbanen Dschungel zieht oder mit einem sich schlecht artikulierenden Rolli-Kind.

Ich habe weitere Töchter – allesamt wunderschöne „Leistungskinder“ aus dem Hochglanzkatalog. Mit ihnen bin ich gefühlt der “Star” auf jeder Party. Oder: in jedem Sandkasten, auf jeder Schulfeier, ihr wisst schon.
 Sie repräsentieren eine Teil von mir: Eine selbstbewusste, intelligente und attraktive Frau.

Und mit meiner behinderten Tochter? 
Bin das auch “Ich”? Ähhmmm, tja. Anscheinend ja schon.

Und trotzdem: An schlechten Tagen habe ich mich so gefühlt, als wäre ich mit stotterndem Schulenglisch und immer noch Windeln tragend völlig deplatziert auf einer gestylten Business-Party. Wer würde nicht vor Scham versinken, wenn einem dann auch noch der Teller am Buffet aus der Hand rutscht?

Ich musste tief in mich gehen, um wirklich zu akzeptieren, dass dieses so schwache Kind aus mir hervorgegangen ist. Gerade behinderte Töchter erfordern ein hohes Maß an Selbstakzeptanz – von ihren durch sie irgendwie auch immer behinderten Müttern.

Glücklicherweise ist es mir gelungen.