„Drüben ruft ein Kind viele Male Mama und meint niemals mich.“
„Ich kann das nicht wirklich beeinflussen, ob der Zellklumpen bleibt und zum Kind wird oder nicht. Wenn er nicht bleibt, ist das nicht meine Schuld, wenn er bleibt, ist das nicht mein Verdienst. Aber wir wollen halt alle spüren, spüren, spüren. Beteiligt sein und Einfluss haben und toll sein. “ (Tante Alles, Ricarda Kiel)
Liebe Ricarda, du schreibst in deinem Buch über deine Fehlgeburt, aber auch über Fehlgeburten in deiner Familie. Bei dir hat die Erfahrung dazu geführt, dass du dich bewusst gegen ein Kind entschieden hast. Du schreibst über Neid, Erleichterung, Trauer, aber auch über die Auseinandersetzung mit deiner Geschlechtsidentität… Magst du etwas über die Zeit und den Prozess der Entscheidung erzählen?
Es waren und sind mehrere Prozesse und Bewegungen. Die eine Bewegung waren meine eigenen Fragen, also dieses „Wie will ich leben?“ „Wie wollen wir in unserer Partnerschaft leben?“ „Wollen wir ein Kind haben?“
Und irgendwann der Versuch, dann die Fehlgeburt – und im Anschluss die bewusste Entscheidung, keine Kinder zu bekommen. Anschließend kamen die Fragen nach meiner Geschlechtsidentität.
Aber das war insgesamt ein langer Prozess über Jahre. Wahrscheinlich sogar über ein Jahrzehnt, natürlich mit wechselnder Intensität. Ich mag gar nicht daran denken, wie viel Energie, Gedanken und Zeit in dieses Thema geflossen sind. All die Gedanken, die man sich macht, wenn es um die sogenannte Familienplanung geht. Nicht nur das Versuchen selber, sondern auch dieses ständige Mitdenken und die Auseinandersetzung: „Kann ich das Projekt nächstes Jahr machen oder bin ich dann vielleicht schon schwanger oder Mutter?“ Ich finde, es wird über das, was im Hintergrund abläuft, zu wenig gesprochen.
Fast parallel kamen die Dinge dazu, die den Menschen um mich herum passiert sind. Dieses sehr einschneidende Erlebnis vom Tod meines Neffen, der nur eine Woche alt wurde. Die Geburt meines Patenkindes, eine Hausgeburt, bei der ich auch dabei sein durfte. Das hat natürlich etwas mit mir gemacht. Das waren die großen Sachen und drumherum ist auch viel passiert. Viele Menschen in meinem Umfeld haben in dieser Zeit Kinder bekommen – oder eben bewusst keine, oder haben auch Fehlgeburten erlebt. Das alles kommt in meinem Buch zusammen.
Die Tante Alles ist eine Mischung aus Prosa/Tagebuch und Lyrik. Warum hast du diese Form gewählt?
Ich erzähle in meinem Buch ja auch die Geschichten von anderen Menschen. Sehr persönliche und sensible Geschichten, die ich nicht ausstellen möchte und vor denen ich großen Respekt habe. Deswegen war dafür eine ganz andere Art des Festhaltens nötig. Ein lyrisches, abstrakteres Format hat sich passender angefühlt, um diese Geschichten festzuhalten. So konnte ich erzählen, welche Gefühle diese Ereignisse in mir ausgelöst haben, ohne zu intim zu werden. Meine eigene Erfahrungen und Gefühle habe ich in einer Art Tagebuch aufgeschrieben.
Du hättest ja auch „nur“ ein Tagebuch darüber schreiben können. Warum ist es dir so wichtig, dich öffentlich damit auseinanderzusetzen?
Mir haben in all der Zeit vor allem Texte von anderen geholfen. Texte, die offen mit diesen Themen umgegangen sind. Ich finde, dass es im deutschsprachigen Raum insgesamt sehr wenig Texte dazu gibt, also über kleine und stille Geburten oder Säuglingssterblichkeit und den Umgang damit. Für die Texte, die ich gefunden hatte, war ich so dankbar und ich fand es auch so mutig von den Autor:innen. Dass ich mich öffentlich damit auseinandersetze in Form eines Buches, ist also aus Dankbarkeit, aber auch aus dem Gefühl einer Verpflichtung heraus entstanden. Für mich war schnell klar, dass ich in der Öffentlichkeit darüber sprechen möchte, sobald ich das Gefühl habe, dass ich das so weit durchgearbeitet und einen sicheren Rahmen dafür gefunden habe.
Du schreibst „Tanten beobachten Mütter und ergänzen sie.“ Wer oder was ist für dich die „Tante Alles“?
Die “Tante Alles” ist eine Selbstbeschreibung von mir, ein wenig selbstironisch. In dieser Beschreibung steckt unter anderem der Aspekt drin, dass ich immer alles, was ich machen kann und was in mir angelegt ist, auch machen oder probieren möchte. Also verkürzt gesagt, ich habe eine Gebärmutter, also habe ich grundsätzlich die Möglichkeit, ein Kind zu bekommen und mit einem Kind zu leben und es aufwachsen zu sehen und zu unterstützen, also möchte ich das auch tun. Der lange Prozess meiner Entscheidungsfindung hatte auch ganz viel damit zu tun, dass ich mir eingestehen musste: Ich will gar nicht alles, was in mir angelegt ist. Das hat einen Widerspruch in mir aufgezeigt. Auf der einen Seite wollte ich alles sein, und auch zeigen und beweisen, dass es geht. Und auf der anderen Seite habe ich mich irgendwann bewusst gegen bestimmte Sachen entschieden.
Aber bei der „Tante Alles“ klingt noch mehr mit. Zum Beispiel die Tante Alles als Mädchen für alles, das sich immer um alle(s) kümmert. Und auch der schöne Punkt, dass das Tante-Sein auch immer im Bezug zu den Eltern steht. Eine Tante ist ja erstmal keine losgelöste Figur. In der Idealvorstellung gibt es da eine Verbindung und gemeinschaftliche Fürsorgearbeit, die natürlich in jeder Familie ganz anders aussehen kann.
Und eine weitere Komponente bei der „Tante Alles“ ist tatsächlich auch die Geschlechtsidentität. Also die Frage, ob ich eine Entscheidung treffen muss oder nicht. Muss ich binär Mann oder Frau sein? Oder kann ich auch auf eine Art alles sein?
Die „Tante Alles“ ist eine mythische Figur, die hilfreich für mich ist, um all diese Themen und Aspekte zu bündeln.
Was war ausschlaggebend, dass du dich dann gegen Kinder entschieden hast? Du schreibst auch, dass Kinder bzw. die Struktur, in die Familien gedrückt werden, nicht mit der Freiheit zusammengeht. Das fand ich total spannend, weil da etwas mitschwingt, was ganz viele Mütter beschäftigt. Dieser Gegensatz, dass man es zwar liebt, Mama zu sein, man aber eigentlich nicht gern Mutter in dieser Gesellschaft und den damit einhergehenden Strukturen ist.
Ja, das trifft es tatsächlich ganz gut. Für mich war nicht die Sorge um Kinderbetreuung oder so was entscheidend. Das hätten wir vermutlich schon gestemmt. Es geht viel mehr um die großen und kleinen Strukturen dahinter, die auf ganz vielen Ebenen mitlaufen. Mutter in dieser Gesellschaft zu sein ist nach wie vor mit wahnsinnig vielen Erwartungen und Bildern überhäuft, denen ich gar nicht entsprechen möchte.
Es gibt natürlich ganz viele Mütter, die nicht diesen Bildern entsprechen und vor denen ich den allergrößten Respekt habe, die für mich Vorbilder sind. Für mich ganz persönlich fühlte es sich trotzdem nicht mehr stimmig an, nach all den Sachen, die ich erlebt habe. Die Komponente Zufall spielt dabei auch eine Rolle. Das will ich auch in dem Buch zeigen, dass viele Entscheidungen vielleicht gar nicht so bewusst getroffen werden, wie man denkt. Sondern sehr vom Zufall abhängen. Eventuell hätten wir ein Kind bekommen, wenn einige Dinge anders gelaufen wären und dann hätte ich mir auch zugetraut, mich mit der Mutterrolle auseinanderzusetzen und meine ganz eigene zu finden. Ich habe ja auch viele tolle Beispiele in meinem Umfeld.
Ich hatte aber am Ende des Prozesses einfach eine ganz, ganz starke Sehnsucht danach, dieses Thema abzuhaken. Ich wollte irgendwann einfach einen Schlusspunkt finden, nachdem ich mich viele Jahre damit auseinandergesetzt hatte. In einer anderen Phase meines Lebens hätte das vielleicht anders ausgesehen, aber mit Ende 30, mit den aktuellen gesellschaftlichen Strukturen und der Lage der Welt, war für mich diese Entscheidung richtig.
Du hast dir jetzt eine ganz eigene Form von Familie geschaffen…
Die Beziehung zu meinem Patenkind, die eine sehr, sehr enge ist und die ich auch sehr bewusst gestalte, ist für mich tatsächlich Familie. Diese Beziehung verändert mich auch, was ich total toll finde. Vielleicht ist das sogar meine Definition von Familie: Dass da Menschen sind, für die ich eine sehr bedingungslose Verantwortung spüre. Deren Leben ich verändere und beeinflusse und sie wiederum meines.
Und ich spüre immer mehr Möglichkeiten, mit etwas Abstand zu der Frage, ob ich biologische Kinder haben möchte. Ich könnte mir inzwischen zum Beispiel auch vorstellen, künstlerische Projekte mit Kindern zu machen.
Die Familie mit deinem Patenkind – ist das eine Entscheidung, die ihr bewusst getroffen habt? Ihr habt dadurch ja quasi dieses Dorf erschaffen, das sich viele Eltern wünschen.
Das war definitiv ein sehr bewusster Prozess von allen Beteiligten. Das wird schon dadurch sichtbar, dass ich bei der Geburt dabei sein durfte. Damit wurde von uns allen schon der Grundstein dafür gelegt, dass das eine sehr enge Beziehung werden darf. Und tatsächlich lieben wir uns heiß und innig, in beide Richtungen. Das einzige Problem an der Situation ist, dass wir nicht in der gleichen Stadt leben, sondern vier Zugstunden voneinander entfernt sind. Durch Corona wurde die Situation natürlich nicht unproblematischer. Das hat für mich Corona auch zusätzlich sehr sehr bitter gemacht, da es unsere Intensität und die Besuchsintervalle total eingeschränkt hat. Ich hatte in der Zeit wirklich richtige Verlustängste und die Sorge, dass das Kind mich vergisst oder unsere Beziehung darunter leidet. Um so schöner war es dann zu sehen, dass es trotzdem funktioniert. Und mein Vertrauen in unsere Beziehung ist dadurch sogar noch gewachsen. Ich habe in der Zeit einfach viele Briefe geschrieben und wir haben viel videotelefoniert. Dadurch, dass ich eine so große Rolle im Leben der Mutter meines Patenkindes spiele, kann und darf ich auch immer sehr präsent sein. Und seit das Kind sprechen kann, ist es viel einfacher geworden.
Ich habe auch von Anfang an versucht, mich wirklich einzubringen, habe gewickelt und ins Bett gebracht. Wenn ich da bin, schlafe ich immer im Zimmer meines Patenkindes. Ich versuche, die Eltern zu entlasten und gleichzeitig Bindung aufzubauen. Dabei möchte ich auch keine Sonderrolle haben und nur mal kurz vorbeikommen, Süßigkeiten mitbringen und Quatsch machen. Ich will wirklich Teil der Familie sein und darf das zum Glück auch. Wenn ich dort bin, bin ich Teil des Alltags. Letzten Sommer habe ich zum Beispiel die Kitaschließzeit mit überbrückt und habe zwei Wochen dort gewohnt. Natürlich knirscht es dann auch zwischendrin, die Wohnung ist nicht wirklich groß genug für uns alle. Aber das gehört dazu und ist wahrscheinlich in jeder Familie so. Knirschen entsteht ja durch eine gewisse Nähe und wenn du Familie ernst nimmst, musst du halt auch mit dem Knirschen umgehen.
Familienbilder & -formen – Was muss sich diesbezüglich in der Gesellschaft ändern? Und was wünschst du dir?
Oh, da gibt es sehr viel. Als erstes fällt mir dieses Gegenüberstellen und Schwarz-Weiß-Malen ein. Also, dass es nur Menschen mit oder Menschen ohne Kinder gibt, und dass wir so tun, als wäre beides immer genau so gewollt. Diese angeblich harte Grenze ist so viel fransiger im echten Leben und das ist auch etwas, was ich mit dem Buch zeigen möchte. Es gibt so viele Geschichten und so viele Grauzonen dazwischen.
Ja, manche Menschen haben Kinder in ihrem Leben und manche nicht. Aber was ist mit all den Geschichten, die ausradiert werden? Die Menschen, die Kinder hatten, die aber gestorben sind. Kinder, die ganz kurz nach der Geburt gestorben sind oder noch in der Schwangerschaft. Menschen, denen es körperlich nicht möglich ist, eigene Kinder zu bekommen. Menschen, die abgetrieben haben. Menschen, denen es gesellschaftlich, rechtlich oder finanziell unmöglich gemacht wird, eigene Kinder zu bekommen. Es gibt eine riesige Bandbreite von Schicksalen und Personen, über die wir überhaupt nicht sprechen, wenn es um Familienbilder geht – obwohl wir oft genau wissen, dass das nicht der Realität entspricht, gehen wir in Gesprächen um Elternschaft meist unbewusst immer noch von einem weißen Cis-Mann und einer weißen Cis-Frau aus, die keinerlei körperliche Einschränkungen haben, ausreichend Geld und bei denen es ziemlich schnell „klappt“.
Dadurch entsteht auch ein Unverständnis. Um wirklich verstehen zu können, braucht es mehr Empathie. Wie sind Menschen an diesen Punkt in ihrem Leben gekommen? Was bewegt sie, was hat sie geprägt? Wer oder was hat sie eingeschränkt? Das spielt in vielen Debatten und Diskussionen leider keine Rolle. Da würde ich mehr Verständnis füreinander wünschen und dass wir uns insgesamt mehr zuhören und Fragen stellen.
Zum Beispiel auch im Umgang mit Fehlgeburten. Viele haben auf mich ganz anders reagiert, als ich es vielleicht in dem Moment gebraucht hätte. Sie wollten mir Hoffnung machen, dass es bestimmt bald klappt, ohne zu wissen, was ich jetzt eigentlich will und an welchem Punkt ich stehe. „Und willst du es weiter versuchen?“ oder „Wie fühlt sich das für dich an?“ hätte mir besser getan als ein „Das wird schon, soundso war auch drei Monate danach wieder schwanger.“. Da würde es helfen, einfach mehr Fragen zu stellen, anstatt die eigenen Erwartungen und Wünsche anderen überzustülpen.
Und um nochmal auf deine andere Frage zurückzukommen, das ist wirklich auch ein Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe und warum ich finde, dass es in die Öffentlichkeit muss. Bei all diesen Themen geht das Fragen stellen und Zuhören so schnell verloren. Dabei ist es so wichtig verstehen zu können, warum sich jemand so fühlt. Und dass man auch all die Widersprüche aushalten kann. Dass eine Person zum Beispiel wirklich bereuen kann, Kinder bekommen zu haben und gleichzeitig trotzdem eine riesengroße Liebe für ihre/seine Kinder hat. Das geht. Wir Menschen sind so und tragen diese Widersprüche in uns. Das Verständnis füreinander können wir aber nur üben, wenn wir darüber und vor allem miteinander sprechen. Und das hier ist eben meine Geschichte und meine Erzählung – und es ist ja auch nur eine von zig anderen. Ich will auch gar nicht, dass meine Stimme für irgendwas bestimmtes steht. Ich will damit einfach nur anderen Mut machen, auch ihre Geschichten zu erzählen, in welcher Form auch immer.
Danke für das schöne Gespräch, Ricarda!
„Mir wird klar, dass viele in dem Moment einer Fehlgeburt nicht nur dieses eine Kind verabschieden müssen, sondern ihre gesamte Vision von Familie. Und das tue ich nicht, denn Familie bedeutet für mich etwas anderes und dafür begrüße und verabschiede ich zu oft Vorstellungen. Es war ein schönes Bild vom Leben mit Kind, Kind im Garten und den Fingern in der Erde, Kind im Wäldchen Hütten bauend, mit mir am Tischlein Collagen klebend, kichernd und umherrennend in unserer Wohnung, eingeschneggelt zwischen uns im Bett.“ (Tante Alles, Ricarda Kiel)