Was wirklich zählt

In Berlin gehen die meisten Kinder sechs Jahre lang in die Grundschule – erst zur siebten Klasse wechseln sie in eine weiterführende Schule. Ich finde das ein gutes System, es ist hinreichend bekannt und wissenschaftlich erwiesen, dass in Deutschland meist zu früh getrennt wird (nach der vierten Klasse) und dass das insbesondere sehr zur Ungleichheit in unserem Land beiträgt. Aber Berlin wäre nicht Berlin, wenn es nicht ein großes ABER geben würde.

Denn weil die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie trotz enormem Zuzug nach Berlin in den letzten 20 Jahren fleißig Schulen geschlossen, Gebäude verkauft und andere marode hat werden lassen, gibt es schlicht zu wenig Oberschulen in dieser Stadt. Dazu kommt natürlich ein großer Mangel an Lehrkräften. Das führt dazu, dass die einschlägigen Oberschulen einen Numerus Clausus haben. Yep, ihr habt richtig gehört, Berliner Kinder müssen sich in vielen Stadtteilen bereist im zarten Altern von durchschnittlich elf Jahren damit auseinandersetzen, dass sie nur mit einem Einser-Schnitt (es gibt Schulen, da ist 1,5 schon zu schlecht) an ihre Wunschschule kommen.

Ich will mich darüber jetzt hier gar nicht weiter auslassen, man ist sich dieses Problems bewusst und anscheinend lief es zum letzten Wechsel auch schon besser, als im Jahr davor (da waren hunderte Kinder einfach ganz ohne Schulplatz geblieben und vielen wurde ein Schulweg von einer Stunde quer durch Berlin zugemutet). Was ich eigentlich erzählen möchte ist, dass diese Situation meinen 10-jährigen Sohn durchaus belastet. Er ist jetzt in der fünften Klasse, er weiß, im zweiten Halbjahr zählt jede Note. Schon jetzt wird immer mal wieder darauf hingewiesen, was alles “in die Benotung reinfällt”. Als er mir letztens sein Leid klagte und von dem Druck erzählte, den er deutlich spürt, wurde ich erst sauer auf dieses System, dann aber ganz mild.

Ich sagte: „Weißt du. Am Ende ist es wirklich EGAL, wie gut du in der Schule bist. Ich kenne niemanden, bei dem es im weiteren Leben eine Rolle gespielt hat, ob man eine Vier oder eine Eins in Mathe hatte. Im Gegenteil, viele sehr erfolgreiche und glückliche Menschen waren richtig schlecht in der Schule.  Wenn es nicht klappt mit der Wunschschule. Dann finden wir eine andere Lösung. Es gibt zig Möglichkeiten, eine gute Ausbildung zu bekommen, unzählige Wege, etwas zu lernen, worin man gut ist, das Freude macht und womit sich Geld verdienen lässt.

„Wenn Noten aber keine Rolle spielen, warum sind sie dir sonst so wichtig?“ fragte er. Schlaues Kind. Denn natürlich kann ich den Druck, den ich selbst meine ganze Schulzeit über verspürt habe, nicht abschütteln. Ich projiziere ihn auf mein Kind, will ihn vor der Schmach, die schlechte Zensuren bedeuten, bewahren. Ich freue mich, wenn er gute Noten nach Hause bringt. Bei einer drei oder vier schimpfe ich sogar leise, dass das ja nun wirklich nicht hätte sein müssen.

Peinlich. Aber mir fiel trotzdem eine gute Antwort ein: „Schule macht mehr Spaß, wenn Lernen leicht fällt und man mit dem Gelernten etwas anfangen kann. Es ist einfach so viel schöner, wenn man gutes Feedback bekommt. Darum motiviere ich dich immer, dir Mühe zu geben und am Ball zu bleiben. Weil es nur dann Spaß macht. Aber welche Note du am Ende bekommst – eigentlich ist das egal.“

Jetzt war ich in Fahrt und legte richtig los: „Alles, was man braucht, um ein glückliches Leben zu führen, hast du bereits. Du hast Eltern, die dich lieben und wertschätzen und die die Kapazitäten haben, das auch zu zeigen und dich dabei zu unterstützen, deinen Weg zu finden. Du bist nicht chronisch krank, du hast einen deutschen Pass. Du wächst in Sicherheit und in einer ganz okayen Gegend auf, in der viele Menschen einen ähnlichen Wertekanon teilen. Es ist alles da. Mach dir nicht zu viele Gedanken um Noten. Es wird schon gut gehen.“

Während ich das sagte, wurde mir erst klar, wir wahr es ist. Mein Kind hat jetzt schon so viele Privilegien. Es hat kein Diskriminierungsmerkmal. Es hat helle Haut, es wird vermutlich sein Leben lang schlank sein. Es hat keine Behinderung und entspricht klassischen Schönheitsidealen. Es hat zwei Akademiker-Eltern und einen deutschen Pass. Es ist durch all diese Dinge schon so viel besser dran, als die allermeisten anderen Kinder auf dieser Welt. Dass das unfassbar ungerecht ist, muss ich wohl nicht dazu schreiben. Und ich denke, es ist gut zu wissen, dass man diese Privilegien hat. Das nicht als selbstverständlich hinzunehmen, sondern dankbar zu sein. Zu verstehen, dass nicht alle Kinder so viel Glück haben. Und das ist es ja am Ende. Glück. Und Glück ist bekanntlich das Gegenteil von Gerechtigkeit. Meine Kinder sollen ruhig wissen, dass sie es leichter haben. Und andere Kinder, die weniger privilegiert aufwachsen nicht von oben herab behandeln, sondern sie unterstützen und gemeinsam gegen die Ungerechtigkeiten kämpfen.

Mein Sohn wirkte direkt erleichtert. Auf der anderen Seite ist meine Message ja auch wieder mit Druck verbunden; „Du hast alle Möglichkeiten. Mach gefälligst was draus!“ Ein bisschen hatte mein kleiner Vortrag auch so geklungen. Es ist so schwer, es richtig zu machen.

„Aber wenn Noten nicht wichtig sind, was ist dann wichtig?“ fragte mein Kind.

Ich überlegte. „Ich denke, am wichtigsten ist, dass du es schaffst, zufrieden zu sein. Selbstbewusst, stark und resilient. Dass du ein gutes Gefühl dafür entwickelst, mit wem du deine Zeit verbringen willst und dass du es gut und einigermaßen unversehrt durch die Teenager-Jahre schaffst. Denn in diesen Jahren lauern eine Menge Gefahren.”

Auch hier wurde mir während ich es aussprach bewusst, wie sehr ich genau daran glaube. Ich dachte an ein Interview im Sydney Morning Herald mit einer meiner liebsten Autorinnen Isabel Allende, die über einen ihrer Romane erzählte: “I wrote the book at a time when all of my grand-children were in their teens. I saw them exposed to so many dangers – drugs, violence, pornography – things that weren’t all around me when I was growing up. None of them have these kinds of problems, but it’s a sadly common thing for young people to lose their way with drugs and never recover.”

Ich erinnere mich selbst an meine Teenager-Jahre. Wie unsicher ich war, wie leicht beeinflussbar. Wie wenig meine Eltern mir damals sagen konnten, ich orientierte mich komplett an meinem Freundeskreis. Ich war neugierig auf alles, habe mich irre erwachsen gefühlt und auch ziemlich viel Mist gebaut. Ich denke heute, es kann fast jedem Kind und fast überall passieren, dass es mit den falschen Freunden, mit Drogen, mit Gewalt in Berührung kommt. Und das kann leider wirklich Folgen fürs Leben haben. Meine Kinder wissen schon sehr genau über die Gefahren von Drogen Bescheid. Viele finden das komisch, dass wir da so offen sind mit ihnen. Für mich fühlt es sich genau richtig an. Denn es soll keine Geheimnisse geben.

Ich fügte also im Kopf noch eine Sache hinzu, die mir wirklich wichtig ist. Ich will nie den Kontakt zu meinen Kindern verlieren. Ich will, dass sie mich anrufen, wenn sie in Not sind, dass sie mit mir sprechen, wenn sie schlechte Erfahrungen machen. Dass sie mir vertrauen, dass sie wissen, dass sie immer sicher bei mir sind, auch wenn sie die allergrößte Scheiße der Welt bauen.

Wie unglaublich doof von mir, dass ich so oft mit meinem Kind über Noten spreche. Anstatt darüber, was wirklich zählt.