Kann man als Pflegemutter glücklich werden?

Das ist freilich eine etwas reißerische Frage, und um es vorwegzunehmen: Die Antwort lautet natürlich: Ja! Doch das Thema Pflegeelternschaft ist selbst im Elternblog-Universum keines, das besonders viel Aufmerksamkeit bekommt. Und noch immer rankt sich viel Unwissen um diese Form des Familienlebens.

Umso mehr freuen wir uns, dass wir mit Sue ganz ausführlich darüber sprechen konnten. Sie lebt mit ihrem Mann und Pflegesohn Maximilian in Berlin und möchte für diese Form der Familien eine Lanze brechen. Sue ist 39 und arbeitet im öffentlichen Dienst, dort ist sie zuständig für die Belange geflüchteter Menschen. Ich kenne sie von beruflichen Terminen schon seit Jahren flüchtig und habe am Rande mitbekommen, dass sie und ihr Mann ein Pflegekind aufgenommen haben. Wie es der Zufall so will, kommentierte Sue einen unserer Mama Mondays – da ging es unter anderem um einen sehr kontroversen Gesetzesentwurf aus dem Familienministerium, der vorsieht, dass Pflegekinder auch dann probeweise zu ihrem leiblichen Eltern zurück können, wenn die Situation für sie dort potentiell gefährdend ist (wir hatten diesen Artikel verlinkt). Sue freute sich darüber, dass wir auch Pflegefamilien ansprechen!

Denn tatsächlich ist es ja so, dass diese wirklich nicht besonders oft angesprochen werden, auch in Elternblogs wie diesem nicht… Berichte über Schwangerschaft und Wochenbett finden sich zuhauf, doch über das, was Eltern von Pflegekindern brauchen, liest man eher selten. Das ist auch deswegen erstaunlich, weil die Zahl der Kinder, die in Pflegefamilien leben, auf einen Höchststand gestiegen ist – im Jahr 2017 waren es 81 000 (im Jahr 2008 60 000). Und Pflegefamilien werden in vielen Bundesländern händeringend gesucht, alleine in Berlin fehlen jährlich 500 solcher Familien.

Umso wichtiger also, auch über diese Form der Elternschaft aufzuklären, oder? Sues Weg zur Pflegemutter war ein Prozess, der sich über mehrere Jahre erstreckte – am Anfang stand ein unerfüllter Kinderwunsch.

„Ich habe mir schon immer gewünscht, irgendwann für jemanden die Mama zu sein. Eine Weile hatte ich dann kein gutes Händchen mit Männern, und als ich endlich den Richtigen gefunden hatte, klappte es einfach nicht mit dem schwanger werden. Anfangs schob ich die aufkommenden Hitzewallungen darauf, dass ich auf 4000 Metern Höhe lebte, weil ich mich für ein Projekt der Entwicklungszusammenarbeit länger im Hochland Boliviens aufhielt. Doch nach meiner Rückkehr stellte eine Gynäkologin fest, dass es gesundheitliche Gründe hatte und ich  keine eigenen Kinder mehr bekommen konnte. Ich habe eine Woche nur geweint und konnte mich einfach nicht damit abfinden. Mein Mann und ich haben verschiedene Wege ausprobiert, um doch noch Eltern zu werden, aber mein Körper hat mir immer wieder deutlich signalisiert: Nicht mit mir. Diese Zeit des Hoffens und Bangens, der Ungewissheit, der wiederkehrenden Entmutigungen, das war eine schlimme Zeit. Irgendwann gab es einen Punkt, an dem ich meinen Frieden damit fand, kein Kind austragen zu können. Den Gedanken an eine Schwangerschaft ziehen zu lassen, das Loslassen, das hat mir gut getan. Und erst dann begann ich mich ernsthaft mit Fragen der Pflegeelternschaft zu beschäftigen, vorher war ich noch nicht wirklich bereit gewesen. In die Idee, ein Pflegekind aufzunehmen, bin ich hineingewachsen, dieser Prozess lief ein paar Jahre. Aber der Gedanke wurde immer vertrauter, je mehr ich dazu las und mich damit befasste.”

Fragen, die einen an die eigenen Grenzen bringen

Was viele, die in einer ähnlichen Situation sind und sich über eine Pflegschaft Gedanken machen, brennend interessiert ist natürlich: Wie genau läuft das ab? Für Berlin gibt es hier einen sehr guten Überblick. Sue hat diesen Prozess so erlebt:

„Die Vorbereitung auf die Pflegeelternschaft dauerte ungefähr ein Jahr. Zunächst wird ein Orientierungsseminar angeboten, bei dem man abklärt, ob man sich so etwas grundsätzlich vorstellen kann. Auch Alleinerziehende können Pflegemama oder Pflegepapa werden. Man kann auch überlegen, ob man Kinder nur vorübergehend in Kurzzeitpflege oder dauerhaft in Langzeitpflege aufnehmen möchte. Im Anschluss an das erste Seminar haben mein Mann und ich entschieden, uns offiziell zu bewerben und den Prozess zu starten. Jeweils einmal im Monat absolvierten wir einen Gesprächstermin mit Sozialpädagoginnen, in dem es darum ging herauszufinden, wie wir ticken. Das Jugendamt möchte eine Überforderung oder Abbrüche unbedingt vermeiden, deshalb geht es ans Eingemachte. Vieles davon war ziemlich intim: Die eigene Familiengeschichte, wie man Konflikte löst, wie das Verhältnis zu den eigenen Eltern ist, welche Paarkultur man hat, welche Prioritäten man verfolgt, welche Erziehungsziele, wie man Konflikte löst. Diese Gespräche waren wertvoll und wir haben uns als Paar in dieser Zeit noch ein Stückchen besser kennengelernt.

Wir haben diverse Dinge besprochen, die einen an die eigenen Grenzen bringen. Stört es uns, wenn das Kind eine andere Hautfarbe hat? Wenn es nicht aussieht wie wir? Wenn die Herkunftseltern einem anderen Glauben angehören, den man akzeptieren muss? Auch Szenarien wie eine Behinderung waren Thema – Kinder mit dem fetalen Alkoholsyndrom zum Beispiel wirken im Säuglingsalter gesund, erst mit vier oder fünf Jahren zeigen sich Symptome, die sehr schwerwiegend sein können. Das sind Fragen, bei denen einen sozial erwünschte Antworten nicht weiterbringen. Man muss sich realistisch eingestehen, was man leisten kann und was nicht.“

Von jetzt auf gleich Mama

Danach ging es für Sue sportlich weiter – denn kaum waren sie und ihr Mann zu tauglichen Pflegeeltern ernannt worden, wurde ihnen schon das erste Kind vorgeschlagen, eine Woche später.

„Das war total verrückt: Monatelang hatte ich mir ausgemalt, wie der Tag werden würde, wenn dieser Anruf kommt – und auf einmal ging alles ganz schnell. Pflegeeltern werden dringend gesucht. Die Sozialarbeiterin sagte, sie würden kurzfristig einen Säugling in Obhut nehmen, ob wir uns das vorstellen könnten. Sie bat ganz nüchtern um einen möglichst schnellen Rückruf, da sie nur bis 15 Uhr im Büro sei. Für sie war es Routine, doch für uns war es überwältigend. Wir hatten ganze 24 Stunden, uns auf das Baby einzustellen! Und natürlich haben wir Ja gesagt.

Als ich in der Drogerie vor dem Regal mit Babybedarf stand, war ich aufgekratzt und gleichzeitig völlig hilflos. Ich hatte ja so lange davon geträumt, endlich mal für mein Kind einkaufen zu müssen, aber jetzt wusste ich gar nicht, was wir genau brauchten. Wir haben dann einfach in allen Größen Windeln gekauft, einen Nuckel, Milchpulver, ein Fläschchen. Wir hatten keine Ahnung, wo das Baby schlafen soll, keine Klamotten, keine Spielsachen, und wir waren voller Adrenalin.

Die Übergabe fand dann in einer sozialen Einrichtung statt. Wir hatten immerhin eine Babyschale dabei, daran hatte eine Kollegin noch gedacht. Die Stimmung im Raum war sehr merkwürdig, wir haben nicht viel gesprochen, ein bisschen Small-Talk. Eine Sozialarbeiterin hat meinem Mann das Kind in den Schoß gelegt, wo wir es betrachten konnten. Die Kindesmutter hat dem Kleinen einen Abschiedskuss gegeben und ist recht schnell verschwunden. Und auf einmal standen wir mit dem Säugling im Arm auf der Straße! Ich dachte: Wow, die lassen uns wirklich mit dem Baby alleine. Wahnsinn. Ich wusste nicht viel über Kinder und hätte damals einen Zweijährigen nicht von einem Fünfjährigen unterscheiden können.“

Sätze, die keiner hören will – „Das könnte ich nicht!”

Besonders schön fand ich, wie Sue ihren Prozess des Mutterwerdens schilderte. Denn irgendwie wird dabei klar: Es ist eine Rolle, in die man hineinwachsen muss und als Pflegemutter kommt noch einmal das gefühlte Stigma hinzu, dass man ja nicht die biologische Mutter ist. Zudem hat man zwar durch das Orientierungsseminar Zeit, sich theoretisch mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, doch wenn es dann an die Praxis geht, kann es gut sein, dass man sich von jetzt auf gleich auf ein Kind einstellen muss. Keine leichte Aufgabe!

“In den ersten Tagen haben wir Maximilian mit Argusaugen beobachtet. Wir hatten solche Angst, dass er aus dem Bett fällt oder zu atmen aufhört oder etwas verschluckt! Meine Eltern haben mir geholfen, ein Bettchen und eine Wickelkommode zu montieren, denn mit solchen Sachen war ich völlig überfordert. Ich habe mich erstmal wie eine Schauspielerin gefühlt, die mehr schlecht als recht so tut, als sei sie Mutter. Anfangs dachte ich, man könne mir ansehen, dass ich nicht seine leibliche Mutter bin, als stünde es auf meiner Stirn. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich mich auch als seine Mama gefühlt habe. Für Maximilian war es auch nicht einfach. Sein Gesichtchen war ganz grau und er hat viel geschrien, hatte schon viel durch für sein junges Alter.

Am Anfang habe ich manchmal wildfremden Menschen erzählt, dass er ein Pflegekind ist, weil ich möglichst transparent damit umgehen wollte. Ich dachte, ich schulde ihm das, ich wollte keine Tabus oder Geheimnisse. Aber da kamen auch häufig Kommentare, die man nicht hören will. Zweifler, die sagen: „Das könnte ich nicht“, aber auch Menschen, die sagen: “Oh Gott, du bist ja wie Mutter Theresa”. Ich finde, das wertet das Kind ab, als würde ich mich aufopfern. Mittlerweile bin ich dazu übergegangen, es nur zu thematisieren, wenn es gerade Sinn ergibt und für uns gut passt.”

Und wie war das logistisch? Sue blieb mit Maximilan zwei Jahre zu Hause, mittlerweile arbeitet sie wieder im sozialen Bereich im öffentlichen Dienst. Als Pflegemutter hatte sie Anspruch auf Elternzeit, aber nicht auf Elterngeld. Es gab stattdessen ein Pflegegeld, das abhängig ist vom Kindesalter, vom Förderbedarf und vom Leistungsträger. Die einzelnen Bundesländer haben hierbei unterschiedliche Standards, Informationen dazu könnt ihr hier finden.

Und was ist mit der leiblichen Mutter?

 Viele fragen sich sicherlich auch: Kann das Kind denn wirklich bei mir bleiben? Was ist, wenn die biologische Mama sich wieder fängt und das Kind „zurückfordert”? Bei der allgemeinen unbefristeten Vollzeitpflege leben Kinder in den allermeisten Fällen bis zu ihrem 18. Lebensjahr bei den Pflegeeltern – der Anteil der Kinder, die in die Herkunftsfamilie zurückgehen, ist verschwindend gering, er liegt bei rund drei Prozent. Es gibt auch die befristete Vollzeitpflege, die für einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten konzipiert ist – das ist aber ein anderes Thema. Sues Pflegesohn Maximilian trifft seine biologische Mutter regelmäßig.

“Mein Mann oder ich sind dabei. Meist sind es Spaziergänge im Park oder Spieltreffen in einer Einrichtung. Ich finde es wichtig, dass er spürt, dass seine Kindesmutter ihn auch lieb haben kann, ohne dass ich eifersüchtig bin. Für seine Entwicklung ist es wichtig, dass wir uns alle gut verstehen. Daran muss man arbeiten, das ist nicht immer einfach. Ich bin ihr dankbar, dass ihr Sohn auch mein Sohn sein kann. Und Maximilian weiß, dass er zwei Mamas hat und findet das keine große Sache.

Das muss Personen, die sich als Pflegeeltern bewerben, klar sein: In Hilfskonferenzen wird beim Jugendamt immer wieder besprochen, wie es läuft und wie es weitergehen soll. Es kann passieren, dass das Jugendamt oder die Herkunftseltern das Kind zurückführen möchten. Meist landen solche Fälle dann beim Familiengericht. Es sind bloß sehr wenige Fälle, in denen das geschieht, aber uns ist es passiert. Vor der Verhandlung hatte ich Todesangst. Die Vorstellung, Maximilian zu verlieren, war schrecklich. Der Gerichtstermin hat am Ende geholfen, weil die Kindesmutter ihr Einverständnis gegeben hat, dass er bei uns bleiben soll. Diese Klärung war wichtig für alle.“

Was wünscht sich Sue neben einem verbindlichem juristischem Rahmen für Pflegefamilien wie ihre? Sichtbarkeit und Inklusion, Offenheit statt Schubladendenken.

Mehr Sichtbarkeit, weniger Stigmatisierung

Und was hält Sue vor diesem Hintergrund vor den Versuchen, eine Reform des Elternrechts zu bremsen? „Die CDU hat Reformbemühungen mehrfach vereitelt, weil sie argumentieren, ein Kind gehöre zu seinen leiblichen Eltern. Aber die Realität sieht eben anders aus. Nicht immer sind die biologischen Eltern diejenigen, die im Sinne des Kindes handeln, vor allem auch, weil sie meist selbst keine schöne Kindheit hatten und gar nicht wissen, was “eine gute Mama” oder “ein guter Papa” für ein Kind sein könnte. Jedenfalls gebe ich natürlich allen Experten Recht, die sagen, es muss Sicherheit für die Pflegefamilien geben. Pflegekinder sollten kein Spielball sein. Die diversen juristischen Unsicherheiten und Ermessensentscheidungen sind zutiefst erschütternd, wenn man sie selbst zu spüren bekommt, aber auch abschreckend für viele potentielle Pflegeeltern. Schade, denn die Kinderheime sind voll und der Bedarf an engagierten Pflegefamilien ist riesig. Gleichzeitig sollte man aber auch die Herkunftseltern nicht vergessen. Mit ihnen sollte ernsthaft gearbeitet werden, anstatt ihnen bloß die Kinder “wegzunehmen”.”

„Ich würde gerne eine Lanze für die Pflegeelternschaft brechen. Viele schrecken zurück, weil sie Schauergeschichten hören, aber wenn man sich für den Prozess öffnet und ehrlich mit sich selbst ist, kann man auf diese Weise sehr glücklich sein. Es hilft, wie bei vielem, immer Schritt für Schritt vorzugehen und sich nicht sofort mit dem großen Ganzen zu überfrachten. Pflegeelternschaft wird – wenn überhaupt – häufig als ein exotisches Problemthema behandelt. Alles ganz schrecklich, schlimme Schicksale, und so weiter. Ich wünsche mir, dass Pflegefamilien häufiger mitgedacht und mitangesprochen werden. Es ist toll, eine Pflegefamilie zu sein, es ist völlig okay und ein Stück Realität. Ich wünsche mir, dass Maximilian später stolz darauf ist, ein Pflegekind zu sein, und nicht abgewertet wird. Ich höre jetzt hundert Mal am Tag lautstark: „Mama!!!“ Ich bin sehr happy, seine Mama zu sein.“