Zum Frauentag. Meine liebe Tochter.

Meine liebe Tochter. Heute ist Frauentag. In Berlin ist das sogar ein Feiertag. Warum gibt es das, fragst du. Und ich erkläre dir, dass Frauen auf der ganzen Welt diskriminiert werden. Dass sie nicht die gleichen Chancen haben. Dass sie bevormundet und bewertet werden. Ich sage, dass ich dir wünsche, dass du schon ein bisschen freier und gleichberechtigter aufwachsen kannst, als ich es konnte, aber eigentlich bin ich da sehr skeptisch.

Was soll ein Feiertag da bringen? Fragst du. Und ich muss lachen. Denn du bringst es auf den Punkt. Was soll ein Feiertag bringen, wenn es ein großes, strukturelles Problem gibt, das erst aus den Köpfen von so vielen Menschen verschwinden muss. Was soll das bringen? Nichts natürlich.

Der Frauentag ist, wie der Muttertag, eine ziemlich leere Farce. Die einen schimpfen, dass er nichts bringt, dass Blumen und Versprechen nichts bewegen. Die anderen belächeln ihn vielleicht sogar. Die Frauen, ey! Immer am Meckern. Jetzt haben sie ihren Tag, dürfen wählen und mitreden und mitmachen – und immer noch das Gemotze.

Ein paar Politiker werden vielleicht Reden schwingen, versprechen, sich ganz doll für die Frauen einzusetzen. Jetzt wirklich. In Zukunft. Ganz bestimmt.

Was ist denn so unfair? Fragst du, mein Kind. Und es ist gar nicht so leicht, es dir zu erklären. Denn es ist ein System, in dem wir leben, man nennt es Patriarchat. Ein System, in dem Frauen zu wenig an den Strippen ziehen, in dem Männer bevorzugt werden und Frauen benachteiligt. Neben Frauen und Männern gibt es noch Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, oder dem jeweils anderem – nicht binäre Menschen werden sogar noch mehr diskriminiert. Heute geht es hier aber über Frauen und Männer, wissend, dass es noch viel mehr da draußen gibt.

Du wirst so viel machen können, mein liebes Kind. So viel. Vieles machst du jetzt schon. Du tanzt und singst, du verkleidest dich. Du liest, du lachst, du weinst, du streitest, du liebst, du machst Dinge, die dir Freude machen, die dir gut tun.

Irgendwann wirst du feststellen, dass du auf eine andere Art und Weise auf dich aufpassen musst, als dein Bruder. Weil es viele gewalttätige Männer gibt.

Du wirst nicht im Dunkeln joggen gehen.
Du wirst es vermeiden, alleine nachts nach Hause zu laufen.
Du wirst dich auf Partys mit Freundinnen zusammentun, ihr werdet aufeinander aufpassen, damit keiner was passiert.
Du wirst die Hand über dein Glas halten, um zu vermeiden, dass dir jemand was in dein Getränk mischt.
Du wirst überlegen, was du anziehst, um nicht “falsch verstanden” zu werden.
Du wirst nicht alleine reisen, oder nur in ganz bestimme Länder.
Du wirst an vielen Stellen das Gefühl haben, nicht sicher zu sein.

Ich wünsche dir so sehr, dass du keine Gewalt erfahren wirst. Aber statistisch sieht es leider nicht gut aus für dich. Und wenn du den Mut hast, die Gewalt zu melden, wird man dir – statistisch – ziemlich wahrscheinlich nicht glauben, das erstmal anfechten, im Zweifel für den Angeklagten, vielleicht will sie sich nur aufspielen?

Das ist das System, von dem ich spreche…

Du wirst bewertet werden. Dein Körper und dein Aussehen werden bewertet werden. Du wirst dir hoffentlich nie Gedanken darüber machen, ob du “zu dick” oder “richtig” bist, aber die Wahrscheinlichkeit, dass du es tun wirst, ist leider hoch. Die wenigen Berufe, in denen Frauen mehr als Männer verdienen, haben mit Äußerlichkeiten zu tun. Model, Influencerin. Du wirst wahrscheinlich über die Struktur deiner Haare nachdenken, deinen “Teint”, deine Lippen. Du wirst dich schminken, um dich schöner zu fühlen. Auch wenn deine Eltern dir immer sagen, wie richtig du bist. Es wird Menschen geben, die werden dir was anderes vermitteln. Wenn an deinem Körper Haare wachsen, wirst du überlegen, sie weg zu machen. Denn das wird wahrscheinlich immer noch die Norm sein. Vielleicht stellst du das aber auch in Frage und wunderst dich, warum Männer ihre Körperhaare nicht entfernen (müssen). Du wirst immer mal wieder nicht ernst genommen werden. Du wirst als „zickig“ und „hysterisch“ bezeichnet werden. Es wird dich treffen. Und vielleicht versuchst du dann, angepasst, doch lieber lustig, nicht “zu anstrengend” zu sein. So, wie ich das viele Jahre lang gemacht habe. Ich wollte nicht als anstrengend gelten, deshalb habe ich die Unfairness geschluckt. Ich wünsche dir, dass du das nicht tust. Dass du stark und unangepasst bleibst. Dass du Unrecht ansprichst und nicht versuchst, die Erwartungen, die an dich gestellt werden, zu erfüllen. Aber ich weiß, wie schwer das ist.

In meiner Jugend wurden Filme noch fast ausschließlich von Männern gemacht, Männer hatten auch mehr Hauptrollen, mehr Text. In beinahe jedem Film ging es um Männerperspektiven. Die Frauen waren schön und jung, mit dreißig Jahren war die Karriere von Schauspielerinnen damals eigentlich schon vorbei. Die Rollen, die sie spielten, waren stereotyp, hübsch und lustig, manchmal bisschen trottelig. Oder hart und unsympathisch und schlau. Angsteinflößend. Das Ziel eigentlich jeder Frau in jedem Film war es, einen Mann zu finden, der sie beschützt und der an ihrer Seite steht. Sie bemühten sich, gute und liebenswerte Frauen zu sein, damit sie einen Ring an den Finger gesteckt bekommen und die Liebe des Lebens finden. Das ist das Bild, mit dem ich aufgewachsen bin. Und – oh weia – habe ich lange gebraucht, bis ich verstanden habe, wie ungut mich das geprägt hat.

Du wirst diversere Filme sehen, andere Frauentypen kennenlernen, schwarze und weiße Menschen auf Bildschirmen sehen – und andere Geschichten und Lebenswelten. Es tut sich viel – und ich freue mich für dich. Aber wenn ich mir die „Mädchen“-Serien, die so auf den Streaming-Diensten laufen, ansehe, dann muss ich leider sagen, dass es auch in diesem Bereich noch ein weiter Weg ist.

Sind doch nur Filme, sagst du. Aber ich weiß, dass sie etwas mit uns machen, wie sie unser Welt- und unser Selbstbild prägen. Und ich will das alles, das ganze Frauenbild da draußen eigentlich von dir fernhalten, solange es geht. Immerhin: Elsa. Sie ist zwar weiß, schlank, schön, able-bodied. Aber sie sucht zumindest nicht nach dem Mann als Erlöser. Ihre Schwester erlöst sie. Immerhin. Das muss man schon als Fortschritt werten.

Das ist das System, von dem ich rede.

Wenn du krank werden solltest, was ich nicht hoffe, dann wirst du hoffentlich eine gute, medizinische Versorgung bekommen. Doch auch hier muss ich dir leider sagen, dass die Medizin, Medikamente, Behandlungen – auf Männer ausgerichtet sind. Ich weiß, wie verrückt das klingt. Aber es ist leider wahr. Frauen bräuchten oft andere Dosierungen, andere Behandlungen, aber es ist alles auf Männerkörper gepolt. Die meiste Forschung wird von Männern für Männer gemacht. Krankheiten, die eher Männer treffen, sind besser erforscht und besser behandelbar. Einige typische “Frauenkrankheiten” sind dagegen noch kaum erforscht, oder – noch schlimmer – werden nicht ernstgenommen und auch entsprechend schlechter behandelt.

Du wirst vielleicht studieren, mein Kind. Du wirst reisen, dich ausprobieren. Du wirst beeindruckende Menschen treffen und das Gefühl haben, eine Rolle zu spielen. Du wirst denken, die Welt steht dir offen. Vielleicht ist das immer wieder auch so. Aber wenn du ins klassische Berufsleben eintrittst, wirst du wahrscheinlich merken, dass immer noch sehr viele Männer die Entscheidungen treffen. Du wirst spüren, dass du anders bewertet wirst, als deine männlichen Kollegen. Wenn du dich traust, nachzufragen, dann wirst du feststellen, dass diese auch mehr verdienen, als du. Für den gleichen Job. Du wirst wahrscheinlich hin- und hergerissen sein. Willst du anstrengend sein und für Gerechtigkeit kämpfen? Oder lieber von den meisten gemocht werden, und die Unfairness akzeptieren? Die Männer um dich herum werden sich das nicht fragen (müssen). Aber du solltest sie mit ins Boot holen, denn auch für sie ist diese Unfairness schlecht. Allerdings gibt es auch viele, die sehr stark davon profitieren. Deshalb ist die Situation verzwickt.

Das ist das System, von dem ich rede.

Du wirst vielleicht keine Kinder haben wollen. Dann wirst du feststellen, wie komisch viele auf diesen Wunsch reagieren werden. Wie “nicht vorgesehen” das ist. Vielleicht wirst du dich erst Mal gegen ein Kind entscheiden. Dann wirst du wahrscheinlich realisieren müssen, dass du diese Entscheidung nicht mündig und alleine treffen darfst und dich sonst sogar strafbar machst. Vielleicht willst du Kinder haben. Dann wird es richtig tricky mit der Fairness. Menschen werden deinen Köper wieder bewerten, werden intime Fragen stellen. Du wirst vielleicht hadern mit deinem Körper. Weil man dir in den Jahren davor schon eingebläut hat, wie ein weiblicher Körper auszusehen hat. Dabei ist der weibliche Körper einfach nur ein Wunderwerk, er schafft Unglaubliches. Dass er sich so verändern kann – genau das ist seine Stärke, und ich werde dir das dann auch jeden Tag sagen. Ich hoffe, andere werden das auch tun. Du wirst viel erleben, wenn du dich für Kinder entscheidest. Nicht nur dein Körper, auch dein komplettes System wird sich verändern. Man wird von dir erwarten, dass du dich um das Kind „kümmerst“. Das liegt dir „im Blut“, werden Manche sagen. Wenn du dich für einen Partner entscheidest, wird er hoffentlich seinen Teil des „Kümmerns“ übernehmen. Jedoch, bisher ist das für Väter freiwillig. Ja, verrückt oder? Für Frauen ist es nicht freiwillig. Und das kann ganz schön belastend sein. Im Moment ist es so, dass du es an diesem Punkt nur noch falsch machen kannst. Wenn du weiterhin deinem Job nachgehen willst, wirst du schief angeschaut. Wenn du dann im Job deine Zeit anders einteilst, um dich zusätzlich um ein Kind zu kümmern, wirst du schief angeschaut. Wenn du dich gegen den Job entscheidest, wirst du schief angeschaut. Wenn du nicht über deine Mutterrolle sprechen willst, wirst du schief angeschaut. Wenn sie dich beschäftigt und du dich darüber austauschen willst, wirst du irgendwann auch schief angeschaut. Also, das kannst du schon machen, aber nicht ZU VIEL und natürlich auch nicht in jedem Kontext. Und die Väter? Die werden eigentlich nie schief angeschaut. Die können sich ganz viel oder gar nicht um ihre Kinder kümmern. Das ist beides okay.

Das ist das System, von dem ich rede.

Ich könnte jetzt noch weiter erzählen. Davon, was vielen Frauen nach einer Scheidung blüht. Dass immer noch die meisten Frauen bei einer Hochzeit ihren Nachnamen aufgeben und den ihres Mannes annehmen. Das ist ganz normal, man gibt damit natürlich ein Stück Identität auf, aber das ist eben so. Männer machen das nur ganz ganz ganz gaaaaanz selten. Ich könnte dir von Altersarmut erzählen, von Mütterarmut. Davon, wie Alleinerziehende vom System benachteiligt werden. Darum, wie schwer es Mütter auf dem Arbeitsmarkt haben. Von den Berufen, die so wichtig für das Funktionieren einer Gesellschaft sind, könnte ich dir erzählen. Aber weil überwiegend Frauen sie ausüben, werden sie eben sehr schlecht bezahlt. Ich könnte dir von Mental Load erzählen, von Care Arbeit, davon, dass Frauen den überwiegenden Teil dieser unbezahlten Arbeit verrichten, einfach weil das immer so war, und weil sie vermittelt bekommen, sie hätten das „im Blut“. Ich versuche, dir das anders vorzuleben – und hoffe, das prägt dich. Ich könnte dir von Macht erzählen, von Politikern und Diplomaten, von Wirtschaftsbossen. Ich gendere das bewusst nicht, denn die meisten Menschen, die die Macht innehaben sind männlich. Weltweit ist das so. Und es bewegt sich nur ganz ganz ganz langsam etwas. Ich könnte dir von Femiziden erzählen, ja ich weiß, es klingt so unglaublich, aber es werden täglich Frauen von Männern getötet, nicht selten von den eigenen Partnern. Gesellschaftlich werden diese Taten dann oft immer noch meist als “Familiendrama” abgetan, die Männer seien eben so in Rage gewesen und Männer sind halt eben nun mal manchmal gewalttätig, was soll man machen. Dabei ist es einfach Mord. Noch viel mehr Frauen erleben täglich Gewalt. In ihren Partnerschaften. Das ist eben so. Und irgendwie kann man da nichts machen.

Das ist auch das System, von dem ich rede.

Und ich will dir das aber gar nicht erzählen. Denn es gibt ganz viele, ganz wunderbare Männer da draußen, die genau wissen, dass dieses System unfair ist, und es auch verändern wollen. Allerdings trifft es sie auf einer anderen, einer persönlichen, einer individuellen Ebene. So ganz werden sie deine Position nicht verstehen können, auch wenn sie sich bemühen.
Gleichzeitig profitieren selbst diese Männer eben von diesem System. Weil es die Erwartungen an sie determiniert. Weil es SO einfach ist, einer “von den Guten” zu sein. Oder eben, weil sie in diesen Machtpositionen sitzen, in überdurchschnittlich gut bezahlten Jobs, die nicht an Frauen vergeben werden, oder nur ganz selten. Ich finde es trotzdem unendlich wichtig, sich mit Männern zusammenzutun, mit ihnen zusammen gegen dieses System zu arbeiten, unter dem wir alle leiden. Aber es ist so ein langer Weg. Ich weiß nicht, ob du mitkämpfen willst – oder dich doch lieber fügst. Ich kann sogar verstehen, wenn du dich für Letzteres entscheiden solltest.

Das ist das System, von dem ich spreche.

Aber ich will es dir noch gar nicht in Gänze erklären. Ich will, dass du dein Leben lebst und liebst und genießt, dass du Beziehungen knüpfst, dass du Menschen kennenlernst, Männer und Frauen und alle anderen Geschlechter. Dass du dich auslebst, dass du dich ausprobierst, dass du deine eigenen Regeln und Grenzen setzt. Dass du unvoreingenommen bist. Und ich hoffe auch, dass du andere Erfahrungen machst, als ich. Dass die Welt, in der du aufwächst schon offener und freier und gleicher ist, als die, in der ich aufgewachsen bin.

Es ist immer noch so viel im Argen. Ich wünsche dir, meine liebe Tochter, dass du es besser hast, als meine Generation. Und die Generation davor und die Generation davor. Von Mädchen und Frauen in anderen Teilen der Welt möchte ich gar nicht anfangen. Das macht mich zu traurig.

Aber ich fürchte, es wird auch in diesem Land noch viele Jahrzehnte dauern, bis es sich endlich nicht mehr total unfair anfühlt. Vielleicht wird es auch nie passieren. Ich will dir nichts vormachen.

Laut UNO Generalsekretär Guterres ist die Gleichberechtigung 300 Jahre entfernt.

„Jeden Tag gibt es in Deutschland einen polizeilich registrierten Tötungsversuch an einer Frau.“

„In Deutschland studieren mehr als 90 000 Menschen Medizin. Aber bisher ist das Studium nur an einer einzigen Universität, am Universitätsklinikum der Charité in Berlin, geschlechtersensibel gestaltet. “

„Eine Studie aus den USA zeigt, dass Berufe weniger angesehen werden, sobald der Frauenanteil unter den dort Arbeitenden steigt.“

(Das sind nur vier von etwa 200 Quellen zu all den Themen, die in diesem Text behandelt werden)