Was uns mit der Behinderung unseres Sohnes geholfen hat

Das erste Kind ist da, die Freude ist groß, doch dann laufen die Dinge ganz anders: In unserem Gastbeitrag erzählt eine Berliner Familie, wie sich das Leben mit ihrem Kind Nils gestaltet, welche Entwicklung sie die letzten zwei Jahre durchgemacht hat und warum sie an die Grenzen des deutschen Gesundheitsystems gestoßen ist.

Natürlich ist es Quatsch, aber ich habe mir trotzdem oft jemanden gewünscht, der sagt: „Alles wird gut“. Im Mai 2021 sind bei unserem Sohn Nils, er war damals gerade ein halbes Jahr alt, Gehirnverletzungen und eine schwere Epilepsie festgestellt worden. Unsere Welt ist damit ganz schön ins Wanken geraten. Entwicklungsstörung, Krankheit, Behinderung, bis heute wissen wir nicht, wie wir die Folgen daraus eigentlich nennen sollen. Nils kann mit seinen heute zwei Jahren noch nicht krabbeln oder sich hinsetzen, auch sprechen hat er noch nicht gelernt.

Die Leichtigkeit und Freude der kleinen Jahre waren weggefegt

Mit der Diagnose sind Therapien, Krankenhäuser und Ärzt_innen in unseren Alltag getreten. Plötzlich bestand meine Elternzeit nicht mehr aus Spielplatztreffs und Cafés, sondern aus Nils Erkrankung. Die Leichtigkeit und Freude der kleinen Jahre waren weggefegt. Tagsüber waren wir in der Tagesklinik, abends brüteten mein Mann und ich über Artikeln, suchten nach innovativen Behandlungsmöglichkeiten. Interpretierten endlos alle Infos, die wir über Nils Situation bekommen hatten. Wir fühlten uns wahnsinnig hilflos. Die Profis um uns herum taten ihren Job mit Hingabe, aber eben auch mit Professionalität. Sie konnten uns nicht sagen, wie die Zukunft von Nils aussehen wird, und sie waren seriös genug, es auch nicht zu tun. Das Vakuum, das diese Unwissenheit zurückließ, damit mussten wir selbst umgehen.

In dieser Zeit habe ich oft gelesen, dass die Nachricht über eine Erkrankung oder Behinderung des eigenen Kindes einem Trauerfall nahekommt. Man betrauert das Leben, das man sich für das Kind schon ausgedacht hat. Muss sich verabschieden von den schönen und absurden Pläne, die einem schon in der Schwangerschaft im Kopf schwirrten. Wie es mal Sängerin wird oder Eiskunstläufer. Wie es wie Papa Tennis spielen wird und wie Mama Motorrad fahren. Und man betrauert den Wandel, den das eigene Leben nimmt. Die verlorene Unbeschwertheit, die Aufgabe eigener Pläne.

Die ersten Monate sind ziemlich schwer. Wir lächeln immer, wenn andere fragen, aber die Zukunftsangst und die Einschränkungen in der Gegenwart zerren ziemlich an uns. Ich besuche eine Psychologin, empfohlen, weil sie viel mit Familien mit betroffenen Kindern arbeitet. Sie sagt, dass zuerst die Akzeptanz käme, anzunehmen, dass Nils nunmal ein schweres Schicksal habe. Damit kann ich gar nichts anfangen. Ich suche nach Kitaplätzen. Mit Tränen in den Augen sagen mir Erzieherinnen, wie gerne sie unseren Nils aufnehmen würden, die Belastung für das Team aber untragbar sei. Beim ersten Mal habe ich Verständnis, als ich diese Erklärung zum zehnten Mal höre, winke ich nur noch ab. Ich spreche mit Therapeut:innen, die mir Rollstuhlmodelle heraussuchen, die Nils als Teenager fahren kann.

Jeder Vorfall dieser Art lässt mich ein bisschen mutloser zurück.

Doch irgendwann merke ich, wie die Wut in mir zu brodeln beginnt. Auf die Reaktionen aus dem Außen, aber auch auf uns. Wir haben zugelassen, dass wir Nils Diagnose als ein Ende begreifen, als ein finales Urteil, das keine Veränderungen mehr erlaubt. Als sei im Alter von wenigen Monaten sein Schicksal besiegelt. Die Wut fühlt sich gut an, sie löst die Verzweiflung und Angst ab. Jede Situation, egal wie schwierig, lässt sich verbessern, sage ich mir. Mein Mann und ich beschließen, dass wir nicht akzeptieren werden, dass sich von hier an alles schlecht anfühlt.

Wir wenden uns von der Diagnose ab und unserem tollen Jungen zu. Wir nehmen all das Positive wahr. Dass er ein absolutes Strahlemännchen ist und ständig schelmische Scherze mit uns treibt. Wir bewundern seinen unbändigen Willen, seine Fähigkeit, nach epileptischen Anfällen unbekümmert weiterzumachen. Wir sind erstaunt über seine Fähigkeit, uns seinen Willen (und Unwillen!) auch ohne Worte mitzuteilen. Über die Fortschritte, die er jeden Tag nimmt. An so vielen Stellen zeigt er uns seine Bereitschaft, zu lernen, mehr und mehr am Leben teilzuhaben. Es ist an uns, diese Bälle aufzunehmen und ihn zu unterstützen.

Langsam entsteht ein hoffnungsfroheres Bild der Zukunft.

Wir fangen an, uns mit Menschen zu umgeben, die nicht Nils Defizite sehen, sondern sein Potential. In Berlin finden wir Unterstützer:innen, einen großartigen Arzt, eine fantastische Logopädin und Physiotherapeutin. Wir erwerben Wissen über Nils Bedürfnisse, über mögliche Therapieformen. Langsam entsteht ein hoffnungsfroheres Bild der Zukunft. Wir richten unseren Blick auf jene Aspekte, die veränderbar sind und erkämpfen uns das Gefühl zurück, nicht einer ungewissen Prognose ausgeliefert zu sein.

Einen weiteren Boost bekommen wir durch Shai Silberbusch. Über Bekannte haben wir von ihm gehört, er hat in Tel Aviv eine Methode zur Förderung von Kindern mit Special Needs entwickelt. Die Bekannten berichten von wirklich guten Erfolgen. Wir sind nach einem Zoom-Call mit Shai überzeugt davon, dass wir die Methode ausprobieren wollen. Uns gefällt sofort, wie umfassend Shai über seine Patient_innen nachdenkt. Er trennt nicht nach Disziplinen wie Logopädie, Ergotherapie, Physio – er behandelt das ganze Kind. Mit Fragen nach Nils Diagnose hält er sich nur kurz auf, er will sich davon nicht einschränken lassen, sagt er.

Als das Flugzeug endlich abhebt, lächeln mein Mann und ich uns kurz an. Ich kann die Aufregung in seinen müden Augen sehen. In den letzten beiden Jahren haben wir viel erlebt. Wir sind zweifach Eltern geworden, Nils, inzwischen zwei Jahre, und Polly, vier Monate, reisen mit uns. Wir haben schlaflose Nächte hinter uns, Schreiattacken, Koliken und fassungsloses Glück. Gebrabbel, duftende Kinderköpfe, winzige Grabsche-Händchen. Eben das, was alle Eltern in den kleinen Jahren erleben dürfen.

Im Januar 2023 reisen wir zu einer Trainingswoche nach Israel. Während draußen die Sonne auf Orangenbäume scheint, arbeiten wir drinnen konzentriert. Die First-Stop-Methode bindet die Eltern aktiv in die Therapie ein. Sieben Tage dauert die Intensiv-Woche, vier Tage arbeiten die Therapeut_innen mit Nils, danach sind wir dran. Unter Anleitung wiederholen wir Übungen zu Motorik, Kommunikation und Balance. Wir bekommen ein individuelles Programm für Zuhause zusammengestellt, das Nils Fähigkeiten gezielt weiterentwickelt. Das Programm ist intensiv, es fordert viel von Nils und uns. Während der Woche in Israel frage ich mich manchmal, ob ich wirklich eine therapeutische Rolle für Nils einnehmen möchte. Doch verstecken kann ich mich eh nicht vor der Situation, vermutlich ist es das Beste, sie frontal zu nehmen.

Zur Förderung von Nils gestalten wir unseren Alltag neu.

Auf unserem neuen Trainingsplan sind neben Physio-, Ergo- und Logoübungen besonders die alltäglichsten Situationen zu finden. Etwa die Mahlzeiten. Sie finden in einer Form statt, in der Nils aus ihnen lernen kann. Gegessen wird auf dem Fußboden, im Schneidersitz. Nils wird nicht wie vorher gefüttert, sondern er führt sein Essen selbst zum Mund. Ganz schön schwer für mich, ihm nicht immer sofort helfen zu wollen, wenn es nicht auf Anhieb klappt. Aber auf diese Weise wird jede Mahlzeit zur Motorik-Übung und die Fortschritte, die Nils Feinmotorik in wenigen Tagen erfährt, sind beeindruckend. Oder der tägliche Spaziergang: Nils sitzt nicht wie üblich bequem zurückgelehnt, wir legen ihn auf den Bauch. Mit Blick auf den Trubel um ihn herum vergisst Nils, dass er die Bauchlage eigentlich schrecklich findet. Er hält seinen Kopf frei oben, stützt sich auf die Hände, übt so seine Rumpfstabilität. Eine Fähigkeit, die ihm später beim Krabbeln zugute kommen wird. Wir bekommen ein Reservoir an Ideen mit, aus denen wir je nach Stimmung und Energielevel frei wählen. Wir lernen, die Übungen spielerisch umzusetzen, mit viel Spaß und ein bisschen Herausforderung.

Die Übungen sind dabei nur die äußere Form, eine weitere Veränderung findet in uns statt. Wir durchleben unsere zweite Häutung. Mussten wir erst von Verzweiflung zu Kampfgeist finden, rücken nun plötzlich Spontanität, Freude und Unbeschwertheit wieder in greifbare Nähe. Die Welt, in der wir Drinks mit Freunden genommen und Wochenendtrips gebucht haben, sie gibt es noch, merken wir. Es gibt uns als Paar noch, mit unseren Streits und Freuden. Und sogar mich mit meinen Träumen und Bedürfnissen. Glückliche Kinder haben glückliche Eltern, an diesen Spruch muss ich denken. Das Bild der Trauerarbeit, merken wir, passt nicht zu uns.

Hier ist niemand gestorben, sondern ein kleiner Junge ist da.

Er geht in mancher Hinsicht einen anderen Weg als andere Kinder, aber seine Zukunft ist offen und wir dürfen ihn in sie begleiten.

P.S.: Wir haben uns entschieden, in unserem Bericht unsere Namen zu ändern. Über Austausch mit anderen Familien in ähnlicher Situation freuen wir uns aber sehr, die Redaktion gibt Euch gerne unsere Mailadressen weiter.

Infos zu First-Step gibt es unter firststepmethod.com , Shai Silberbusch gibt am 26.2.2023 in Berlin einen Workshop.