Warum ich jeder Mutter “Lebenswerk” von Rachel Cusk empfehle

Es gibt Bücher, die treffen einen mitten ins Herz. Weil sie das, was man fühlt, auf den Punkt bringen und einem so überhaupt erst aufzeigen, was eigentlich gerade los ist. Wenn man bedenkt, was für eine transformative, weitreichende und vielfältige Erfahrung Mutterschaft ist, so ist es dann umso erstaunlicher, wie einheitlich das Narrativ dazu ist. Auch deswegen ist Rachel Cusks "Mutterschaft" eine absolute Leseempfehlung, vor allem für die Mütter, die sich von Mama-Ratgebern und einschlägiger Literatur nicht abgeholt fühlen.

Mir schenkte die Schwester meines Freundes das Buch als Wochenbettpräsent. Ich freute mich wahnsinnig, denn ich hatte schon davon gehört, die deutsche Übersetzung war vergangenes Jahr soeben erschienen und so wurde der Titel, der in der englischen Originalfassung schon vor fast 20 Jahren erschienen ist, in vielen Zeitungen besprochen. Und lag in Schaufenstern der Buchhandlungen aus, in die ich mit meinem Neugeborenen nicht gehen konnte, weil es sofort begann zu schreien, wenn es sich nicht mehr an der frischen Luft wähnte. Was für eine merkwürdige Zeit. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich verschlang das Buch geradezu und fühlte mich sehr gesehen. Und war total verblüfft, wie zeitgemäß das Buch ist – was auch bedeutet, dass die Herausforderungen für Mütter sich in den vergangenen 20 Jahren nicht so sehr geändert haben, wie man denken möchte. Und dass wir uns immer noch an veralteten Rollenerwartungen abarbeiten müssen!

Cusk beschreibt Mutterschaft nicht, wie es so viele andere tun, als rosafarbene Wolke. Die Autorin gibt auch den Facetten Raum, die ermüdend sind, die an uns zehren, die uns manchmal sogar zusetzen, weil wir das Gefühl haben, uns, die Person, die wir vor dem Kind waren, zu verlieren. Alleine das Zitat am Anfang: “Während das Kind für die Vorstellungskraft steht, wird die Sprache der Mutter einfallslos, gebieterisch und abstrakt” (es stammt vom amerikanischen Psychologen James Hillmann) – ja, doch, so fühlte sich das manchmal an, als sei etwas von mir verloren gegangen, als sei ich nur noch Körper und kaum mehr Geist. Schließlich sind Mütter gerade in den ersten Wochen so sehr den Bedürfnissen des Kindes ausgeliefert, gleichzeitig erholt sich der eigene Körper noch von der Geburt und leistet mit dem Stillen auch noch unglaublich viel und vor allem: zuvor nie Geahntes. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass ich mindestens 30 IQ-Punkte eingebüßt hatte, alles drehte sich nur um Stillen, Essen, das Baby Wickeln, Schlafen, Trinken, Trinken, Trinken… Wo blieb da die Person, die gerne laß und diskutierte? War das wirklich ich?

Das soll gar nicht so klingen, als sei das eine schreckliche Erfahrung gewesen – natürlich war es auch wunderschön! Aber eben eine Grenzerfahrung, wie ich sie zuvor wirklich nicht kannte. Und Cusk schafft es auch wahnsinnig gut, diese Ambivalenz von Mutterschaft zu beschreiben: “Als Mutter lernt man, was es bedeutet, zugleich Märtyrer und Teufel zu sein. In der Mutterschaft habe ich mich als rechtschaffener und schrecklicher erlebt, als so einbezogen in die Wunder und Schrecken dieser Welt, wie ich es aus der Anonymität der Kinderlosigkeit heraus nie für möglich gehalten hätte”, schreibt sie im Vorwort.

Trockener Humor gepaart mit tiefen Einsichten

Das Buch ist stellenweise auch einfach wahnsinnig lustig: “Meine Mutter war immer ziemlich ehrlich, was ihre eigenen Entbindungserfahrungen betrifft. Wenn es so weit ist, sagt sie, solltest du alle Betäubungsmittel nehmen, die sie dir anbieten”. Oder auch: “Mein Partner kündigte seinen Job, wir zogen aus London fort. Plötzlich erkundigten die Leute sich nach ihm, als wäre er schwer erkrankt oder gestorben. Was wird er denn machen?, fragten sie begierig erst mich, die schwieg, und dann ihn. Ich betreue die Kinder, während Rachel ein Buch über Kinderbetreuung schreibt, war seine Antwort. Außer uns schien das niemand lustig zu finden.” Zum Brüllen komisch. Und es zeigt auch ganz gut: Dass der Partner sich 50/50 einbringt, wurde damals schon argwöhnisch gesehen, und vielen Leserinnen werden Reaktionen a la “Was wird er denn machen?” auch heute noch sehr bekannt vorkommen. Es hat sich wirklich viel geändert, aber in manchen Punkten hat sich auch wirklich NICHT viel geändert!

Die eigentliche Stärke liegt aber in den wunderschönen, fast lyrischen Beschreibungen, die Cusk für ihre Wochenbettzeit findet. Dieses Befremden, dieses sich nicht sicher sein, was man eigentlich fühlt und das bange Gefühl, da in etwas hineingeschlittert zu sein, das größer ist, als man selbst… ich habe mich sehr darin wiedergefunden, denn als mein Sohn da war, war ich in manchen Stunden auch sehr verunsichert und keinesfalls immer nur im Mama-Honeymoon. Zwischen Schlafmangel, Hormonen und der Unerbittlichkeit, mit der die Bedürfnisse meines Babys auf mich einprasselten, obwohl ich mich kaum mehr auf den Füßen halten konnte, fand ich darin sehr viel Trost. Wie wenn eine Freundin etwas sagt, das man schon lange auch denkt, aber sich nicht zu sagen traut. Denn den Hebammen-Rat, mich hinzulegen, wenn das Kind schläft, kannte ich zwar in- und auswendig, aber ich war viel zu aufgekratzt, immer dann zu schlafen, wenn der Kleine ein Nickerchen machte. Stattdessen laß ich in “Lebenswerk”, und das tat auch sehr gut.

Cusk beschreibt ihre ersten Tage der Mutterschaft so: “Es ist, als hätte ich etwas extrem Teures gekauft, das ich mir im Laden noch heftig gewünscht habe, und dem ich nun, hier in meinem Wohnzimmer, mit welkendem Mut gegenüberstehe.” Cusk schreibt über Broschüren, die so verfasst sind, dass man das Gefühl bekommt, dass die Schuld bei Stillproblemen fast immer bei der Mutter zu suchen ist, über Schuldgefühle und Autonomie, über das merkwürdige Gefühl, auf eine so ursprüngliche und raue Art mit einem anderen Lebewesen verbunden zu sein, es, nun ja, zu säugen – und was das mit Frauen macht. Immer wieder habe ich beim Lesen gestaunt, wie zeitgemäß das alles ist, obwohl der Text vor zwanzig Jahren veröffentlicht wurde.

Kapitulation und Frausein

Cusk schildert auch, wie schwer es fällt, sich als Mutter um sich selbst zu kümmern. “Schon bald hat meine Tochter mich als erstes Objekt meiner Fürsorge abgelöst. Ich bin plötzlich eine unerledigte Aufgabe, ein Anruf, zu dem ich einfach nicht komme, eine Rechnung, die zu begleichen ich keine Zeit finde.” Und, diesen Satz kann ich SO unterschreiben: “Mit der Geburt des Babys hat sich eine lebenslange Eitelkeit in Luft aufgelöst.” Cusk gesteht sich auch so, dass nicht immer gut zu finden: “Wenn wir auf der Straße spazieren gehen, fallen mir junge Frauen auf, hübsch und sorgenfrei, und dann krampft sich mein Herz vor lauter Trauer um mein verstecktes, verlorenes Selbst zusammen”, schreibt sie. Ja, so war das ganz am Anfang, zumindest für mich. Und es ist ja irgendwie auch ganz natürlich, dass man um sein altes Selbst trauert, wenn man in das Neue noch hineinwächst, oder? Zu oft wird die Mutterrolle überhöht, als müssen man sich nur darüber freuen und nicht gleichzeitig auch Wachstumsschmerzen haben, ohne dass das etwas schmälert an der Liebe, die man seinem Kind gegenüber empfindet.

Kurz: “Lebenswerk” beschreibt so viele Facetten von Mutterschaft, die wilde Entschlossenheit, es besser zu machen, die Kapitulation, wenn man einsieht, dass man an den eigenen hehren Vorsätzen scheitert, den Zweifel, die Liebe, das Ringen um Gleichberechtigung und Selbst-Bleiben trotz der neuen Rolle (oder gerade wegen ihr!) und ist, finde ich, ein tolles Wochenbettgeschenk. Danke nochmal an meine liebe Schwipp-Schwägerin dafür!

Das Buch könnt ihr hier auf Deutsch und hier auf Englisch bestellen.

Porträt von Rachel Cusk: Copyright Suhrkamp Verlag