“Weitermachen heißt nicht vergessen” – was hilft Eltern, die ein Kind verloren haben?

Wie trauert man um ein Kind? Wie verwindet man ein solch traumatisches Erlebnis, eines, von dem die meisten wohl sagen würden, es ist das Schlimmste, das sie sich vorstellen können? In den vergangenen Monaten war dieses Thema wieder sehr präsent. Denn erneut machte die tragische Geschichte von Familie Ewald Schlagzeilen. Vater und Sohn starben an einer Krebserkrankung, dann erkrankte (mehr darüber und das Li-Fraumeni-Syndrom könnt ihr hier lesen) Mutter Stefanie an Brustkrebs, und als sie endlich die Behandlung erfolgreich hinter sich gebracht hatte und aufatmen konnte, wurde bei ihrer Tochter Neele ein inoperabler Hirntumor festgestellt. Und ja, da fragt man sich: Wie grausam kann das Leben einer Familie mitspielen?

 

 

Im Herbst 2020 erschien auch das Buch “NILS. Von Tod und Wut. Und von Mut.” von Melanie Garanin im Carlsen Verlag. Kennt ihr es schon? Es ist wunderschön. Und herzzerreißend schrecklich. Und mutig. Und traurig. Aber vor allem: Schön. Viele von euch dürften Melanies Blog kennen. Für alle, denen es neu ist: Melanie und ihr Mann verloren vor fünfeinhalb Jahren ihren Sohn Nils. Nils hatte Leukämie, starb aber nicht an dem Krebs, sondern an den Folgen der Behandlung, an einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Diese wurde nicht rechtzeitig erkannt – trotz zahlreicher Untersuchungen und obwohl der kleine Junge schlimme Bauchschmerzen hatte und die Familie immer wieder ins Krankenhaus fuhr. Auch hier ist man fassungslos und fragt sich, wie Melanie Garanin es geschafft hat, weiterzuleben. In ihrem Buch bekommt man eine Ahnung davon, wie. Auch das macht es so berührend und wichtig. Übrigens hat der Carlsen Verlag auch ein ganz tolles Video mit Melanie hochgeladen, das auch noch einmal eine Vorstellung davon gibt, wie sie als Autorin so tickt. Könnt ihr hier sehen.

Irgendwie ist das Thema Elterntrauer also in diesen Wochen, die sich auch so schon oft genug schwer anfühlen, also merkwürdig präsent. Und, was man oft vergisst: Es gibt Eltern, für die ist der Tod eines Kindes immer präsent, weil sie ihn erlebt haben – und ihn, auch wenn sie damit weiterleben und sogar wieder glücklich werden, doch nie vergessen können.

Eine, die sich mit dem Thema gut auskennt, ist Katja Seydel. Katja arbeitet als Bestatterin bei Lebensnah Bestattungen in Berlin und betreut auch Eltern, die ihr Kind verloren haben oder wissen, dass es bald an einer unheilbaren Krankheit sterben wird, und mit Kindertrauer Berlin auch die Geschwister solcher Kinder. Sie bringt gut auf den Punkt, warum der Verlust eines Kindes für uns alle eine besonders furchtbare Vorstellung ist.  „Kind bleibt man immer. Diese Rolle ist fast alterslos. Wir denken bei Eltern, die ein Kind verlieren, oft an Sternenkinder bis zum Teenageralter, eher selten an Erwachsene. Aber natürlich ist es für Eltern immer furchtbar, wenn ihr Kind stirbt, denn das ist so nicht geplant. Es gibt beim Sterben für uns eine festgelegte Reihenfolge, mit der wir uns abgefunden haben, die wir für uns eine Art Regel oder System darstellt, an dem wir uns orientieren. Der Tod eines Kindes ist wie ein Fehler im System”, sagt Katja.

Wie trauert man “richtig”?

Katja leitete selber eine Elterntrauergruppe. Ihr und ihrem Team ist es wichtig, trauernde Eltern individuell zu begleiten. Dabei scheut sie dann auch keine Mühen. „Ein Junge, der nach langer Krankheit verstorben ist, hatte immer ein bestimmtes Plüschtier bei sich. Nach seinem Tod hat seine kleine Schwester es an sich genommen und wollte es nicht mehr hergeben. Sie hat sich so ganz alleine ihren Anker und ihren Trauerweg gesucht. Die Eltern wollten ein solches Plüschtier aber trotzdem symbolisch zu dem Jungen in den Sarg legen, und da haben wir uns auf die Suche begeben und keine Mühen gescheut – und wurden auch schnell fündig. Die Familie, die das Stofftier gespendet hat, fand es ebenfalls sehr schön, dass sie helfen konnte, den Abschied so zu gestalten, wie die Eltern sich ihn gewünscht haben.“

 

Katja erlebt diese Eltern dabei oft zunächst in einem totalen Organisationsmodus, aus dem sie Schritt für Schritt ausbrechen, wenn sie merken, dass sie an einem entspannten Ort sind, wo kein Standardprogramm abgespult werden muss. Überhaupt seien Bestattungen von Kindern solche, bei denen sämtliche Konventionen über Bord geworfen werden, denn was der Norm entspricht, passt hier einfach nicht. “Viele bauen den Sarg selber, geben die Lieblingsdecke oder das Lieblingsplüschtier mit – das kann eine gute Basis für die Trauer nach der Beisetzung sein. Es ist wichtig, dass man dafür gute Bilder im Kopf hat”, sagt Katja. Was ist außerdem hilfreich in einer solch schrecklichen Situation – insbesondere, wenn Geschwister involviert sind? „Wichtig ist es, soweit es geht normal weiterzumachen, gerade dann, wenn Geschwister da sind. Kinder bekommen ein schlechtes Gewissen, wenn sie merken, dass sich alles um sie und ihre Krankheit dreht. Alltag und Ablenkung tun ihnen gut. Nicht umsonst gibt es Vorleser und Clowns in Krankenhäusern. Eltern sollten mit ihren Kindern offen reden und dabei keine Metaphern oder beschönigende Sprache wie „eingeschlafen“ statt „sterben“ verwenden, denn je nach Alter verstehen viele Kinder so etwas auch buchstäblich und tun sich dann beispielsweise schwer, einzuschlafen. Man kann die Trauer und das Vermissen nicht einfach auslöschen, wichtig ist, darüber zu reden, den Raum und die Gefühle zuzulassen und das Geschwisterkind nach dem Tod seines Bruders oder seiner Schwester so viel wie möglich in die Beisetzung und das Erinnern einbinden. Manche bringen eine eigene Schippe mit, andere bemalen den Sarg oder sammeln schöne Erinnerungsmomente auf Zetteln – etwas Eigenes zu finden ist ein guter Weg, dieses unglaublich schmerzhafte Erlebnis gemeinsam zu verarbeiten”, sagt Katja.

Hier können betroffene Familien Hilfe finden

Was ebenfalls helfen kann, vor allem, wenn der Todesfall plötzlich ist: Traumaspezialisten, die mit Schicksalsschlägen dieser Art Erfahrung haben. Ehrenamtliche Sterbe- und Trauerbegleiter können Eltern über jedes Kinderhospiz finden, in Berlin gibt es da zum Beispiel den Sonnenhof  und in Hamburg die Sternenbrücke. Diese Begleiter haben eine Ausbildung zum Sterbe- und Trauerbegleiter sowie immer eine Zusatzausbildung für die Begleitung von Familien und Kindern. Katja mag auch das Buch “Grasbeißerbande” von Susen und Karsten Stanberger, weil es zeigt, wie unterschiedlich und reif Kinder mit dem Tod umgehen. Und es gibt auch ganz konkrete Dinge, die betroffene Familien tun können, insbesondere, wenn sie Geschwisterkindern bei ihrer Trauer helfen wollen. „Viele packen einen Erinnerungskoffer, in den alle Dinge kommen, die das Kind an ihr verstorbenes Geschwisterchen erinnern. Das ist ein Ort der Erinnerung, den man zusammen schaffen kann und der oft eine bessere Möglichkeit ist, als der Besuch am Grab. Gräber werden von außen als Ort der Trauer vorgegeben, passen aber nicht für alle. Manche Kinder finden Bilder: Vögel, die sie vom Fenster aus sehen und für die Reinkarnation des Geschwisterchens halten – das ist keine Spinnerei, sondern ihre Art zu sagen: Die Seele ist nicht verschwunden, mein Bruder oder meine Schwester leben weiter. Manche Familien bemalen jedes Mal einen Stein, den sie zum Friedhof mitbringen, um diesen Besuchen die Schwere zu nehmen. Eigene Rituale zu schaffen kann sehr hilfreich sein”, sagt Katja.

Etwas Licht in all dem Dunkel 

Auch, wenn das Thema das Herz sehr schwer macht, findet Katja doch immer wieder auch lichte Momente, wenn sie auf Familien trifft, die derart Schreckliches erlebt haben. „Trauernde Eltern sind unglaublich stark und obwohl der Verlust eines Kindes jedes Mal unfassbar schwer ist, gibt es mir Hoffnung zu sehen, dass es Menschen gibt, die das überleben, auch, wenn es nicht leicht ist. Manche bekommen dann sogar noch einmal ein Kind, und auch, wenn sie den Verlust nie vergessen und das tote Kind in ihrem Herzen weiterlebt, gehen sie im Leben weiter und finden einen guten Umgang damit. Weitermachen heißt nicht vergessen”, sagt sie.

Und auch Melanie, die ihren Sohn Nils vor über fünf Jahren verloren hat, hat einen Weg gefunden, weiterzuleben: “Man lernt, mit diesem Loch zu leben, es weder zu ignorieren oder auszufüllen. Man versteht, dass es mit allen Tücken dazugehört. Und man verändert sich, wird schwieriger im Umgang. Ich finde aber auch die Vorstellung unangenehm, dass ich zu sehr lerne, damit umzugehen, gerade jetzt, wo ich alles in ein Buch gepackt habe. Der Körper und das Gehirn wollen zusehen, dass es einem besser geht und man muss es auch irgendwie verwinden. Aber ich will es auch nicht ganz hinter mir lassen, es nicht mehr fühlen und es weggepackt haben. Manchmal will ich den Schmerz auch fühlen, er ist auch eine Verbindung zu Nils”, sagt sie.

Foto: Ralf Skirr

Porträt von Katja: Leonie Ritz