Überreizte Babys werden überreizte Kinder, werden überreizte Erwachsene
Als ich etwa jene Freundin, von der ich gerne erzähle und die Psychologin ist, einst kennenlernte, führte sie das Bild der Teekanne ein. Ich solle mir bei Gelegenheit doch einfach Mal ein paar Minuten nehmen und einen Tee trinken. Ganz entspannt. Die Beine womöglich hochgelegt. Das Handy und all der Elektromüll weit weg. Nur ich, der Tee und meine Gedanken.
Die Teekanne aber, sie wollte mich als Bild nicht erreichen.
Ich hatte schlichtweg keinen Zugang zu ihr, zu diesem Gedanken, diesem Szenario – warum es mir helfen sollte, eine Tasse Tee zu trinken. Ich bin letztendlich erst in den vergangenen Jahren darauf gekommen, was diese Freundin und all ihre Therapeutenkollegen damit meinen: nämlich sich selbst zurückzunehmen, sich Pausen zu gönnen, gut und gnädig mit sich zu sein, kurzum, sich selbst im Blick zu haben, vor allem um die eigenen Grenzen zu wissen und sie einzuhalten anstatt für die Grenzen der Anderen zu leben, vor allem auch zu sehen, dass Schwäche ob zu viel Härte sich im eigenen Leben nicht durch noch mehr Härte auskurieren, gar ausmerzen lässt.
Letzteres wiederum, nämlich die Härte gegen mich selbst, könnte man wohl als Mantra meiner ersten 30 Lebensjahre begreifen. Ich bin in einer Familie groß geworden, die sich irgendwo zwischen protestantischem Arbeitsethos und Sozialaufsteiger-Fantasien beschreiben lässt. Schwächen, Schmerzen, Probleme fanden bei uns zuhause einfach nicht statt. Stattdessen: Leistung und Anpassung. Ordnung und Respekt.
Wenn ich nicht irgendwann aus diesem Zugang zum Leben herausgefallen wäre, säße ich dieser Tage sicher in irgendeiner Kanzlei und würde 60-Stunden reißen, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken. Abends ginge es vielleicht ins Gym und am Wochenende zum Brunch, zwei Mal im Jahr für drei Wochen an einen teuren Strand mit Cocktails 24/7. Ich führe bestimmt auch ein teures Auto und trüge eine teure Tasche – aber wer ich abseits dieses Lifestyles wäre, das spürte ich womöglich eher nicht.
Und nun will es das Leben mit mir also so, dass ich damit konfrontiert bin und werde, meine Bedürfnisse unter all den Tonnen Leistungsanspruch meiner Kindheit und Jugend wieder auszubuddeln. Allein, um jene Tasse Tee trinken zu können. Aber viel mehr noch: Auf dass mein Kind genau das jetzt und für alle Zeiten für sich einzurichten weiß: seine Bedürfnisse zu spüren, sie ernst zu nehmen und danach zu handeln – anstatt sich selbst immerzu Reizen und Ansprüchen auszuliefern, die es eigentlich nicht ertragen kann.
Er und ich, wir sind nicht eins – wobei.
Nun finde ich per se eigentlich erst Mal schwierig meine Ausgangslage, mein Empfinden auf mein Kind und dessen Gefühlswelt zu antizipieren. Von wegen, wenn ich, dann er, weil ich und er eins sind. Ich glaube schon, dass gewisse Verhaltensmuster sich auf das eigene Kind übertragen und dass unsere Kinder mitunter auch Wesenszüge ihrer Eltern übernehmen. Aber wie gesagt: so eine Annahme, glaube ich, kann auch gerne mal daneben gehen, weil uns Kinder natürlich vor allem mit uns selbst konfrontieren, das aber eher bedeutet, dass wir uns selbst im Kind wieder entdecken, das Kind deshalb aber noch lange nicht sein muss, wer wir sind. Das Kind ist erst Mal nur es selbst und keine Minime-Version unserer selbst, die vor allem in Kaschmir gewickelt werden möchte.
Und nun folgt das ABER.
Denn mit der Überreizung verhält es sich wahrscheinlich ja so, dass wir diesbezüglich in unseren Grenzen sehr verschieden geartet sind – aber sie alle ab einem gewissen Punkt doch gemein haben. Mein Sohn etwa kann durchaus wie ein Löwe brüllend und Äste schwingend über den Hinterhof seiner Kita wetzen, nur um ein paar Minuten später vor einem kleinen Pudel, der ihm entgegenkommt innerlich zu erbeben und sich an mein Hosenbein zu schmeißen. An Wochenenden bleibt er inzwischen – und seitdem er sich mir sehr explizit mitzuteilen weiß – gerne einfach zuhause. Manchmal kann ich ihn nicht einmal für ein Croissant vom Bäcker nach draußen locken.
Und das versuche ich dann in der Regel auch für ihn so einzurichten.
Denn, ich glaube, die Kinder mit sich und ihren Bedürfnissen in Berührung zu lassen, beruht vor allem auf zwei Eckpfeilern.
Erstens: Solange unsere Kinder sich ihre Bedürfnisse nicht selbst erfüllen können, müssen wir als Eltern dafür Sorge tragen. Und zwar: so gut es eben geht.
Ich habe ja hier schon einmal geschrieben, wie ich meinen Sohn gleich in der ersten Nacht nach seiner Geburt zu mir in das enge Krankenhausbett nahm, weil ich mein Kind nicht von mir in einem Plastikbett separiert liegend ertrug. Insbesondere im Wochenbett hing ich wie ein Wachhund über ihm. Wir hatten kaum und erst relativ spät Besuch, zeitlich immer dosiert, parfümierte Menschen durften Julius nicht halten, überhaupt reichten wir ihn nicht wahllos herum, bzw. kassierte ich ihn immer sofort ein, wenn ich merkte, dass er sich nicht wohl fühlte. Ich glaube, ich war gewisser Weise ein wenig die Klischee-Jungmutter, weil ich viel instinktiv tat, anstatt groß darüber zu theoretisieren – aber Überreizung, bzw. genau die zu verhindern, trug ich als Stichwort durchaus durch unseren Alltag.
Ich war vor allem einfach sehr gerne und bin es immer noch: Mama. Insbesondere die Säuglingszeit habe ich sehr geliebt und deshalb war mir Julius – bis auf den Schlafentzug und all die Laaangeweile zuweilen am und neben der Krabbeldecke – in dieser Zeit gefühlt nie eine Last.
Das klingt wahrscheinlich alles recht idealtypisch.
Heute würde ich allerdings und aus der Distanz trotzdem sagen: ich war in dieser Zeit mindestens so leistungsorientiert unterwegs wie in den Berufsjahren zuvor – nur dass ich es nicht mehr irgendeinem Ressortleiter recht machen wollte, sondern diesem neuen Chef, meinem Baby – darüber aber eine andere Person regelrecht und viel zu oft vergaß: mich selbst. Es ist nämlich eigentlich überhaupt nicht so gewesen, dass bei uns alles mega easy, total reibungslos verlaufen wäre. Klar, ich habe jeden Tag gefühlt ein Pfund Splitterbrötchen gegessen, mein Sohn hing mir in der Regel sehr entspannt vor oder an de Brust und ich hatte einfach wahnsinnig viel Freizeit. Das war toll. Aber bei uns ist auch richtig viel, richtig scheiße gelaufen – nur, dass das kaum jemand mitbekommen hat, weil ich im Zweifel die einzige war, zu deren Lasten diese Scheiße ging.
Ich kann mich erinnern, in einer dieser Stillgruppen am Prenzlauer Berg gesessen zu haben, in der wir Mütter wochenweise unser Schlafleid klagten. Jedenfalls gab es diesen einen Moment, in dem damals die Gruppenleiterin sich im Anschluss an meinen Vortrag übers Zombiesein darüber echauffierte, warum wir Mütter uns denn so offensichtlich immer allein in diesem Defizit einrichteten. Diese Gruppenleiterin sprach also, wir sollten aufhören zu Jammern und unsere Männer, unser Umfeld mehr in die Pflicht nehmen. Ich glaube, ich errötete kurz – zumindest innerlich und zwar nicht aus Scham, sondern aus der Wut heraus – wie das so ist mit den Dingen, die wir nicht wahrhaben wollen, wir gehen erst einmal in die Abwehr. Sie hatte aber eigentlich Recht, wenn ich das auch adhoc nicht wahrhaben wollte.
Nun ist es selbstredend einfach, in die Vergangenheit zu reisen und die Probleme von damals aus der Gegenwart zu erklären. Hinterher ist man ja immer schlauer und zuweilen ist es in der Situation auch gar nicht so einfach, das eigene Verhalten zu hinterfragen – insbesondere, wenn man monatelang nicht richtig geschlafen hat.
Und doch ist genau dieser der springende Punkt: ein Baby, ein Kind (und damit wären wir dann auch beim zweiten Eckpfeiler) kann immer nur so entspannt sein wie seine Eltern es sind. Ich glaube, das gilt für die Gegenwart wie für die Zukunft und das spätere Leben unserer Kinder. Wenn wir davon ausgehen, dass so ein Baby vielleicht mit Eltern konfrontiert ist, die alle seine Bedürfnisse sehen und adäquat reagieren, sich selbst darüber aber zurückstellen – dann scheint das fürs Baby auf den ersten Blick erstmal gut, egal was mit den Eltern ist. Aber: Zum einen glaube ich nicht, dass sich Eltern in der totalen Überforderung dauerhaft adäquat zu verhalten wissen, und zum anderen nimmt unser heranwachsendes Kind spätestens ab dem Kleinkindalter genau diesen Mangel in der Selbstfürsorge seiner Eltern doch auch wahr.
Und daraus können dann die verschiedensten Dinge ergehen – ein überzogener Anspruch an das Gegenüber etwa oder ein zu geringer Anspruch (ohne hier allzu deutlich Pathologien ansprechen zu wollen).
Beides keine Option, finde ich.
Mein Baby, mein Kind soll sich spüren, es soll aber auch mitbekommen, dass ich mich spüre und ihm da Grenzen setze, wo ich ansonsten meine eigenen überschreiten würde. Es soll sich selbst respektieren, aber mich und alle anderen Menschen in seinem Leben ebenso. Nun lässt sich sicher trefflich darüber streiten, ob die eigenen und qua der Sozialisation und des bisherigen Lebenswandels erwachsenen Grenzen immer die besten und richtigen sind, um sie dem eigenen Kinde vorzuhalten oder ob wir sie nicht korrigieren müssten, aber sie stehen nunmal, diese Grenzen. Gewisser Weise unverrückbar, glaube ich – dass daran fundamental zu rütteln wäre, halte ich für eine Illusion. Aber das ist dann auch schon wieder ein anderer Punkt, ein Thema für sich und ein anderes Mal.