“In vielen Köpfen gibt es noch immer das Bild: Jungs sind anstrengender und schwieriger als Mädchen”

Ich bin zweifache Jungs-Mama und glücklich damit. Ich hatte, auch wenn mir das gern unterstellt wird, nie den Wunsch, ein Mädchen zu bekommen. Einen Jungen hab ich mir aber auch nicht gewünscht. Mir war das Geschlecht meiner Kinder schlichtweg egal. Was ich wollte, waren tolle, liebenswerte, interessierte, empathische Kinder. Ich kenne aber etliche Frauen in meinem Umfeld, die sich unbedingt ein Mädchen gewünscht haben. Bei einigen hat es geklappt und andere waren ehrlich enttäuscht über die Mitteilung der Frauenärztin bzw. des Frauenarztes, dass es ein Junge wird. "Gender-Diasappointment" nennt das die Wissenschaft. Denn noch immer gelten Jungs in unserer Gesellschaft als wilder, lauter, konfrontativer, hibbeliger, chaotischer, frecher, fauler und rebellischer als Mädchen. Kurz gesagt: Mit einem Jungen hat man mehr Stress.

In Teilen stimmt das bei mir auch. Meine Jungs sind mal wild, mal frech, mal chaotisch, mal laut und mal bockig. Und ja, sie können mir manchmal den letzten Nerv rauben. Ob sie damit anders als Mädchen sind, kann ich nicht beurteilen. Ich hab ja keines. Einer, der das wissen muss, ist Dirk Fiebelkorn (im Bild). Der gebürtige Bad Segeberger ist nicht nur Vater von einem Jungen UND einem Mädchen und hat somit den Vergleich – er ist außerdem gelernter Erzieher und, was ich noch viel spannender finde, seit 2016 zertifizierter Jungen-Pädagoge. In der Welt der Jungs kennt er sich also hervorragend aus. Wie Dirk den Weg in die Jungen-Pädagogik gefunden hat, worunter er selbst in seiner Kindheit gelitten hat und warum Jungen es in Bildungseinrichtungen noch immer schwer haben – all das erfahrt ihr im folgenden Interview. Und außerdem erklärt er uns, was er von Waffen- und Kriegsspielen hält, warum Jungs, die Kleider lieben, nach wie vor nicht überall akzeptiert werden – und dass er nichts blöder findet, als Schubladendenken…

Lieber Dirk, du bist zweifacher Vater, von einem Jungen und einem Mädchen. Wieso bist du Jungen-Pädagoge geworden?
Das hat primär mit meiner eigenen Biografie zu tun. Ich bin als Junge aufgewachsen und habe vor allem in der Grundschule von Lehrer*innen und Hortner*innen große Ablehnung erfahren müssen. Weil ich laut war, die Konfrontation gesucht habe und sehr wild und aktiv war. Also all das verkörpert habe, was gern als „anstrengend“ bezeichnet wird. In der Kita war es noch okay, aber in der Schule gab es kaum wirkliche Pädagog*innen, die mit mir umzugehen wussten. Da wurde ganz viel mit Schuld um Scham gearbeitet – statt mit Interesse und Empathie. Ich habe mich „nicht gesehen“ und damit „nicht verstanden“ gefühlt. Heute möchte ich den Jungs, denen es so geht wie mir damals, helfen. Und den Fachkräften und Eltern möchte ich gleichzeitig ein paar Tools mit an die Hand geben, weil es noch immer ganz viele Unsicherheiten im Umgang mit Jungs gibt.
Ich bin gelernter Erzieher, habe lang im Schulhort gearbeitet und da gab es einen Schlüsselmoment: Die Jungs haben mit Lego eine Atombombe gebaut und das fanden wir im Team alle nicht gut. Ein Teil von uns wollte den Kindern daher verbieten, so etwas zu bauen. Rein instinktiv fand ich das Verbot aber nicht richtig, weil ich genau wusste, sie würden die Bombe im Verborgenen weiterbauen. Also habe ich angefangen, zu recherchierten, um herauszufinden, wie man sich in so einer Situation besser verhalten kann. Und das war im Grunde der Anfang für meinen Weg zum zertifizierten Jungen-Pädagogen.

Sind Mädchen „Selbstläufer“? Oder gibt es auch Mädchen-Pädagog*innen?
Ja, die gibt es. Die Mädchen-Pädagogik ist sogar viel älter als die Jungen-Pädagogik. Ihre Wurzeln liegen in der Frauenrechtsbewegung der 70er Jahre, als die Emanzipation sich mehr und mehr durchsetzte. Also als begonnen wurde, den Mädchen zu sagen, dass sie nicht alles tun müssen, was man ihnen sagt und man stattdessen ihr Selbstbewusstsein und ihren Willen gestärkt hat. Etwa zehn Jahre später entstand dann die Jungen-Pädagogik.

Warum braucht es die Jungen-Pädagogik? Was ist deren Ziel?
Ziel der Jungen-Pädagogik ist es, dass sich Jungen mit ihrem Geschlecht so entwickeln können, wie sie wollen und wie es ihnen gut tut. Unsere Gesellschaft hatte und hat noch immer so viele Erwartungen an Jungs, wie sie zu sein haben, was sie zu tun haben. Nach dem Motto: Sei stark. Heul nicht. Zeig keine Gefühle. u.s.w. All das will die Jungen-Pädagogik, die auch Teil der Gender-Pädagogik ist, aufarbeiten und aufbrechen.

Ich bin zweifache Jungs-Mamas. Als ich mit Sohn 2 schwanger war, hab ich schon hin und wieder mitleidige Blicke ernten müssen. Nach dem Motto: „Hach, du Arme, noch ein Junge!“ Wieso ist das so? Verstehst du solche Reaktionen?
Ja, diese Meinungen sind mir nicht unbekannt. In vielen Köpfen gibt es eben noch immer das Bild: Jungs sind wild, laut, chaotisch, konfrontativ. Kurzum: Jungs sind anstrengender und schwieriger als Mädchen. Ich bin jedoch gar kein Freund von solchem Schubladendenken. Nehmen wir mal Fußball als Beispiel. Da herrscht die Meinung, dass jeder Junge gerne Fußball spielt. Ich bin aber sicher, dass in jeder Mannschaft auch Jungs mitspielen, die viel lieber etwas ganz anderes machen würden, als dreimal die Woche gegen den Ball zu treten. Weil Eltern, Freunde, der Trainer es aber von ihnen erwarten, spielen sie mit und hinterfragen es oft nicht mal. Weil es eben so ist, wie es ist. Glücklich sind sie aber nicht. Daher müssen wir solche starren Denkmuster dringend aufweichen. Nicht umsonst liegt die Suizidrate bei Männern viel höher als bei Frauen.

Was sind denn die gravierendsten Unterschiede zwischen Jungs und Mädchen – mal abseits der anatomischen und biologischen?
Sicher gibt es geschlechtstypische genetische Prädispositionen bei Jungen und Mädchen. Damit beschäftige ich mich allerdings nur interessehalber, weil ich darin nur einen indirekten Nutzen für meine Arbeit sehe. Mein Augenmerk liegt eher auf dem konträren Umgang der Gesellschaft mit Jungs und mit Mädchen. Dieses duale Schwarz-Weiß-Denken blockiert uns total und das müssen wir dringend aufbrechen.
Was mich interessiert, sind nicht die Unterschiede zwischen Jungs und Mädchen, sondern der Junge an sich. Punkt. Und dann schaue ich mir an, in welcher Welt dieser Junge lebt, wie kann man diese Welt gestalten und verbessern. Interessiert er sich für Fußball ist das okay. Interessiert er sich fürs Kochen ist das ganz genauso okay. Und wenn er sich für beides gleichermaßen interessiert ist das auch völlig okay.
Als Jungen-Pädagoge geht es mir nicht darum, Kindern bestimmte Dinge abzutrainieren. Mir ist nur wichtig, dass sie sich, bei allem was sie tun, gut fühlen und sich gut entwickeln können – ohne das sie das Gefühl haben, bestimmten Erwartungen entsprechen zu müssen.

Sind unsere Bildungseinrichtungen – Kitas und Schulen – eher auf Mädchen und ihre Bedürfnisse ausgerichtet?
Das werde ich häufig gefragt. Mein Grund, Jungen-Pädagoge zu werden, war meine eigene Biografie. Und die hilft mir unheimlich bei meiner Arbeit. Denn ich habe durchaus die Erfahrung machen müssen, dass in der Welt der Pädagog*innen und Erzieher*innen, in der bis heute vor allem Frauen arbeiten, Jungen und ihre Bedürfnisse häufig nicht verstanden werden. Eben weil ihnen die eigenen Erfahrungen fehlen. Ein Beispiel: Erzieherinnen verbieten häufig das Kämpfen, weil sie gar nicht wissen, wie gut sich das anfühlt, ein Laserschwert zu schwingen. Und das ist ein großes Problem. Daher sollten in Kindereinrichtungen viel mehr Männer arbeiten. Nicht, weil sie die besseren Pädagogen sind – sondern weil Kinder die Diversität brauchen. Der Frauenanteil in deutschen Kitas liegt bei 96 Prozent und das muss sich dringend ändern. Wir brauchen die Vielfalt. Und das bedeutet nicht, dass wir nur kämpfende und fußballspielende Männer in der Kita brauchen – sondern auch solche, die mal ein Bastelangebot machen. Kurzum: Männer, die einfach sie selbst sind.
Aber um das zu schaffen, braucht es für das Kitapersonal erst einmal eine gute Bezahlung. Denn solange Erzieher*innen so mies bezahlt werden, solange werden wir um gute Fachkräfte kämpfen müssen. Erst recht um die Männer, denn die sagen sich: In der Industrie und Wirtschaft ist doch viel mehr zu holen – geh ich mal lieber dorthin.

Was ist mit Kindern, die ohne Vater aufwachsen?
Das ist schon ein Manko für Kinder. Wobei ich sagen muss, dass ich vor alleinerziehenden Eltern – sei es Mutter oder Vater – einen riesigen Respekt habe. Die schaffen es in der Regel schon, das fehlende Elternteil so gut es geht auszugleichen. Dennoch ist es natürlich gut, wenn da noch ein zweites Elternteil ist – das können auch zwei Männer oder zwei Frauen sein. Denn so ruhen Fürsorge und Verantwortung auf vier Schultern und nicht nur auf zweien. Und die Kinder erleben, die eben schon angesprochene Diversität. Außerdem stehen Alleinerziehende auch finanziell unter großem Druck. Und das spüren wiederum die Kinder. Aber wenn es, wie eben angesprochen, mehr männliche Pädagogen in den Einrichtungen gäbe, wäre das für Kinder von Single-Müttern schon mal ein guter Ausgleich.

Ich dachte bislang, wir leben immer noch in sehr patriarchischen Strukturen – und nun kommst du und meinst, Jungs bräuchten mehr Support. Widerspricht sich das nicht?
Ganz und gar nicht. Wir glauben, dass das Patriarchat nur schlecht für die Frauen sei. Aber das ist Quatsch – auch für die Männer ist es nicht gut. Auch sie müssen sich dem Patriarchat und seinen Regeln fügen. Die meiste Gewalt, die prozentual von Männern ausgeht, richtet sich nicht, wie allgemein angenommen, gegen Frauen, sondern gegen andere Männer. Und Schuld daran sind diese tradierten Strukturen, in denen wir immer noch fest hängen. Jungen müssen lernen und wir müssen ihnen dabei helfen, dass Macht und Erfolg nicht das allein Erstrebenswerte im Leben ist – sondern, dass es völlig okay ist, auch mal zu scheitern, Gefühle zu zu lassen und sich Erwartungen zu widersetzen. Das ist kein einfacher Prozess, aber er wird sich auf lange Sicht lohnen.

Was hälst du von gender-neutraler Erziehung? Ich bin da tatsächlich etwas zwiegespalten, weil ich schon der Überzeugung bin, dass Jungs teilweise andere Dinge wollen und benötigen als Mädchen…
Gender-Pädagogik wird oft völlig falsch erklärt. Sie will keine Gleichmachung der Geschlechter. Ihr Ziel ist die freie Entwicklung der Kinder. Nach dem Motto: Egal welches Geschlecht du hast, du sollst dich so entwickeln, wie es dir gut tut. Die Idee ist also, Kinder nur als Kinder zu behandeln – und nicht als Junge oder als Mädchen. Diese Grundidee finde ich auch sehr gut, aber unsere Gesellschaft spielt da nicht mit. Selbst wenn die Eltern eines Jungen daheim das Geschlecht ihres Kindes komplett ausblenden, sobald er in die Kita, in die Schule oder zu Freunden geht, kriegt er die volle Breitseite: Du bist ein Junge und so und so hast du zu sein. Und sobald wieder bestimmte Erwartungshaltungen dazwischen funken, funktioniert dieses Konzept nicht mehr.

Warum ist es eigentlich noch immer so, dass ein Mädchen problemlos Jeans und Sneakers tragen darf, aber ein Junge im Kleid häufig seltsame Reaktionen hervorruft? Und was können wir als Eltern gegen solche Formen der Diskriminierung tun?
Bei dem Thema geht es um ein bestimmtes, sehr tradiertes Bild von Männlichkeit bzw. um das Absprechen von Männlichkeit. Unsere Generation wird da nach wie vor von unseren Eltern und Großeltern beeinflusst. Es gibt da noch immer eine Dynamik, die bis heute einen negativen von Intoleranz geprägten Einfluss hat. Da gelten noch immer Parolen, wie: „Willst du ein Mann sein, dann musst du Leistung bringen und dich behaupten.“ Oder schlimmer noch:  „Wenn du nicht männlich bist, hast du keine Existenzberechtigung.“ Kleider passen da einfach nicht ins Bild. Und auch wenn wir heute deutlich toleranter sind als früher, ist ist es sehr schwer, solche Denkmuster vollends aufzulösen.
Wir können nur versuchen, unsere Kinder zu stärken, ihnen Liebe zu geben und den Raum, sich auszuprobieren – selbst wenn das negative Reaktionen hervorruft. Umso mehr müssen wir sie schützen und unterstützen. Das ist ein kein leichter Job. Aber wenn wir unseren Kindern vertrauen, wächst ihre Zuversicht und ihr Glaube an sich selbst.

Stichwort: Waffen bzw. Kämpfen. Offenbar steckt diese Lust am Kampf und Kriegspielen in ganz vielen Jungs drin. Wie verhält man sich als Elternteil oder Erzieher*in nun richtig?
Wir Großen sollten uns zu allererst einmal hinterfragen: Warum wollen wir das Kämpfen eigentlich verbieten? Die meisten Erwachsenen denken, wenn Kinder Waffen bauen oder nutzen, spielen sie Krieg. Krieg assoziieren wir mit: Gewalt, Tod, Mord, Leid u.s.w. Fakt ist aber, Kinder (Geflüchtete Kinder mal ausgenommen) wissen überhaupt nicht, was Krieg ist. Wir sehen in Waffen Kriegsinstrumente – für Kinder sind es Mittel zur Selbstwirksamkeit. Sie fühlen sich mit der Waffe in der Hand für einen Moment lang stark und mächtig. Und daher ist es viel sinnvoller zu erfragen, warum sie dieses Gefühl der Macht wollen und brauchen. Pädagogik ist also, wenn wir versuchen, die Kinder zu verstehen. Es ist nicht pädagogisch, Waffen per se zu verbieten. Waffen aber einfach zu dulden, ohne ein Gesprächsangebot auf Augenhöhe zu schaffen, ist genauso unpädagogisch.

Warum ist es so, dass in der Mehrzahl Jungs von PC-Spielen, Playstation, Nintendo & Co. angezogen werden – und oftmals auch süchtig danach werden? Und wie können Eltern darauf reagieren?
Die Themen Online-Nutzung und Gaming stellen tatsächlich viele Eltern vor Herausforderungen. Natürlich haben alle Kids, die “gamen” ihren ganz eigenen Grund, warum es ihnen Spaß macht. Bei vielen geht es da um Statusverbesserung, Selbstdarstellung, den kompetitiven Wettkampf und das Erreichen bestimmter Ziele. Viele populäre Spiele wie Fortnite, Brawl Stars und Co. bieten dafür genau das passende Spielerlebnis an. Und auch wenn die Mädchen bei dem Thema stark aufholen, ist diese virtuelle Spiel-Welt eher eine, die den Zielen und Interessen von Jungs entspricht. Das wäre ja auch alles okay – schwierig wird es nur dann, wenn das “Gaming” überhand nimmt. Viele Onlinespiele sind heute so konzipiert, dass sie die Spieler immer wieder und möglichst lange binden wollen. Als Eltern ist es nun unsere Aufgabe, die Kinder aufzuklären, zu unterstützen und zu begleiten. Dabei ist es sinnvoll, Spielzeiten zu verhandeln,  „Gamingverträge“ mit den Kindern zu machen und auch mal selbst mit zu spielen, um sich in das Thema mit einzubringen. Nur Ansagen von außen zu machen, wird einen nicht weit bringen. Wenn die Spielfrequenz des Kindes jedoch außer Kontrolle gerät und suchthafte Züge annimmt, sollten Eltern unbedingt Hilfe holen.

Und wenn ich mit bestimmten Spielen meine Probleme habe, weil sie mir zu gewalttätig sind? Wie soll ich mich als Elternteil da verhalten?
Wichtig ist, sich erst einmal selbst zu reflektieren: Warum habe ich ein Problem mit dem Spiel? Warum spielt mein Kind es gerne? Natürlich sollten wir bei jedem Spiel die Altersempfehlung beachten. Ist das Spiel geeignet für das Kind, ist ein Verbot in meinen Augen nicht nötig. Der Austausch mit dem Kind ist da viel wichtiger. Auf der anderen Seite sollten wir aber kein Spiel  erlauben, nur weil angeblich alle aus der Klasse des Kindes es auch spielen. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass Kinder zwischen Online und Wirklichkeit in der Regel klar unterscheiden können. Nur weil sie ein Spiel mit Gewaltdarstellung spielen, ist es nicht so, dass sie echte Waffen und den realen Krieg glorifizieren. Da können wir Eltern uns wirklich etwas lockerer machen.

ADHS wird deutlich häufiger bei Jungs diagnostiziert als bei Mädchen. Hast du dafür eine Erklärung?
Tatsächlich gibt es mehr ADHS-Diagnosen bei Jungen. Aber ich erlebe und höre immer wieder, dass Lehrer*innen vor allem zu Jungs-Eltern – und weniger zu Mädchen-Eltern – sagen: „Testen Sie Ihr Kind mal auf ADHS.“ ADHS-Kinder sind für uns hibbelige, immer-aktive Kinder mit hohem Aggressionspotential. Und das sind alles Eigenschaften, dir wir eher Jungen zuschreiben. Daher werden auch eher Jungen auf ADHS getestet – auch weil die Gesellschaft eher davon ausgeht, dass Jungs von ADHS betroffen sind. Es mag auch eine biologische Komponente bei ADHS geben – aber noch bevor die Diagnose gestellt ist, glauben wir häufig zu wissen, dass dieser Junge ADHS hat. Und wieder einmal wird hier unser Schubladendenken deutlich. Diese vorschnelle Stigmatisierung widerstrebt mir total. Denn es zeigt auch, wie wenig pädagogisch in vielen Schulen gearbeitet wird. Und dass es immer noch primär um Wissensvermittlung, als um wirkliche Pädagogik geht, die mit Verständnis und Empathie daherkommt.

Du glaubst also, die Pädagogik kommt an Schulen zu kurz?
Absolut. Der Fokus im Lehrstudium liegt nach wie vor auf der Wissensvermittlung und nicht auf der Pädagogik. Die wird so nebenbei abgehandelt. Dabei sollte das Lehrstudium zu mindestens zwei Dritteln auf der Vermittlung von pädagogischem Wissen basieren. Denn wir wissen doch alle: Bei Lehrer*innen, die wir mögen, von denen wir uns wertgeschätzt fühlen, die uns verstehen – bei denen lernen wir umso lieber und sind deutlich motivierter. Aber viele Lehrer*innen wissen gar nicht, wie man gute Beziehungen zu Schüler*innen aufbaut. Die können den Satz des Pythagoras aus dem Effeff erklären, aber wissen nicht, wie man die Aufmerksamkeit von Kindern gewinnt. Sie haben im Refendariat gar nicht beigebracht bekommen, wie man gute Beziehungen zu Schüler*innen aufbaut. Das müssen sie sich alles selbst aus den Fingern saugen, was ich sehr unfair finde. Da sollten Lehrer*innen viel mehr Unterstützung erfahren.

Wir kommen nicht drumherum: Wir müssen noch über Corona und dessen Auswirkungen auf die Kinder und speziell die Jungs sprechen…
Man hat in den letzten beiden Jahren ganz deutlich gesehen, welchen Stellenwert Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft haben. Und der Grund ist: Unwissenheit! Schon vor Corona war deutlich zu spüren, dass die Politik viel zu wenig Ahnung von Pädagogik und Erziehungsarbeit hat. Wäre das nicht der Fall, hätten sie längst die Ärmel hoch gekrempelt und hätten sich das Schul- und Kitasystem mal genauer angeschaut und es sinnvoll reformiert. Aber die meisten Politiker haben schlichtweg keine Ahnung, wie es in solchen Einrichtungen zugeht, wo Verbesserungen nötig wären. Das müssen wir dringend ändern. Die Politik muss endlich auf die Stimmen aus der Praxis hören.
Corona hat auf diese Problematik nochmal das Brennglas gelegt. Zwei Jahre nach Beginn der Pandemie gibt es weder ein Konzept für Schulen noch für Kitas. Wir haben nur die Parole: Setzt mal die Masken auf. Und mit Hinblick auf die Jungs, die mehrheitlich sehr viel Bewegungsdrang haben, aber eine zeitlang nicht ihrem Vereinssport nachgehen konnten, ohne das Alternativen geboten wurden – da kann man sich ja vorstellen, was bei ihnen zuhause los war: Frust, Lustlosigkeit, Aggression, psychische Probleme, Übergewicht… Von den gestiegenen Zahlen an Fällen von häuslicher Gewalt will ich hier gar nicht anfangen.
Fakt ist, wir brauchen in der Politik endlich Menschen, die sich mit Pädagogik auskennen und entsprechend handeln.

Abschließende Frage: Welche Tipps gibst du Eltern von Jungs an die Hand, damit ihre Söhne zu tollen, klugen, zuvorkommenden und empathischen Männern heranwachsen?
Ganz wichtig: Uns Großen muss klar sein, dass sich Kinder viel von uns abschauen. Es ist also nicht nur wichtig, wie ich mit meinem Kind umgehe – sondern auch, wie gehe ich mit mir selbst um und wie verhalte ich mich meiner Umwelt gegenüber. Wir Großen geben unseren Kindern die Blaupause für ihr Leben vor. Das muss uns immer bewusst sein.
Und auch wichtig: Eltern sollten sich nicht verrückt machen, weil sie alles perfekt machen wollen. Das geht sowieso schief, weil das niemand schafft. Alle, ob Groß oder Klein, lernen jeden Tag dazu. Und wir alle machen Fehler. Das können Kinder auch ruhig so wahrnehmen. Entscheidend ist, wie man mit diesen Fehlern umgeht, wie man daraus lernt.
Wenn Eltern bedürfnisorientiert handeln, also das tun, was ihrem Sohn und auch sich selbst gut tut, und ihrem Kind Liebe und Wertschätzung zeigen, dann ist schon mal sehr viel gewonnen.

Lieber Dirk, habt ganz vielen Dank für deine Zeit und die vielen Infos und Anregungen!

Seid ihr auch Jungs-Eltern? Wie sind eure Erfahrungen? Oder seid ihr ehrlich froh, das ihr eine Tochter bzw. mehrere Töchter und keinen Sohn habt? Und wenn ja, warum? Teilt gern mit uns eure Gedanken!

Und noch ein Tipp: Gemeinsam mit dem Erzieher Jens Eichert bespricht Dirk Fiebelkorn im Podcast “Praktisch pädagogisch”  regelmäßig verschiedene Themen aus der Welt der Kindererziehung.

Titel-Foto: Dirk Fiebelkorn