Über Selbstbestimmung als Allheilmittel

Seit geraumer Zeit stolpere ich immer wieder über das Wörtchen "selbstbestimmt" – und zwar in mal mehr oder weniger sinnvolleren Zusammenhängen. Zum Beispiel in Magazinen: Wir sollten selbstbestimmter leben (ok). Oder: Wir gebären zu Hause "selbstbestimmt" (aha). Aber auch: Wir kochen den Brei "selbstbestimmt" selbst (?). Letzteres habe ich doch tatsächlich erst kürzlich in einem Pressetext gelesen.

Um das einmal vorweg zu nehmen: Prinzipiell habe ich an dem Konzept Selbstbestimmung überhaupt nichts auszusetzen. Ja, ich bin sogar sicher, dass selbstbestimmt zu sein, sehr wichtig ist.

Aber fangen wir chronologisch an: Das erste Mal fiel mir das Wort in meinem Studium auf: Es ging um migrantische Care-Arbeiter, Geflüchtete oder sonst wie marginalisierte Gruppen, die dafür kämpfen müssen ein selbstbestimmtes Leben zu führen, im Sinne von Autonomie, Agency und Empowerment. Ein wichtiges Thema also!

In letzter Zeit allerdings, habe ich den Eindruck, wandelt sich der Begriff. Er taucht immer mehr in anderen Kontexten auf und nimmt Bedeutungen an (bzw. gibt sie ab). Er wird zum Beispiel inflationär im Zusammenhang mit Begriffen wie Hygge oder Achtsamkeit benutzt. Natürlich, es könnte vielen wahrscheinlich nicht schaden, ein wenig mehr auf ihre Bedürfnisse und Wünsche zu achten. Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Was mich eher stört ist: Wenn das Konzept von “Selbstbestimmung” zu “Selbstbezogenheit” wird und als Allheilmittel für die eigene Unzufriedenheit eingesetzt wird oder als eben solches proklamiert wird.

Selbst Brigitte.de fragt: “Wie selbstbestimmt leben Sie eigentlich?” Und ich denke: Huch, sollte ich etwa noch mehr an meiner Selbstbestimmung arbeiten? Mehr für mich machen?

Was mich zum Thema Selbstbestimmung aber vor kurzem wirklich schockiert hat, war ein Facebook-Post. Darauf: Eine Gebärende. Im Text darunter erklärte sie, wie sie “selbstbestimmt” und zu Hause ohne eine Hebamme oder Arzt ihr gesundes Kind auf die Welt gebracht hat. Tausende (!) klickten auf like und auch die allermeisten Kommentare waren positiv.

Ich hingegen bekam eher Angst.

Sicherlich ist das ein extremes Beispiel. Aber ich habe mich doch gefragt, inwieweit wir hier nicht mehr von Selbstbestimmung sprechen müssen und stattdessen von purer Egozentrik? Etwa so: Damit ich mich besser fühle, selbstbestimmt, stark, “der Natur verbunden”, selbstverwirklicht, setze ich mein Kind (und mich) großen Risiken aus. “Früher sei das ja auch so gewesen, alles natürlicher”, wird in solchen Fällen gerne argumentiert.

Und ich denke: Klar, aber “früher” wurde eben auch gestorben.

Versteht mich nicht falsch, auch ich sehe die vielen Intervention und die vielerorts schlechte Geburtsbetreuung oder, dass der Hebammenberuf bedroht ist, als sehr kritisch. Auch ich hätte lieber eine schöne Geburt gehabt, anstatt mich wie ein Schwein auf der Schlachtbank zu fühlen. Aber wenn die Illusion von “Selbstbestimmtheit” dazu führt, dass ich, höchst riskant, mein Kind alleine zu Hause bekomme, und dies auch noch mit Tausenden auf Facebook teile, ist das vor allem eines, meine ich: unverantwortlich.

Ich denke auch, dass das Rückbesinnen auf “früher”, einem imaginären Ort, an dem wir mal alle gemütlich am Lagerfeuer saßen, ganz mit der Natur verbunden und “selbstbestimmt” lebten, sogar an sich ähnlich gefährlich sein kann: Denn es gab diesen Ort nie. Dieser archaische Zustand hat einfach nichts mit dem romantischen Lagerfeuer-Bild zu tun, in das sich da draußen gerade eine ganze Reihe Menschen, wegen vermeintlicher Angstthemen wie Globalisierung oder Digitalisierung, flüchten. Eine solche Vorstellung ist meiner Einsicht nach eher ein guter Nährböden für “identitäre” oder etwa AFD-Denkarten.

Selbstbestimmung als Lifestyle-Produkt

Lagerfeuer hin oder her: Es beschleicht mit das Gefühl, dass “Selbstbestimmtheit” immer mehr zu einem Lifestyle-Begriff (mit Hang zum Naturalismus) wird und damit eng in den kapitalistischen Verwertungsprozess eingebunden ist. Ich würde mich insofern auch nicht wundern, wenn ich im Supermarkt bald „selbstbestimmte“, vegane „Werweißwas“ aus dem Kühlregal fischen würde.

Der freie Wille ist nicht so frei

Aber mal abgesehen von Selbstbestimmung als Lifestyle-Marketing-Strategie: Ist die Voraussetzung für ein komplett selbststimmtes Leben nicht eigentlich der freie Wille? Und sollten wir uns nicht eher fragen, inwieweit unser Wille tatsächlich so frei ist, wie wir uns das gern vorstellen? Wie Katharina einmal schrieb, “können wir nicht aus unserer Haut”, Traumata werden genetisch übertragen, wir alle sind auf eine bestimmte Art sozialisiert worden, von unseren Trieben mal ganz zu schweigen. Klar: Selbstbestimmt sein im Sinne von mündig sein, ist da wieder ein anderes Thema. Ich finde auch, dass wir uns informieren und nachfragen sollten, um uns nicht selbst in irgendeiner Filterbubble einzuschließen oder eingeschlossen zu werden. Und natürlich sollten wir uns auch für unsere Wünsche und Bedürfnisse einsetzen. Gerade wir Mütter vergessen das manchmal.

Die Grenzen zwischen SELBST-bestimmung und Egozentrik aber sind fließend, glaube ich. Sollten wir wirklich noch mehr um uns SELBST kreisen? Noch individualistischer werden, als wir heutzutage ohnehin schon sind? Ich finde auch schwierig, wenn der angebliche Schlüssel zum Glück allein in den eigenen Händen liegt. Als gäbe es da draußen keine Umstände, die uns verhinderten, den Schlüssel im Schloss auch umzudrehen. Frei nach dem Motto: Ich muss nur selbstbestimmer Leben, dann wird alles gut. So einfach ist es nicht.

Und wenn wir Mütter mal wieder mit unserem Leben unzufrieden sind, ja dann können wir ja immer noch ganz “selbstbestimmt” den Brei unserer Babys zubereiten. Dann wird alles gut. Bestimmt.

Vielleicht mache ich mir aber auch nur Sorgen, dass sich hier wieder einmal eine Industrie einen Begriff aneignet und ihn damit entleert. Weil wir uns so in der Illusion einrichten können, selbstbestimmt zu leben, ohne wirklich etwas ändern zu müssen.

 

Photo: Joanna Nix