„Kein Fernsehen für mein Kind! Und schon gar nicht, bevor es zwei Jahre alt ist.“ Solche oder ähnliche Aussagen haben sicherlich schon manche von euch gehört. Viele Eltern machen sich Gedanken um den Mediennutzung bei Kindern - aber wie schädlich ist Screentime wirklich? Können wir alle Arten von Bildschirmen in einen Topf werfen? Und was sagt eigentlich die Wissenschaft dazu?
Screentime, Baby – Was uns die Wissenschaft über Bildschirmkonsum bei Kleinkindern sagen kann
Die beiden Kognitionswissenschaftlerinnen Sho Tsuji und Nawal Abboub haben sich auf wissenschaftlicher Ebene mit diesem kontroversen Thema auseinandergesetzt. Sho und Nawal haben spannende neue Studien und Umfragen ausgewertet um uns konkrete Antworten auf die wichtigsten Fragen zu liefern. Und so viel kann schon mal verraten werden: Ganz verbannt werden müssen Bildschirmmedien nicht!
Warum sind die ersten Lebensjahre so entscheidend fürs Lernen?
Bevor wir näher auf diese Fragen eingehen, schauen wir uns zunächst an, was lerntechnisch in einem Babygehirn während der ersten Lebensjahre passiert. Sprache ist eine unserer zentralsten Eigenschaften und spielt eine wichtige Rolle in unserem täglichen Leben – sowohl um mit anderen zu interagieren und zu kommunizieren, als auch um zu denken, zu verstehen und zu argumentieren. Wir werden uns hier daher vor allem auf die Sprachentwicklung konzentrieren. Diese beginnt in den ersten Lebensmonaten, ja sogar schon vorher, denn Babys beginnen bereits vor der Geburt Eigenschaften ihrer Muttersprache zu lernen, zum Beispiel die Sprachmelodie. Und je höher die frühkindliche Sprachkompetenz, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, später in Schule, Ausbildung, Uni, ja sogar im Berufsleben erfolgreich zu sein. Angesichts dieser zentralen Rolle des frühen Lernens auf das spätere Leben ist es also völlig verständlich, dass Eltern besorgt sind und alles vermeiden wollen, was einen negativen Effekt haben könnte – zum Beispiel Bildschirme.
Wie schaffen wir ein gutes Umfeld zur Sprachentwicklung unserer Kinder?
Sowohl die Quantität als auch Qualität der Sprachzufuhr sind wichtig fürs Lernen. Je reichhaltiger und vielfältiger das Sprachumfeld ist, desto schneller und besser lernen Kinder ihre Muttersprache. Darüber hinaus ist die Qualität sozialer Interaktionen entscheidend. Viele Studien zeigen, dass das Fehlen sozialer Interaktion im Umfeld eines Kindes – wie gemeinsames Spielen oder Singen – negative Effekte auf das Lernen der Muttersprache und auch die Entwicklung des Gehirns haben kann. Aufmerksamkeit erwecken, Neugier und Exploration fördern, Feedback geben, Dinge wiederholen, emotionale Sicherheit vermitteln – all das sind entscheidende Elemente für die Förderung der frühkindlichen Sprachentwicklung und fürs Lernen im Allgemeinen.
Kehren wir damit nun Frage nach Nutzen und Schaden von Bildschirmen für Kleinkinder zurück: Der Ursprung für die weit verbreitete Annahme, dass jegliche Bildschirmzeit für Kinder unter zwei Jahren schädlich ist, sind Empfehlungen, die 1999 von der American Academy of Pediatrics publiziert wurden. Da es damals noch keine Tablets oder Smartphones gab, basieren sie hauptsächlich auf Beobachtungen von Kleinkindern, die passiven Bildschirmmedien wie Fernsehen und Video ausgesetzt waren. Und in der Tat: Je mehr ein Kind alleine fernsieht, desto weniger kann es an natürlichen, entwicklungsfördernden Interaktionen teilhaben. In den ersten Lebensmonaten und -jahren, die kritisch für die Hirn– und kognitive Entwicklung sind, ist solch passiver Konsum von Bildschirmmedien daher tatsächlich nicht empfehlenswert.
Die Medienlandschaft hat sich jedoch in den zwei Jahrzehnten seit diesen Empfehlungen drastisch geändert, vor allem durch die Einführung interaktiver Bildschirmmedien. Allein zwischen 2011 und 2014 ist der Anteil an US-amerikanischen Kindern unter zwei Jahren, die Zugang zu interaktiven Medien wie Smartphones haben, von 10 auf 38% angestiegen. Lassen sich die vorherigen Erkenntnisse unmittelbar auf die neuen Medien übertragen? Oder könnten interaktive Bildschirmmedien ein aktiveres und daher besseres Lernumfeld schaffen?
Haben Bildschirmmedien ihren schlechten Ruf wirklich verdient?
Wir wissen noch nicht sehr viel darüber, was genau interaktive Bildschirmmedien für Kleinkinder bedeuten. Aber die wenigen Studien, die existieren, legen nahe, dass sie nicht ganz so schädlich sind, wie mitunter kommuniziert. Aufgrund dieser Sachlage wurden offizielle Empfehlungen vor Kurzem aktualisiert. Eine Gruppe von Forschern hat sogar einen offenen Brief veröffentlicht, indem sie ihren Bedenken darüber ausdrücken, wie negativ interaktive Bildschirmzeit trotz unzureichender dahingehender Forschungsergebnisse dargestellt wird.
Doch was können wir bis jetzt überhaupt über das Lernen mit interaktiven Bildschirmen sagen? Ob sie allgemein gut oder schlecht sind, ist wahrscheinlich nicht die richtige Frage. Stattdessen sollten wir fragen, wie das, was auf und um den Bildschirm herum passiert, Lernergebnisse beeinflussen kann.
Was passiert auf dem Bildschirm?
Moderne Bildschirmmedien wie Tablets, Smartphones und Formate wie Videochat heben sich stark von traditionelleren Medien ab. Das größte Unterscheidungsmerkmal ist, dass diese modernen Medien interaktiv sind: Ein Fernsehprogramm läuft weiter, was auch immer ein Kind tut, aber eine Applikation auf einem Tablet reagiert, wenn ein Kind den Bildschirm berührt, und Videochat macht Interaktion in Echtzeit möglich.
Neue Studien zu Videochat zeigen, dass Kleinkinder neue Wörter ähnlich gut von jemandem lernen, der mit ihnen via Videochat interagiert als mit jemandem im gleichen Raum. Während Forscher lange dachten, dass das Lernen von Bildschirmen an sich ein Problem für Kinder darstellt, zeigen diese Studien also, dass es nicht das Format an sich ist, dass das Lernen behindert. Es ist auch interessant zu sehen, dass Eltern intuitiv getreu diesen Forschungsergebnissen handeln, indem sie Videochats als weniger problematisch als andere Bildschirmmedien betrachten. Eine Umfrage zeigt, dass die Mehrheit der Eltern von 6-24 Monaten alten Kindern häufig Videochats für ihre Kinder initiieren, obwohl sie andere Arten von Bildschirmzeit beschränkten.
Doch was passiert, wenn keine echte Person als Interaktionspartner involviert ist? Selbst wenn statt einer echten Person ein Virtual Agent auf einem Computerbildschirm zu sehen ist, folgen Kleinkinder seiner Blickrichtung, und lernen sogar neue Wörter von ihm. Das funktioniert allerdings nur, wenn dieser Virtual Agent interaktiv ist, indem er zum Beispiel lächelt oder sich bewegt, sobald das Kind in seine Richtung schaut. Auch was Touchscreens betrifft ist Interaktion entscheidend: Kinder lernen neue Wörter besser, wenn sie den Bildschirm berühren müssen, damit ein Wortlernspiel weitergeht, als wenn das Spiel automatisch weiterläuft. Zudem ist die Art der Interaktivität relevant: Die Wörter wurden nur gelernt, wenn Kinder ein spezifisches Objekt auf dem Bildschirm berühren mussten, nicht aber, wenn es egal war, welcher Bereich des Bildschirms berührt wurde.
Diese Studien zeigen, dass interaktive Bildschirmmedien Potential zur Unterstützung der frühen Sprachentwicklung haben. Allerdings zeigen die meisten dieser Studien auch, dass vor allem Kinder über zwei Jahren davon profitieren – was die Frage nach dem Effekt bei jüngeren Kindern offen lässt. Zudem funktionieren interaktive Spiele nicht unter allen Umständen: Manche Eigenschaften von interaktiven Apps können ablenken und das Lernen verhindern, sowie relevante Interaktionen mit Eltern verhindern, während gemeinsam mit Inhalten auf dem Bildschirm gespielt wird. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, kann eine solch gemeinsame Interaktion allerdings entscheidend dazu beitragen, dass Kinder tatsächlich von Bildschirmen lernen können.
Denn was passiert eigentlich um den Bildschirm herum?
Kinder können besser von interaktiven Bildschirmmedien lernen, wenn sich Bezugspersonen gemeinsam die Inhalte mit ihnen anschauen. Erwachsene können dabei das Lernerlebnis auf mindestens drei Wegen verbessern: Sie können die Aufmerksamkeit ihres Kindes auf relevante Aspekte lenken; sie können Fragen stellen und Zusammenhänge herstellen und somit das aktive Mitdenken unterstützen; und sie können durch soziale Signale wie Augenkontakt und Lächeln Lerngelegenheiten hervorheben. In der Tat zeigen mehrere Studien, dass gemeinsames Ansehen von Inhalten auf dem Bildschirm das Lernen verbessert (Studie 1, Studie 2, Studie 3). Es ist wichtig sich das vor Augen zu führen: Obwohl Eltern Lesen oft als gemeinsame Aktivität verstehen, gilt Bildschirmzeit oft als Einzelaktivität – aber das sollte nicht so sein.
Take-home messages
Interaktive Bildschirmmedien sind mittlerweile ein konsistenter Bestandteil der Umwelt unserer Kinder. Bildschirmmedien haben mehr Potential zur Lernförderung, als andere traditionellere Formate. Aktuell versucht die Forschung genauer zu verstehen, unter welchen Bedingungen das der Fall ist und welche Langzeiteffekte wir erwarten können. Vorerst können wir euch diese take-home messages mitgeben:
• Verbietet Bildschirmzeit nicht, aber beschränkt sie! Qualitäts-Bildschirmzeit an sich ist nicht schädlich, aber Kinder verpassen andere Aktivitäten, wenn sie ständig auf den Bildschirm fixiert sind. Mischt also ruhig neue Technologien in den Alltag ein, doch Sport, Musik sowie andere Aktivitäten, die sich positiv auf die kognitive Entwicklung auswirken, sind natürlich unabdinglich.
• Seht Bildschirmzeit als gemeinsame Zeit! Das Lernen mit interaktiven Bildschirmen wird durch qualitativ hochwertige Interaktionen mit den Eltern ergänzt.
• Achtet auf den Inhalt! Es mag nicht ganz einfach sein zu beurteilen, ob eine App wirklich das Lernen fördert, aber zumindest ablenkende und überflüssige Inhalte können vermieden werden.
Zu den Autorinnen:
Sho Tsuji beschäftigt sich in ihrer Forschung mit der frühkindlichen Sprachentwicklung. Nach dem Psychologiestudium an der HU Berlin und Dissertation am Max-Planck Institut für Psycholinguistik hat ihre Forschung sie nach Japan, Frankreich, und die USA geführt. Sie ist aktuell Postdoc an der Ecole Normale Supérieure in Paris.
Nawal Abboub ist Mitgründering und Chief Science Officer von Risinguparis, wo sie Consulting und Lösungen basierend auf Erkenntnissen der Kognitionswissenschaften entwickelt. Sie hat ihren PhD in kognitiven Neurowissenschaften and der Université Paris Sorbonne Cité erlangt.
Wenn ihr Lust habt mehr von den beiden zu lesen, schaut mal auf ihrem Blog Cogtales vorbei! Den Originalartikel auf Englisch findet ihr dort auch.
Foto: Alexander Dummer