„Mama, wo warst du?“

Liza und Natalie sind Freundinnen und Mütter. Liza ist Autorin, Natalie ist Fotografin und Soziologin. Was die beiden gemeinsam haben? Sie sind auf den Fotos, die von ihrem Familienleben, Urlauben und so weiter entstehen, nicht zu sehen. So wie ihnen geht es sehr vielen Müttern und um darauf aufmerksam zu machen, haben die beiden die „Mama-Wo-Warst-Du-Challenge“ gestartet.

Aus der einwöchigen Challenge ist schlussendlich ein einjähriges Projekt geworden. Zusammen entwickelten die beiden für jeden Monat Text- und Fotoaufgaben und können heute auf viele großartige Beiträge zurückblicken. Sie sind auf Instagram unter dem Hashtag #mamawowarstdu gesammelt, und sorgen für mehr Sichtbarkeit in der Gesellschaft und im Fotoalbum.
Heute schreibt uns Liza ihre Gedanken dazu auf.

Ein Jahr auf 60 Seiten. Du und Papa, viel Sand und noch mehr Meer. Du und Tante Luise beim Kuchenessen mit Sahne und breitem Grinsen. Du und Opa, du und Schwester, du und die Katze. Überall Du. Immer nur mit anderen. Selbst auf den Fotos von dem Tag als deine Geburt sich jährte, gibt es kein Bild von der Person, die dich zur Welt brachte. Von mir.

Weder ich noch mein Kind wird jemals sagen können, welches Kleid ich bei seiner Geburtstagsfeier trug, wie grau meine Haare über das Jahr hinweg wurden oder wie ähnlich wir uns sahen. Die Mutter, die perfekte Fotoalben gestaltet und selbst nicht auftaucht – ein Phänomen, welches sich durch unsere Generation zieht. Die Unsichtbarkeit steht in keinem Verhältnis zu dem, was Mütter leisten, und spiegelt den Stand unserer Gesellschaft wider. Mütter, die immer noch in der Mehrheit die tragende Rolle der Familie sind, die unsichtbare Arbeit leistet, die es nicht zu würdigen gilt, die zu funktionieren hat und schließlich dem Druck ausgesetzt ist, perfekte Erinnerungen zu schaffen und diese festzuhalten. Auf ihrem Smartphone in Form von 16.411 Fotodateien, neben To-Do-, Weihnachtsgeschenk- und Einkaufslisten und unbeantworteten Nachrichten. Und schließlich auch unsichtbar im Familienalbum.

„Mama, waren wir mit Papa alleine im Urlaub?“, fragten die Kinder von Natalie Stanczak als sie sich ihre Urlaubsfotos anschauten. Da wurde ihr bewusst, dass all die Bilder von den Urlauben, den Geburtstagen und dem Wochenbett nicht mehr nachzustellen waren. Es bleiben lose Erinnerungen. An sie und vom Sand unter den Nägeln, Drachensteigen und Wutausbrüchen vor der Eisdiele. Von Nabelpflege, Milchflecken und Bockshornkleetee. Natalie teilte ihre Erkenntnis auf Instagram. Noch nie hat sie so viel Resonanz bekommen wie zu diesem Thema und entwarf die „Mama-Wo-Warst-Du-Challenge“ in der sie regelmäßig dazu aufruft, die eigene Mutterschaft zu reflektieren und sich selbst vor die Kamera zu stellen.

Fotos von sich selbst machen? Was häufig belächelt oder als arrogant betitelt wird, kann helfen, sich selbst und die eigene neue Rolle, die der Sorgeperson, besser zu verstehen. Wir brauchen diese Bilder, um uns selbst kennen zu lernen. Ein Kind verändert so viel an und in uns. Wir fühlen uns fremd im eigenen Körper, schauen kaum in den Spiegel und viel in die Vergangenheit. Weinen dem frühen Leben oder den alten Brüsten hinterher, ärgern uns über kneifende Hosen, zu enge Tagesabläufe und zu wenig Zeit für uns selbst. Ein Foto kann all deine Sorgen und Gedanken Sichtbarkeit geben. Es kann dich sogar trösten oder wie Natalie sagt: „Ich brauche diese Bilder, um zu sehen, was hier eigentlich passiert. Mit mir, mit uns als Paar, mit uns als Familie. Um positive, aber auch schmerzhafte Erinnerungen zu verarbeiten. Diese Gefühle auch in meinen Erinnerungen zuzulassen, hat irgendwie etwas Heilsames für mich“. Auf den Bildern zu sein, ist jedoch immer noch ein großes Privileg. Denn als Mutter musst du erstmal die Zeit und den Raum haben, dich in den Fokus zu stellen, und wie es Mareice Kaiser in ihrem Buch „Das Unwohlsein der modernen Mutter“ formuliert, sich Dinge überhaupt zu erlauben, die keinem kapitalistischem oder kümmernden Zweck folgen.

Es braucht auch gar keine teuren Kameras oder Geräte, sondern manchmal reicht es schon, wenn man mal das Handy aufstellt und einfach mal auf den Selbstauslöser drückt. Vielleicht stellt ihr euch auch einmal im Monat den Wecker, der euch daran erinnert Fotos zu machen, von euch. Wir möchten aber keinen Druck auslösen, denn so wie Mütter und Care-Giver für den ganzen Erinnunerungs-Mental-Load zuständig sind, müssen sie jetzt auch noch an sich denken. Fotos von sich zu machen oder von anderen einzufordern ist für viele eben auch gar nicht so leicht. Hier spielen auch strukturelle Prozesse eine große Rolle. Sich überhaupt als schön und fotogen zu sehen, dass eigene Leben als erinnerungswert zu betrachten, überhaupt Menschen um sich zu haben, die die Sehnsucht nach Bildern verstehen und dann auch tatsächlich Fotos im Alltag machen, das ist nicht selbstverständlich. Die Zeit und den Raum zu haben auch mal im Fokus zu stehen. Es sollte eigentlich kein Privileg sein, ist es aber für viele Care-Giver dennoch. Wir sehen und fühlen das, deshalb haben wir die Challenge auch ein bisschen für uns gemacht. Um wenigstens einmal im Monat, den Raum und die Zeit zu haben, Fotos von uns selbst zu machen.

Die Challenge neigt sich im Dezember dem Ende zu, Liza und Natalie haben jetzt ein Jahr lang jeden ersten Freitag im Monat Bilder und Texte auf Instagram gepostet. Die Challenge ist ein Mix aus Texten und Fotos zum Thema Care-Arbeit und Mutterschaft. Das Dezemberthema heißt „Welche Rollen spielen wir?“. Alle Themen könnt ihr auf Natalies Blog nachlesen und auch gern nachfotografieren. Im neuen Jahr möchte Natalie zusammen mit Fotografinnen und Müttern bzw. Sorgepersonen eine weitere #mamawowarstdu Challenge starten. Sie will zeigen, wie man sich selbst fotografieren kann und praktische Tips geben, wie Mamas und Sorgepersonen mehr aufs Bild kommen. Und dadurch sichtbar werden! Ganz ohne Druck und schlechtes Gewissen.

Bilder: sandsack.fotografie
Text: frau_von_flodder