Let’s talk about: Die Kinder sind müde – oder eher “überreizt”?

Kennt  ihr das "Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen" von Philippa Perry? Es ist ein schönes Buch über die Eltern-Kind-Beziehung, aber eher für werdende Eltern geeignet, finde ich. Nicht nur, weil es sehr viel um die Babyzeit geht, sondern auch, weil man, wenn man sich schon ein bisschen mit bedürfnisorientierter Erziehung auskennt, wenig Neues lernt. Dennoch fand ich es super! Weil man ja nie auslernt und weil ich persönlich ja auch immer gerne lese, wie es anderen Eltern und ihren Kindern so geht und was dahinter stecken könnte.

Über einen Absatz bin ich aber extrem gestolpert. Unter der Überschrift  “Sinnlose Erklärungsversuche” schreibt Philippa Perry auf Seite 223: “Es ist natürlich, dass sie nach einer Erklärung dafür suchen, warum ein Kind weint oder schreit oder sich weigert, etwas zu tun – sonst haben sie das Gefühl, die Lage nicht mehr zu kontrollieren -, aber es bleibt auch wirklich okay, es nicht zu wissen und neugierig zu bleiben. Meist greifen Eltern auf “Es ist müde” als Erklärung zurück, was ein Faktor sein mag – oder auch nicht. Aber ich kann mich daran erinnern, dass ich als Kind noch wütender wurde, wenn ich diese Erklärung hörte, weil sie nicht meine Gefühle spiegelte und ich mich deshalb unverstanden fühlte.

Die “müde” Erklärung mögen Eltern sehr, aber ich denke, wir alle wissen, wer da eigentlich müde ist – und es ist nicht das Kind!” 

Erst musste ich schmunzeln, denn seit der Baby-Zeit ist das tatsächlich meine liebste Erklärung, wenn die Kinder quengeln, schreien, aufmüpfen. Den Vater meiner Kinder macht das zuweilen wahnsinnig, weil er nicht verstehen kann, dass ich immer für alles eine Erklärung suche – aber mir hilft es nun mal! Dann dachte ich auch: aber es stimmt eben meistens. Nicht immer natürlich aber meistens. Meine Babys haben beide immer geschrien, wenn sie übermüdet waren. Sie quengeln, wenn sie erschöpft sind. Heute noch. Aber als Babys war es wirklich extrem. Ich kannte ja dann irgendwann die Zeitfenster und wusste, wann ein Quengeln eindeutig ein Müde-Quengeln war. Dann musste ich schnell sein. Und wenn es mir in einem bestimmten Zeitfenster nicht gelang, sie in den Schlaf zu stillen, schaukeln, schieben – dann gab es Geschrei. Und das war auch das ohrenbetäubendste Geschrei, das sie auf Lager hatten. Das Einzige, was half, war dann eine große Portion Schlaf. Ausgeschlafen und satt waren sie immer super drauf!

Heute denke ich, die beiden waren oft weniger müde, als eigentlich überreizt. Es war alles zu viel. Das Gehirn musste verarbeiten, der kleine Körper brauchte eine Pause. Und wie wir alle wissen geht das am besten schlafend. Noch heute ist das so, dass die Kinder eindeutige Signale geben, wenn sie überreizt sind. Sie sind dann oft “nervenschwach”, weinen und streiten eher. Sie nörgeln, manchmal provozieren sie auch. Insofern ist das für mich immer noch die Erklärung, die ich mir selbst am Häufigsten auf die Frage “Was ist nur mit den Kindern los, warum sind die so drauf?” gebe: Sie sind durch. Müde. Erschöpft. Sie brauchen eine Pause. Oft passiert das nach einem langen Tag, wenn sie viel kooperieren mussten. Wenn sie in Schule oder Kita waren, wenn sie Bahn fahren, im Supermarkt mit dabei sein, leise sein mussten. Einfach, wenn es viele Situationen gab, in denen sie sich selbst nicht freien Lauf lassen konnten. Dann werden sie am Nachmittag manchmal richtig unangenehm.

Am Ende der Kräfte

Eine schöne, sehr sehr ausführliche Erklärung für dieses Phänomen habe ich mal bei Gewünschtestes Wunschkind gelesen. Die Theorie: Das Kind provoziert und hört nicht, weil es am Ende seiner Kräfte ist. Mir hat das alles total eingeleuchtet. Vor allem die Erklärung, was das Gehirn in dieser Situation braucht. Man kennt es ja auch von sich selbst: Die Selbstkontrolle ist nach einem anstrengenden Tag schon so gut wie aufgebraucht, man reagiert leichter gereizt, möchte dann nur noch aufs Handy schauen – dabei würde ein kleiner Spaziergang durch die Natur viel besser tun. Man sucht dann nach einer Ersatzbefriedigung.

Ich habe, genauso wie die Autorin, auch die Erfahrung gemacht, dass Kinder das automatisch ziemlich gut machen. Sie fordern in solchen Situationen oft genau das ein, was sie brauchen. Zumindest die Kleinen! So wird es auch in dem Text geschrieben: “Sie (die Kinder) haben einen Gang runtergeschaltet, indem auf der Wiese Blumen pflückten (Verbindung mit Natur), tobten und rannten (Bewegung), sich miteinander angeregt unterhielten (soziales Miteinander). Sie wollten auf Mauern balancieren (Bewegung) und Steinchen sammeln. Sie haben, kurz gesagt, ihre Seele baumeln lassen und sind damit sehr achtsam mit sich selbst umgegangen – und genau das braucht das Gehirn, um sich wirklich zu erholen.” Die Mutter hat ihren Bedürfnissen in dieser Situation leider zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie gesellschaftliche Rahmenbedingungen erfüllen wollte – nicht die Oma warten lassen, nicht zu spät kommen, nicht im Vorgarten vom Nachbarn spielen. So ist das ja leider oft – und am Ende wird es dann gern mal richtig doof… Denn Kinder machen ihrem Frust Luft – und provozieren, beißen, quengeln. Ihr wisst schon.

Bei meinen hilft auch oft ruhiges, alleine Rollenspiele spielen, um zu verarbeiten. Und malen. Und sie haben diese Bedürfnisse nicht nur nach einem langen Tag, sondern zum Beispiel auch nach einem aufregenden Film. Die Kleine macht das ganz wunderbar. Nach dem Fernsehen nimmt sie sich oft selbst ihre Malsachen und lässt einfach der Kreativität freien Lauf. Oder sie spielt sogar die Szenen aus dem Film nach – verarbeitet eben.

Kinder sind unterschiedlich

Ich weiß, dass es Eltern gibt, die das alles lesen und denken: haben meine Kinder nicht. Weiß nicht, was gemeint ist. Weil das so ist. Es gibt Kinder, die kommen als ausgeglichene Buddhas auf die Welt, die sind entspannt und stressresistent, die machen auch lange Tage ohne Quengeln mit – und wenn sie müde sind, dann legen sie sich einfach hin. Aber ich weiß auch, dass es viele Eltern gibt, die genau wissen, was ich meine, oder?

Wo ich Philippa Perry aber Recht geben muss: wenn man den Kindern dann sagt, dass sie jetzt weinerlich werden, weil sie müde sind, dann bringt das gar nichts. Wenn meine Tochter malend und verarbeitend und eigentlich hundemüde abends am Tisch sitzt und ich sie vorsichtig darauf hinweise, dass es jetzt langsam mal Zeit ist, den Schlafanzug anzuziehen, sie sei ja auch müde… dann wird sie richtig sauer. Ich. Bin. Nicht. Müde!! (Nicht selten ist sie dann Minuten später mit dem Kopf auf dem Tisch in voller Montur eingeschlafen). Auch bei meinem Sohn ist das so. Wenn er abends ans Handy will und ich sage: eigentlich bist du nur müde und solltest eine Pause machen, wird er sauer: Nein! Ich. Bin. Nicht. Müde! Ich will ans Handy!

Was bei uns besser klappt, vom Wording her: Fragen, statt feststellen: Bist du erschöpft? Erledigt? Meine Tochter sagt von sich aus sogar manchmal: “Ich bin durch!”. Kaputt, Angestrengt. Alles zu viel. Bloß immer das Wort “müde” vermeiden, haha! Was bei uns an Strategien klappt, tagsüber, wenn an Schlafen noch nicht zu denken ist (denn meine Kinder machen schon lange keinen Mittagsschlaf mehr…)

– genau die Strategien, die auch beim Wunschkind und im Text oben angesprochen werden: Natur, Ruhe, Bewegung, Malen, Spielen, sozial sein, reden.
– Auch der Hook-Up, den ich hier schon mal erklärt habe, hilft wirklich, um kurzzeitig wieder in Balance zu sein
– Vor einem Restaurant-Besuch schreien wir manchmal alle eine Runde so laut wir können, das hilft oft, um genug Kraft zu haben, eine Weile still zu sitzen.
–  Zuhause eine JA-Atmosphäre schaffen, sodass man sie nicht ständig ermahnen muss

Und manchmal klappt es eben auch nicht

Und natürlich: Den Kindern ihre Bedürfnisse zugestehen, und auch achtsamer mit dem eigenen Körper umgehen und die eigenen – echten – Bedürfnisse wahrnehmen. Auch wir brauchen ja Ruhepausen, um nicht im Stress zu landen. Handy weg, Natur an, auch mal ein Nickerchen. Aber – ich mache das alles jetzt seit über acht Jahren. Und immer noch gibt es Abende, da klappt nichts, da wird geschrien und gequengelt. Dann wurde der gute Zeitpunkt verpasst, es gab zu wenig Ruhe, zu viele Reize. Da finden die Kinder dann auch nicht gut in den Schlaf, den sie so dringend bräuchten. Dann ist das so. Da möchte ich zum Schluss noch Susanne Mierau zitieren.

“Erkennen wir an, dass das Kind einen anstrengenden Tag hatte und nörgelig ist, aber nicht zur Ruhe findet. Probieren wir es am nächsten Tag mit mehr Ruhe am Nachmittag oder schauen wir, was genau das Kind heute so besonders aufgedreht hat. Sprechen wir noch einmal ruhig über den Tag und die Geschehnisse: Was war heute besonders schön – und was weniger? Was wollen wir morgen anders machen? Wichtig ist, selbst ruhig zu bleiben und nicht unter Stress zu geraten, weil das Kind nicht einschläft.”

Was denkt ihr dazu? Sind die Kinder müde, überreizt – oder haben sie etwas ganz anderes?