Ein Lebenszeichen aus der COVID-Krise in Kalifornien

Heute vor genau sieben Monaten machten die Schulen meiner Kinder zu. Seitdem arbeiten mein Mann und ich von zu Hause. Die Sommerferien kamen, fühlten sich extra lang an – und vergingen. Unsere Tochter kam in die 5. Klasse und der Kleine wurde eingeschult. Alles virtuell. Seit sieben Monaten sind wir für die Bildung unserer Kinder verantwortlich. Sieben Monate und längst keine Änderung in Sicht. Willkommen in Kalifornien im Jahr 2020!

Meine Wahlheimat war schon immer ein Land der Extreme. Reich, reicher, am reichsten – diese Devise steht in großem Kontrast zu der allgegenwärtigen Obdachlosigkeit in Kalifornien. Selbst an der Schule meiner Kinder gibt es Familien, die darauf angewiesen sind, dass ihre Töchter und Söhne während der Schulzeit mit Frühstück, Mittagessen und Schuluniform versorgt werden. Fährt man nach Downtown San Diego, kommt man an Zeltstädten vorbei. Und nur zehn Minuten Fahrt von dort, in Little Italy, reihen sich die pompösesten Restaurants unserer Stadt aneinander. In meiner Nachbarschaft, die sich innerhalb der letzten zehn Jahre zu der Gegend schlechthin entwickelt hat – die Dichte von Brauereien, Coffee Shops, Boutiquen und Restaurants ist mittlerweile unermesslich – sammeln Obdachlose alle 14 Tage kurz vor der Müllabfuhr jegliches Blech- und Plastikgut ein, das sie gegen Geld im Recyclingcenter eintauschen. Ehrlich gesagt gewöhnt man sich schnell an diese Kontraste und stumpft auch leider etwas ab.

Haben oder Nichthaben?

“Wann machen denn die Schulen jetzt wieder auf? Die Kinder sind seit März zu Hause. So geht das doch nicht!”, beschwert sich meine Mutter wöchentlich am Telefon. Recht hat sie. Allerdings habe ich keine Antwort auf ihre Frage. Aus Deutschland höre ich oft das Thema “Chancengleichheit”, und zumindest scheint es von hier so, als ob die deutsche Politik verstehe, wie wichtig die Bildungseinrichtungen für Kinder und Familien sind. Hier hat man eigentlich eher das Gefühl, dass es hier auch momentan gar nicht von allzu großem öffentlichen Interesse ist, dass die Kinder wieder in die Schulen gehen. “Vielleicht ändert sich das nach den Wahlen,” hoffen sehr viele. Ich bezweifle das ehrlich gesagt.

Und somit steht man hier alleine da. Als Frau noch viel mehr. Forschungen der Washington University in St. Louis im Juli haben ergeben, dass die Arbeitsstunden berufstätiger Mütter um ein vier- bis fünffaches mehr zurückgegangen sind als jene der berufstätigen Väter. Besonders betroffen seien Mütter von Kindern im Kleinkind- und Vorschulalter. Zusätzlich zeigt die Studie, dass diese Zahlen auch für Familien gelten, bei denen beide Elternpaare von zu Hause aus arbeiten. Wissenschaftler warnen daher vor einer Vertiefung des “gender pay gap”. Und es ist beängstigend, wie weit Frauen zurückgeworfen werden. Die New York Times schreibt sogar, dass dieses Jahr Frauen in Sachen Gleichberechtigung in der Arbeitswelt um mindestens zehn Jahre zurückgeworfen hat.

Durch diese Prozesse löst sich auch die Mittelschicht in meinem Land weiter auf. Die Grenzen zwischen Haben und Nichthaben werden immer gefestigter. Wer berufstätig ist und aufsichtsbedürftige Kinder hat, steht vor folgendem Dilemma: Wer es sich nicht leisten kann, einen Privatlehrer zu engagieren, oder nicht zufällig einen nichtberufstätigen Partner oder die Oma bei sich wohnen hat, der kann einfach nicht zur Arbeit gehen. Selbst das Home-Office ist ein Problem, wenn man kleine Kinder hat, die zwar über Zoom fernunterrichtet werden, jedoch den Computer nicht alleine bedienen können und auch sonst nach höchstens 20 Minuten “abschalten.” Ich habe von Fällen gehört, in denen von 6-Jährigen erwartet wird, dass sie bis zu drei Stunden täglich am Computer sitzen. Wer beaufsichtigt sie und hilft ihnen? Und was passiert nach den drei Stunden?

Homeschooling-Pod

Unser Sohn wurde im September eingeschult. Meinen Job aufzugeben und mich ganz der Kinderbildung zu widmen, kam für uns nicht in Frage. Schon im Sommer stand für uns fest, dass weder mein Mann, ich, noch wir als Team seine Schulbildung im Alleingang stemmen können. Und dieselben Bedenken hatten auch viele andere Familien in unserem Freundeskreis und im ganzen Land. Die zeitintensive Schulbildung mit der eigenen Arbeit unter einen Hut zu bekommen, war der ausschlaggebende Grund. Zudem sollten unsere Kinder aber auch zumindest ein wenig Normalität erleben dürfen. Besonders in der Grundschule geht es ja vorrangig mehr um soziale als um akademische Kompetenzen. Und somit organisierten sich Familien und fanden Gleichgesinnte – die sogenannten “Homeschooling-Pods” waren geboren. Eine sehr privilegierte Bewegung. Dessen bin ich mir absolut bewusst.

Eigentlich passierte für uns alles ganz schnell und reibungslos. Ein befreundetes Ehepaar, dessen Sohn zusammen mit Hugo eingeschult werden sollte, stellte uns drei anderen Familien vor, die ebenfalls Schulanfänger-Kinder an unserer Schule hatten. Manche Pods sind wie Co-Ops organisiert, sodass die Eltern als Lehrer rotieren. Für unsere Gruppe war jedoch klar, dass wir das Unterrichten outsourcen. In einem Eltern-Chat auf Facebook fand ich eine Lehrerin, deren Sohn auch eingeschult wurde. Nach einer Interviewrunde stand fest, dass sie für unsere Kinder genau richtig ist. Und zwei Wochen vor Schulbeginn war unsere Truppe komplett.

Vom Gästehaus zum Klassenzimmer

Die befreundeten Eltern aus der Pod-Gruppe haben ein Gästehaus auf dem Grundstück, das sie zuvor über Airbnb vermieteten. Sie waren so großzügig und stellten es dem Pod zur Verfügung. Mittlerweile sieht es dort wie in einem richtigen Klassenzimmer aus. Die Kinder haben jeweils ein Fach für Stifte, Hefte und Taschen. An der Wand hängen Bilder, Zahlen und ABC-Tafeln. Die Lehrerin verwaltet die Zoom Meetings der Kinder. Denn trotz Homeschooling folgen wir dem Lehr- und Stundenplan der eigentlichen Schule. Auf die Woche verteilt sind diese Meetings jedoch nur ein kleiner Bestandteil der Ausbildung. Die Lehrerin stemmt tatsächlich den größten Teil und arbeitet mit unseren Kindern an ihren Mathe- und Schreibheften.

Jeden Morgen vor Schulbeginn laufen die Kinder mit einem Vater und dessen Hund eine Strecke von einer Meile durch die Nachbarschaft. In der Pause machen sie Sport oder spielen im Garten. Und jeden Tag ist ein Elternhelfer vor Ort, der die Lehrerin unterstützt. Pro Familie soll man drei Tage im Monat helfen. Bei uns übernimmt das mein Mann, aber dazu bald mehr. Freitags ist oft “Field Trip Friday” und es werden gemeinsame Ausflüge geplant. Bisher waren wir beim Apfelpflücken, im Zoo und bei “Oma’s Pumpkin Patch”, einer sehr beliebten Kürbis-Farm hier in San Diego. Müssen beide Elternteile arbeiten, nimmt eine andere Familie das Kind mit.

Die Einfachheit, mit der unser Pod entstand und läuft, ist jedoch nicht selbstverständlich, wie ich vor Kurzem von meiner Nachbarin erfuhr. Im Elternkreis einer anderen Grundschule bei uns in der Nachbarschaft ging es richtig ab. Mädchen-Eltern, die keine Jungs in der Gruppe wollten, andere Eltern, die sich nicht auf einen Pod festlegen wollten, denn es könne ja noch was Besseres kommen, und Konkurrenz bei der Auswahl der Lehrpersonen. Eine Familie brach sogar ihren Urlaub in Nordkalifornien ab und fuhr zehn Stunden lang ganz durch Kalifornien, um am Abend ein Vorstellungsgespräch, welches ein anderer Pod mit einer Lehrerin führte, zu crashen, wohl aus Angst, etwas zu verpassen. Solche Dynamiken blieben uns zum Glück komplett erspart.

Während Hugo also in “seiner Schule” ist, lernt unsere Tochter ohne Pod, jedoch meistens mit einer Freundin. In der 5. Klasse ist es tatsächlich zumutbarer, den Unterricht aufs Virtuelle zu verlegen. Und Emilia ist auch während der gewohnten Schulzeiten mit Meetings und Aufgaben beschäftigt. Zwar sind wir zu Hause und können mit technischen sowie akademischen Fragen helfen, doch wir müssen keine ganzen Lektionen unterrichten, so wie wir das mit Hugo machen müssten. Auf Dauer würde sie natürlich auch von einem physischen Klassenverband und dem direkten Austausch mit Lehrern profitieren, das ist keine Frage. Dennoch lernt sie momentan sehr viel Selbständigkeit und Eigenverantwortung.

So geht es doch nicht weiter, oder?

Wie es weiter geht, weiß eigentlich keiner so genau. Nur eben, dass es so nicht geht. Sportvereine operieren wieder, Schulen bleiben weitestgehend geschlossen. Ich kenne einige Familien, auch im direkten Freundeskreis, die ihre Kinder aus der Schule genommen haben und das Homeschooling jetzt alleine managen. Wenn man die Kinder im Endeffekt doch unterrichten muss, zumindest kann man es dann nach seinen eigenen Wünschen und nicht nach Stundenplan machen, denken viele. Außerdem muss man so keine Schulsteuern zahlen. Andere Freunde sind in republikanische Staaten, wie Texas oder Arizona, gezogen, wo die Schulen tatsächlich mehr operieren als hier. Dieser Virus ist ein absolutes Politikum geworden.

Doch die meisten unserer Freunde sind geblieben. Viele können sich keinen Homeschooling-Pod leisten. Ihre Kinder, je nach Alter und Betreuung, haben es nicht leicht. Und generell kann man davon ausgehen, dass die Mehrheit der nicht-privilegierten Kinder akademisch zurückfallen wird. Ich sehe auf den sozialen Medienkanälen, dass sich viele Eltern beschweren, doch sehr wahrscheinlich sind wir alle so maßlos erschöpft, dass wir nicht wirklich etwas bewegen können.

Für uns sollte dieses Schuljahr unser erstes ohne Schulgeld sein, jetzt, wo beide Kinder in der bilingualen, öffentlichen Schule sind. Wir haben Glück, dass wir für unsere Schule kein Schulgeld zahlen müssen. Wir spenden jeden Monat einen kleinen Betrag, der hilft, Programme wie z.B. Musikunterricht und Gärtnern (unsere Schule hat einen Gemüsegarten) zu fördern. Doch COVID-19 hat uns einen fetten Strich durch diese Rechnung gemacht. Jetzt zahlen wir wieder fast soviel wie für Hugos Kindergarten. Zwei Pods können wir uns auf jeden Fall nicht leisten. Unsere Tochter muss also weiterhin alleine bzw. mit ihrer Freundin lernen. Und auch Hugos Pod kann ja keine Dauerlösung sein. Allerdings läuft der Pod mittlerweile so toll und bereitet allen Familien Freude, dass ich wirklich nicht mehr weiß, wann wir uns trauen werden, ihn aufzulösen. Denn selbst wenn die Schulen in vielen Monaten vielleicht wieder Vollzeit operieren, besteht die Gefahr, dass sie wieder schließen. Und dann würden wir wieder alleine dastehen.

Foto: Joel Muniz