21st Century Mom: Digitale Früherziehung – unser Baby-Handy

Es gibt viele unterschiedliche Ansätze von Erziehung. Man findet fast immer WissenschaftlerInnen, die einen in der Haltung und dem persönlichen Verständnis von Erziehung stützen. Ich wünsche mir für meine Kinder, dass sie sich mit meiner Hilfe in der Welt zurechtfinden. Sie sollen Freude am Entdecken haben und sich dabei gleichzeitig auf mich verlassen können.

Ich möchte sie begleiten, beobachten und beschützen, so gut ich es nur kann. In den ersten Monaten hatte ich noch viel Zeit, mir mit meinem Mann über die Erziehung unserer Kinder Gedanken zu machen. Die Mäuse liegen viel rum, man kann behutsam mit Routinen beginnen und hat das Gefühl, die Kontrolle über die Situation zu haben. Bei unserem Sohn änderte sich das etwa mit acht Monaten, als er anfing, sich selbstständig zu bewegen oder zu essen und seinen kleinen Willen durchsetzen zu wollen. In dieser Zeit begannen mein Mann und ich uns mit unserer Vorstellung von Erziehung neu auseinanderzusetzen. Wahrscheinlich auch, weil wir direktes, spürbares Feedback von unserem Kind bekamen.

Nach unserem Verständnis kann ungefähr in diesem Alter auch eine Form von digitaler Erziehung beginnen.

Der erste bewusste, digitale Kontakt war bei unserem Sohn im Alter von zehn Monaten mit YouTube für ein paar Minuten am Tag. Dieses Ritual begann aus der Not, da er in diesem Alter ein leidenschaftlicher Blaulicht-Beobachter war. Jedes noch so weit entfernte Geräusch einer Sirene wurde mit einem aufgeregten „Tüta“ kommentiert. Ich rannte oft mit ihm hektisch auf der Straße entlang, um noch einen kurzen Blick auf das Blaulicht zu erhaschen. Als ich dann eines Tages durch Zufall auf YouTube über ein Krankenwagen-Video stolperte und die große Begeisterung unseres Sohnes sah, war für mich völlig klar, dass er sich das natürlich ansehen darf.

Ein Video von Rettungskräften ist für mich ein Mittel, um meinen Sohn näher an die Welt heranzuführen, in die er geboren wurde. Ähnlich wie seine Feuerwehr-Bücher, seine Spielzeugautos und die Zeit, die ich mir im Alltag nehme, um mit ihm um einen Krankenwagen herum zu gehen und ganz genau die Lichter, die Räder oder das Lenkrad anzusehen.

Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, diese wenigen Minuten, in denen er sich Videos der Krankenwägen ansieht, seien für ihn schädlich.

Er hat eine Leidenschaft und gesteigertes Interesse für eine Sache und ich empfinde es als meine Aufgabe, ihn dabei vollumfänglich zu unterstützen. Wenn er diese Begeisterung nicht gehabt hätte, wäre YouTube bei uns wahrscheinlich nicht zu diesem Zeitpunkt zum Einsatz gekommen. Nicht, weil ich glaube, dass es prinzipiell schlecht für Kinder sei, sondern weil ich es als Mittel zum Zweck begreife.

YouTube ist aber natürlich kein Selbstzweck, mit dem alle Kinder ab Zeitpunkt X beginnen sollten. Dies ist kein Artikel, der euch vorschreiben soll, ab wann ihr eure Babys mit Klebeband ans Sofa bindet und ihnen die digitale Welt aufzwingt. Ich möchte einfach davon erzählen, dass das Internet bei einem speziellen Interesse unseres Kindes unterstützend hilfreich war.

Anfangs verlor unser Sohn nach sehr kurzer Zeit die Lust, still zu sitzen und entschied sich dazu, mit anderen Dingen zu spielen. Neben all seinen Möglichkeiten forderte er im Vergleich zu den anderen „Tüta“-Optionen auch nicht vermehrt YouTube ein. Es war für ihn ein Reiz unter vielen, den er auswählen konnte. Ich glaube, er verstand, dass er dafür ruhig sitzen und beobachten musste, was ihm oft einfach zu langweilig war. Manchmal merkte ich aber sehr deutlich, dass er sich ein paar Minuten „Tüta“-Video wünschte und dann hatte ich ab dem ersten Tag kein Problem damit, ihn dabei zu begleiten. Die Erziehung fing für uns hier sehr klein, aber spürbar an. Wir schauten mit ihm sehr bewusst jedes Video. Auch, weil ich sicher gehen wollte, dass bei den Einsätzen keine Verletzten gezeigt werden und es um die Autos im Straßenverkehr geht. Außerdem richtete ich in dieser Zeit YouTube Premium ein, einen Service, den ich ohne Kinder niemals in Anspruch genommen hätte. Für mich fühlte es sich aber nicht richtig an, jedes Mal ein paar Sekunden mit meinem Kind vor Werbung zu sitzen, bis der eigentliche Inhalt beginnt. Ich verstehe es als meine Aufgabe, ihn zu führen, mir die Mühe zu machen, den Fernseher oder das Handy exakt nach jedem Video auszuschalten und nicht einfach weiter laufen zu lassen und diese Zeit mit ihm zu zelebrieren. Diese YouTube-Sessions weiteten sich über die Monate auf andere Inhalte aus. Peppa Wutz, Kinderbewegungslieder, Bagger-Videos sowie Masha und der Bär sind bis heute hoch im Kurs. Ich würde sagen, dass seine Aufmerksamkeitsspanne an guten Tagen schon mal bei 10-15 Minuten am Stück liegen kann, außerdem fordert er YouTube inzwischen mehrmals täglich ein.

Manchmal kommen wir so auf 30-40 Minuten YouTube am Tag.

Das beunruhigt mich aber nicht, weil ich beobachte, dass sein Fokus auf bestimmte Beschäftigungen sich in den letzten Monaten allgemein verschärft hat. Anfangs konnte ich kein einziges Bilderbuch mit ihm ansehen ohne, dass er es mir aus den Händen gerissen hat und inzwischen setzt er sich morgens nach dem Aufstehen manchmal absichtlich allein in die Bücherecke und blättert bis zu einer Stunde gemütlich in Büchern rum. Wenn sich sein Fokus also bei allen Aktivitäten intensiviert, dann finde ich es auch nachvollziehbar, dass seine Bildschirmzeit sich im Vergleich zum Anfang verlängert.

Unser Sohn ist jetzt anderthalb Jahre alt und hat von meinem Mann zu Weihnachten ein eigenes Handy bekommen.

Es ist für uns ein Gerät, das wir ihm zu Verfügung stellen wie sein Dreirad, seine Bücher oder ein Kuscheltier. Wie bei diesen Spielzeugen hat er auf das Handy theoretisch immer Zugriff, auch wenn es durch einen PIN-Code gesperrt ist, den wir für ihn eingeben müssen. Inzwischen kann er auf YouTube allein das Video wechseln, wenn er sich langweilt oder etwas Neues entdecken will. Dank des guten Algorithmus und der YouTube-Kids-App entdeckt er so immer wieder neue Inhalte. Ich liebe es, ihn dabei zu beobachten und zu sehen, für was er sich entscheidet. Wir haben zu Hause vor allem die Bilderbücher und Spielzeuge, die wir für ihn ausgesucht haben. Bei den Videos aber kann er freier zwischen kindgerechten Inhalten wählen und entscheidet sich überraschend oft für Videos, die ich niemals für ihn angeklickt hätte. Inzwischen nutzt er das Handy auch, um seine Großeltern per Videoanruf zu erreichen, Fotos zu machen, sich Familienfotos anzusehen oder Telefonate und Gespräche zu imitieren. Ich bin auf der einen Seite sehr überrascht, wie vielfältig er dieses Gerät inzwischen nutzen kann. Auf der anderen Seite sieht er bei uns, wie wir das Handy nutzen und es fühlt sich für mich gut an, dass er langsam und spielerisch einen Umgang damit lernt.

Mein Mann fand heraus, dass die meisten wissenschaftlichen Studien sich auf einen exzessiven Umgang von Kleinkindern mit digitalen Medien beziehen und entsprechende, schlimme Ergebnisse dabei herauskommen. Viel seltener wird ein moderater Umgang mit dem Smartphone untersucht, aber wenn das der Fall ist, werden oft eher positive Effekte gefunden.

Unser Kind nutzt das Handy ähnlich wie andere Spielzeuge, die er besitzt, unregelmäßig und nach Lust und Laune.

Ich würde den digitalen Einstieg bei unserem zweiten Kind wahrscheinlich ähnlich gestalten wie bei unserem ersten Kind. Bis jetzt fällt uns beim gelegentlichen digitalen Konsum unseres älteren Sohnes nichts Negatives auf.

Persönlich habe ich die Erfahrung gemacht, dass künstliche Verknappung zum Gegenteil führt. In meiner Kindheit waren Süßigkeiten immer zugänglich und ich habe nie verstanden, wieso sich manche Kinder am Geburtstag bis zum Erbrechen mit Süßem vollstopften. Auf der anderen Seite wurde mir der Fernseher lange nur eingeschränkt erlaubt, was dazu führte, dass ich in jedem fremden Haushalt, in dem ein Fernseher lief, wie hypnotisiert über Stunden vor dem Ding saß und am Ende immer, immer enttäuscht war, dass es (auch nach Stunden) alles vieeeeel zu kurz war.

Es ist schade, dass zum Thema Kleinkinder und digitale Früherziehung erst seit kurzem detaillierte Studien und vor allem Langzeitstudien unternommen werden. Das bedeutet für viele Eltern, dass man ist gezwungen ist, sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen. Ich bin immer wieder überrascht, wie gut das Bauchgefühl bei vielen Eltern funktioniert, aber in diesem Fall würde ich mir wünschen, mehr wissenschaftliche Erkenntnisse in den Diskussionen zu finden.

Ich verstehe total, dass das Bauchgefühl vieler Eltern sie zu anderen Entscheidungen bringt und glaube auch nicht, dass Eltern einen großen Fehler begehen, wenn sie digitale Früherziehung länger als wir aus dem Leben ihrer Kinder ausklammern. Nach meinem Verständnis bietet es sich aber grundsätzlich an, Kindern in flachem Wasser das Schwimmen beizubringen, bevor man sie ohne Schutz aufs offene Meer mitnimmt. Mit Eintritt in die Schule öffnet sich nach meinem Empfinden das offene Meer. Ich kann nicht drauf vertrauen, dass andere Kinder auch kein Handy haben. Von anderen Eltern hört man oft, dass Kinder in dieser Zeit zum ersten Mal ungeschützt in Berührung mit dem Internet kommen. Studien belegen, dass Kinder im Grundschulalter durchschnittlich die ersten eigenen Erfahrungen mit dem Internet machen. Für mich fühlt es sich beruhigender an, dass meine Kinder zu diesem Zeitpunkt jahrelang digital begleitet wurden und sich hoffentlich einigermaßen sicher durchs Netz bewegen oder zumindest an der ein oder anderen Stelle mit uns zusammen Erfahrungen gemacht haben.

Ich würde mir wünschen, dass dieses Eltern-Shaming bei dem Thema abnimmt, denn es ist leider normal, dass man übel beschimpft wird, wenn man positiv von Kindern und Internet spricht.

Nehmen wir das Zucker-Beispiel als eine Art Vorbild. In meinem Freundeskreis gibt es viele Kinder, die bis zum zweiten Lebensjahr zuckerfrei erzogen werden. Man fragt in bestimmten Situationen wertfrei, ob die Kinder schon Zucker essen dürfen oder nicht und respektiert die Antwort. Es gibt Studien, die besagen, dass es für Kinder hilfreich sein kann, kleinere Mengen Zucker nach dem ersten Lebensjahr zu konsumieren. Es gibt aber auch Studien, die zu einem gegenteiligen Ergebnis kommen. Was mir aber an der Zucker-Diskussion gefällt, ist der gesellschaftlich akzeptierte Handlungsspielraum der Eltern. Es ist eine von vielen Entscheidungen, die Eltern für ihre Kinder treffen und die, egal wie das Ergebnis ausfällt, in einem sehr breit akzeptierten Rahmen liegt. Wenn sich also kinderlose Comedians darüber lustig machen, dass Eltern im Restaurant mit ihrem Kind und dem iPad am Tisch sitzen, der übermüdete Elternteil den Kindern am Sonntag nen Film anmacht, um noch mal ein paar Minuten Schlaf zu bekommen, dann wüsche ich mir Akzeptanz. Bei diesem Thema gibt es nicht nur den einen richtigen Weg. Und auch, wenn alle Generationen vor uns ganz ohne Internet aufwuchsen, stürzen Kinder nicht sofort in den Abgrund, wenn sie in einer immer digitaler werdenden Welt dosierte, kontrollierte Erfahrungen machen.

Und jetzt, abschalten bitte, einfach um den Kindern ein gutes Vorbild zu sein.

 

Foto: Charles de Luvio