Let’s talk about: Manche Kinder brauchen mehr als Empathie  

Wenn es um Verhaltensauffälligkeiten und emotionale Störungen bei Kindern geht, teilen sich die Meinungen. Vor allem beim Stichwort "ADHS" (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung) sagen sehr viele sofort: "Das gibt es doch gar nicht." Auch die Diagnose "Autismus" wird nicht immer ernst genommen.

Das Verhalten von Kindern mit ADHS oder Autismus entspricht definitiv nicht den Erwartungen der Norm. Diese Kinder benötigen viel Unterstützung im Alltag, haben oft Konzentrationsschwächen und/oder ein auffälliges Sozialverhalten, Ängste oder Depressionen. Manche benötigen Medikamente und hier scheiden sich auch wieder die Geister. Anne Dittmann, die sich viel mit Themen wie Diskriminierung auseinandersetzt, findet es problematisch, dass es gerade unter bedürfnisorientierten Eltern oft heißt, man müsse die Kinder einfach anders behandeln, dann wären sie auch nicht auffällig. Dabei sind ADHS und Autismus neuropsychiatrische Entwicklungsstörungen, sie sind eine angeborene Behinderung.

Und ja, diese Diagnose wurde gefühlt in den letzten Jahren vermehrt gestellt. Sicher gibt es auch Fehldiagnosen. Aber das ist ein anderes Thema – und es ändert nichts daran, dass es sehr viele Kinder gibt, die eine neurologische Behinderung haben, denen Therapien und Medikamente helfen und die auch nicht ohne auskommen würden. Für Anne geht es an vielen Stellen eher um Ableismus (also um Behindertenfeindlichkeit) als um Bedürfnisorientierung,

Heute hat Anne für uns einen Gastbeitrag genau zu diesem Thema geschrieben, danke Anne!

Wenn es um die mentale Gesundheit von Kindern geht, schwört die bedürfnisorientierte Eltern-Community auf Empathie. Ein immer wiederkehrender Leitsatz lautet: „Das Verhalten deines Kindes ist Ausdruck seiner Gefühle“. Wenn ein kleines Kind also sein Spielzeug gegen die Wand schmettert, wolle es damit nicht provozieren, sondern entsprechend seiner Fähigkeiten akute Gefühle bewältigen. Vielen Eltern hilft dieses Wissen dabei, nicht zu strafen, sondern stattdessen empathisch und damit kindgerecht zu reagieren – das soll die mentale Gesundheit der Kinder stärken.

Doch die Empathie scheint bei einigen da aufzuhören, wo der Umgang mit einer Behinderung beginnt: Immer wieder kommt es innerhalb der Community zu ableistischen Debatten über Kinder mit ADHS oder Autismus, die nicht nur liebevolle Eltern brauchen, sondern auch Medikamente. Mir scheint, Ritalin und Co. sind nicht das Problem bei einem bedürfnisorientierten Erziehungsstil – sondern Behindertenfeindlichkeit.

Während Impfgegner mittlerweile gesamtgesellschaftlich negativ eingeordnet werden und auch innerhalb der bedürfnisorientierten Eltern-Community eher die Minderheit sind, hält sich die Debatte um Ritalin, Risperidon und Co. für Kinder hartnäckig. Es scheint, als ginge es weniger um die kindliche Gesundheit als um eine Ideologie. Das lassen diejenigen Teile der bedürfnisorientierten Community vermuten, die Autismus und ADHS leugnen oder als reine Symptomatiken bezeichnen – statt als angeborene, neuropsychiatrische Störungen, die längst wissenschaftlich erwiesen sind. Ihre Erklärungen sind Teil von Verschwörungsmythen, welche „Big Pharma“ betreffen: Autismus und ADHS fassten lediglich kindliche Verhaltensauffälligkeiten als Folge einer schlechten Eltern-Kind-Beziehung oder falscher Ernährung. Ritalin, Risperidon und Co. seien reine „Geldmacherei“ der Pharmaindustrie.

Reine Geldmacherei?

So erklärt beispielsweise der in alternativmedizinischen Kreisen bekannte Biophysiker Andreas Kalcker vor drei Jahren in einem YouTube-Interview mit der Freilerner-Ikone Dagmar Neubronner, Autismus entstünde durch Darmstörungen. Und – hier wird es fast ironisch, wenn man an die Vorwürfe gegen die Pharmaindustrie denkt – er verkauft sein eigenes Heilmittel: MMS (Miracle Mineral Supplement), das unter anderem aus Natriumchlorit besteht. Kalcker hat eine große Anhängerschaft – einige setzen sein Gebräu gerade gegen den Corona-Virus ein. Behörden warnen vor der Anwendung – MMS sei giftig und verursache innere Verätzungen, die bis zum Tod führen können.

Auch zu ADHS gibt es alternative Erklärungen. Sabine Mänken, Autorin eines kürzlich veröffentlichten Buchs mit dem Titel „Mütter der Neuen Zeit“, sagt in einem YouTube-Interview mit der „Erziehungsberaterin“ Jenniffer Ehry-Gissel alias berufungmami: „Wir wissen ja alle, dass ADHS eine Symptomatik ist, die plötzlich in aller Munde ist und die man versucht zu therapieren – mit Chemie“. ADHSler*innen seien „Kinder, die uns spiegeln, dass wir in einem Energiezustand sind, der nicht heilsam ist.” Eltern müssten neu sehen lernen, dass die Auffälligkeit des Kindes eine „Seelensprache“ sei, die nach „Hilfe ruft“. Mänken verzichtet darauf, die Symptomatiken von ADHS zu beschreiben und ihr Verhalten von Nicht-ADHSler*innen abzugrenzen. Ihre Aussagen sind damit schwammig, falsch, setzen Eltern unter Druck und führen dazu, dass Kinder, die mehr als empathische Eltern brauchen, keine Hilfe bekommen. Alarmierend ist: „Erziehungsexpert*innen“ wie Mänken geben sich kompetent, ignorieren aber den Forschungsstand von ADHS.

Eigentlich ist es leicht zu verstehen: Autismus und ADHS sind angeborene neuropsychiatrische Entwicklungsstörungen, die Auswirkungen auf das Denken und Fühlen von Kindern haben. Akute Gefühle sind bei diesen Kindern entsprechend häufiger als „normal“ – logisch, unsere Gesellschaft wurde nicht für Menschen mit Behinderung angelegt und ist somit für sie voller Barrieren. Hinzu kommt, dass Kinder mit auf den ersten Blick unsichtbaren Behinderungen wie Autismus oder ADHS von Fremden nicht als solche erkannt, sondern als unerzogen, frech, böse stigmatisiert werden – beispielsweise, weil sie auf dem Spielplatz mit Sand schmeißen, andere Kinder scheinbar „rücksichtslos“ umrennen oder Erwachsenen keinen Platz machen, wenn sie vorbei wollen. Das führt – bei aller Empathie durch die Eltern und mit noch so vielen Verhaltenstherapien – sehr viel häufiger zu Frust, Misserfolg, Abweisung und Streit. Und nicht zuletzt zu einem niedrigen Selbstwertgefühl.

Ableistische Denkmuster

Bei manchen Eltern stellt sich daher irgendwann die Frage: Riskieren wir die mentale Gesundheit unserer Kinder oder probieren wir ein Medikament aus? Klar ist mittlerweile, dass Ritalin, Risperidon und Co. Kinder nicht „ruhig stellen“, dass sie aus ihnen keine Zombies machen. Autismus und ADHS sind auch nicht plötzlich weg. Stattdessen wird der Stressor gemildert – gerade damit die Kinder sie selbst und ohne völlige Überreizung Teil der Gesellschaft sein können. Die Entscheidung für Medikamente fällt trotzdem häufig schwer, weil sie viele Eltern mit ihren eigenen ableistischen Denkmustern konfrontiert und zudem auch von Außen Stigmatisierung droht – gegenüber der ganzen Familie.

„Die machen es sich ja leicht. Einfach den Kindern Medikamente geben, damit sie ihre Ruhe haben“, müssen sich viele Eltern von Kindern mit ADHS oder Autismus immer wieder anhören. Diese Unterstellung hat wenig mit Empathie zu tun. Dafür sehr viel mit Behindertenfeindlichkeit. Den Kindern wird die diagnostizierte Behinderung aberkannt und die Eltern werden als inkompetent und lieblos stigmatisiert. Solche Unterstellungen ignorieren einerseits die vielen Schwierigkeiten und das Leid, das Kinder bis zur medikamentösen Behandlung durchleben und sie ignorieren, was Eltern vor und während der medikamentösen Behandlung leisten: Von den ersten Sorgen, über das Ausprobieren verschiedener Erziehungsstile, die Umstrukturierung des Alltags, das ständige Trösten, die gelesene Fachliteratur, das Vernetzen, die Elterngespräche mit Erzieher*innen oder Lehrer*innen, um die bestmögliche Förderung zu evaluieren, bis hin zu Terminen mit Ärzt*innen und Psycholog*innen. Das soll der leichte Weg sein?

Wissenschaftlich unbelegt ist auch das Argument, Autismus und ADHS seien Mode-Diagnosen. Tatsächlich stellten auch Wissenschaftler*innen in den vergangen zwanzig Jahren fest, dass die Zahl der Kinder mit diagnostiziertem Autismus oder ADHS steigt. Fehl- oder Mode-Diagnosen seien dafür aber nicht ausschlaggebend. Sie führten unter anderem auf, dass es zuletzt bessere Diagnosemöglichkeiten gab und ein größeres Bewusstsein in der Bevölkerung. Jedoch deckten diese Gründe nicht den kompletten Anstieg ab, weshalb weiter nach den Ursachen von Autismus geforscht wird – denn die sind auch noch nicht gänzlich geklärt.

Nicht zuletzt gibt es noch eine immer wiederkehrende „Empfehlung“ von Menschen, die Autismus und ADHS als angeborene Störungen anerkennen – oder die Diagnose zumindest zur Kenntnis nehmen: „Zieht doch auf den Bauernhof oder in den Wald“. Denn da wären weniger gesellschaftliche Barrieren für Kinder und überhaupt mehr frische Luft und heilende Natur.
Hallo? Menschenwürde? Menschen mit Behinderung und ihre pflegenden Angehörigen an bestimmte Sammelorte zu schicken kann in einer demokratischen Gesellschaft keinesfalls die Lösung sein. Das Ziel ist nicht Vertreibung oder Selektion, sondern Inklusion. Medikamente ermöglichen gesellschaftliche Teilhabe und persönliche Erfolge.

Wer also empathisch sein möchte, schließt Medikamente nicht aus.