Wie wollen wir leben? Das Mehrgenerationen-Haus

Wie wollen wir leben? Auf dem Land, in der Stadt, in der Nähe unserer Eltern? Für viele junge Familien ist das eine Frage, die sie sich regelmäßig stellen. Denn das berühmte “Dorf” macht schon wirklich vieles einfacher. Nina und ihre Familie leben in einem Mehrgenerationen-Haus im Ruhrgebiet. Dort ist Nina auch in einer Kleinstadt aufgewachsen. Sie ist 41 Jahre alt und seit drei Jahren freiberufliche Kreativ-Direktorin. Dann gibt es noch drei Kinder (neun, sechs und zwei Jahre alt), den Mann, Willi, den Hund, die Oma, ihre Schwester, deren Mann und ein Baby. Klingt wild? Ja. Aber eben auch wunderschön…

Liebe Nina! Ihr habt 2012 das Haus gekauft, wer war denn damals an Bord und wie hat sich das entwickelt?

Mein Mann und ich haben uns Anfang 2012 eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus angeschaut – die Wohnung stand zum Verkauf. Im Laufe des Gespräches mit der Verkäuferin stellte sich heraus, dass das gesamte Haus mit allen Wohnungen zum Verkauf stand.
Wir haben uns alles angeschaut und dann total spontan auf dem Rückweg aus dem Auto meine Eltern gefragt, ob sie nicht Lust hätten, mit uns ein großes Haus zu kaufen und meine Eltern haben einfach „ja“ gesagt. Schnell kam dann auch noch meine Schwester mit dazu.
Es wurde dann nicht genau dieses Haus, aber das zweite, das wir uns angeschaut haben und in dem wir bis heute alle leben. Vor neun Jahren ist mein Schwager hinzugekommen, zwei Hunde haben hier gelebt und inzwischen haben wir vier Kinder im Haus. Das älteste neun Jahre alt, das jüngste ein halbes Jahr. Mein Vater ist leider vor Kurzem verstorben, das hat die Situation noch mal verändert, aber auch verfestigt.

Alle haben ihre eigenen Wohnungen. Wir haben 116 Quadratmeter auf  zwei Etagen, meine Mutter hat 90 m2, meine Schwester, mein Schwager und das Baby leben auf 70 m2. Jede Wohnung hat Vorzüge, es gibt eine Terrasse, einen Garten…

Insgesamt sind es vier Kinder im Haus, oder? Ist das so Bullerbü, wie ich es mir vorstelle?

Ja, das ist schon ein bisschen Bullerbü. Die Kinder sind überall zu Hause und wenn ein Schlüssel von außen in der Wohnungstür steckt, dürfen sie nach dem Klopfen auch überall rein. Diese Regel gilt übrigens nicht nur für die Kinder, sondern auch für uns Erwachsene.
Vor der Schule holen die Großen sich immer einen Kakao bei Oma ab und der Onkel zieht z. B. am Nachmittag mit seinem Neffen einen neuen Reifen aufs Fahrrad. Ich passe zwischendurch auf meine kleine Nichte auf, damit meine Schwester mal in Ruhe duschen gehen kann. In unregelmäßigen Abständen und Gott sei dank auch ohne Zwang oder Erwartungshaltung, essen wir alle zusammen, meist bei meiner Mama, da sie die größte Küche hat. Dann tobt dort das volle Leben und am Ende machen wir immer den Fernseher an, damit die Erwachsenen noch in Ruhe die Reste essen können.

Ihr wohnt recht ländlich, habt ihr weite Wege?

Ja, wir wohnen recht ländlich. Wir können allerdings diverse Ärzte, eine Apotheke, einen Wochenmarkt, einen gut sortierten Kiosk, zwei Restaurants und eine Pommesbude fußläufig erreichen. Das ist schon mal gut. Auch einen Supermarkt soll es bald wieder in unserer Straße geben. Die Herdecker Innenstadt ist mit dem Auto knappe 10 Minuten entfernt und die Dortmunder Innenstadt in ca. 20 Minuten zu erreichen. Zudem sind wir super schnell auf allen relevanten Autobahnen, um tiefer in den Ruhrpott oder in das nahe gelegene Sauerland zu kommen. Unser Großer, der bisher das einzige Schulkind ist, geht in der Nachbarstadt zur Schule. Wir laufen morgens gemeinsam zur Bushaltestelle und dann fährt er ca. 30 Minuten bis zu seiner Schule mit dem öffentlichen Bus.
Am Nachmittag holen wir ihn nach der OGS mit dem Auto wieder ab. Ab diesem Sommer wird seine Schwester auch Schulkind sein, dann fahren die beiden mit ihren Freunden zusammen mit dem Bus hin und dann vielleicht auch schon mal zurück.

Inwieweit ist deine Mutter involviert?

Sie ist schon sehr aktiv an der Kindererziehung beteiligt. Auch mein Vater war das bis zu seinem Tod.  Zwei mal in der Woche bringt sie morgens die Kindergartenkinder in den Kindergarten und wenn mein Mann und ich abends mal was gemeinsam vor haben, übernimmt sie auch die Kids.
Aber noch wichtiger ist, dass die Kinder immer einen weiteren Ansprechpartner haben und dass man nicht immer alle Kinder einpacken muss, um z.B. ein Kind irgendwo einzusammeln. Für uns sind es diese kleinen Dinge, dass eben immer jemand da ist, der mal eben ein Auge oder Ohr auf den Kindern hat.

Allerdings, und das habe ich im Freundeskreis auch so gehört, ich kenne einige, die so leben, wie wir: Die Großeltern haben dann kein Interesse mehr, am Wochenende groß etwas mit den Kids zu unternehmen, ins Schwimmbad oder Phantasialand zu fahren. Sie sehen die Kinder ja im Alltag sehr viel. Und wenn die Kinder bei der Oma schlafen (sollen), dann kommen sie halt auch manchmal doch wieder hoch, weil sie lieber ins eigene Bett wollen. Das ist dann der Nachteil der Nähe, das verschwimmt. Und natürlich haben wir alle den Verlust meines Vaters und die Trauer meiner Mutter extrem nah miterlebt. Das ist natürlich viel härter, wenn man so eng ist. Es ist auch schön und gut, meine Mutter in der Trauer zu begleiten, sie ist nicht alleine. Aber für uns und gerade auch für die Kinder, die sehr eng mit Opa waren, ist es auch hart. Überall sind Spuren.

Was, wenn jemand Freiräume braucht?

Dann nimmt er sie sich. Wir nutzen wohnraumtechnisch nur einen Hausflur gemeinsam. Alle anderen Bereiche sind voneinander getrennt. Wir haben zudem noch einen Gemeinschafstgarten, den mein Mann und ich mit unseren drei Kindern allerdings am meisten nutzen und den wir auch pflegen und hegen. Hier steht unser kleines Sommerhäuschen, das wir so umgebaut haben, dass wir dort schlafen können. Aber auch hier feiern mein Schwager und meine Schwester mit ihren Freunden Poolparties oder grillen, wenn es ihnen in ihrem Garten zu eng wird. Darüber sprechen und tolerant sein ist die Lösung.

Hand aufs Herz: wie oft geht ihr euch auf die Nerven?

Klar gehen die mir auf den Nerv! Meine Kinder, mein Mann, ganz normal. Aber wir haben genug Orte, um sich zurückzuziehen, jeder hat seinen abgeschlossenen Wohnbereich und jeder darf auch „nein“ sagen. Keiner ist verpflichtet, sich an irgendwas zu beteiligen. Und wenn mal gestritten wird, das kriegen die anderen dann mit, aber das ist allen egal. Meine Eltern haben auch gestritten, auch laut. Dann ist das halt so, ich glaube, wir haben alle in der Familie eine recht gesunde Streitkultur.

Unser Lebensmodell ist geprägt davon, dass man authentisch ist. Und wir haben alle viel Freiheitsliebe in uns. Manchmal sehen wir uns ja auch tagelang nicht, dann ist es wie ein normales Mehrfamilienhaus. Jeder von uns hat seine Hobbies, einen Freundeskreis, meine Schwester reist viel, jeder macht sein Ding. Und ja, wir essen alle zusammen aber manchmal bin ich da dann zum Beispiel auch nicht dabei, weil ich keine Lust habe. Der Schlüssel ist, die anderen so zu lassen, wie sie sind. Und keine Ansprüche zu haben.

Früher war es so, dass morgens alle ausgeflogen sind, tagsüber stand das Haus fast leer. Mein Papa ist früh in Rente gegangen und war entsprechend oft alleine hier. Über die Corona-Zeit hat sich das geändert, mittlerweile sind mein Mann und ich freiberuflich tätig, ich arbeite viel zuhause, meine Mama ist auch in Rente, meine Schwester in Elternzeit. Das ist total schön so. Aber ich glaube, wir haben auch als Familie keine Themen. Da gibt es keine unausgesprochenen Gefühle oder Baustellen oder so, wir hatten immer ein enges, gutes, offenes Verhältnis mit meinen Eltern, die uns sehr liberal erzogen haben. Ich bin früh ausgezogen, mit 18, weil ich weg wollte. Meine Schwester hat noch bis sie 23 war, zuhause gelebt. Als wir alle getrennt waren, war sie dann aber am wenigsten bei meinen Eltern. Und mein Mann versteht sich auch schon immer gut mit allen, er war mit die treibende Kraft bei unserem Mehrgenerationen-Projekt.

Wie ist es logistisch? Habt ihr alle eine eigene Waschmaschine zum Beispiel?

Wir haben VIER Waschmaschinen! Vier Kinder – vier Waschmaschinen, einen Trockner. Das steht alles in einer gemeinschaftlichen Waschküche, es gibt auch einen Trockenkeller. Jeder wäscht aber für sich, nur nach dem dritten Kind hat meine Mama für ein paar Monate mit Wäsche und Haushalt geholfen. Ansonsten haben wir eine Werkstatt, da erfüllen wir komplett das Geschlechter-Klischee. Mein Papa war Handwerker, mein Mann ist es auch. In der Werkstatt haben wir alle Werkzeuge, Leitern, Bohrer – und das ist eine ziemliche Männerdomäne.

Konntest du dir so ein Lebensmodell schon immer vorstellen?

Nein! Ich konnte es als junge Frau kaum erwarten, allein zu wohnen. Bis zu dem besagten Anruf nach der Hausbesichtigung war dieses Wohnmodell nie ein Thema – es ist einfach gewachsen.

Wie lange wollt ihr das noch so machen?

Wir haben keinen Plan. Es kann aber sein, dass mittelfristig ein Haus, das direkt an unseres angrenzt, frei wird und wir hätten Vorkaufsrecht. Das wäre für uns als fünfköpfige Familie schon perfekt, denn unsere Wohnung wird irgendwann knapp. Das wäre eine denkbare Veränderung. Wenn es klappt, dann klappt es, wenn nicht, dann ist es so. Aber auch dann würden wir weiterhin Tür an Tür wohnen.  Meine Mama will auf jeden Fall in der Wohnung bleiben, aber wer weiß! Vielleicht lernt die noch mal jemanden kennen. Und wenn wir in das andere Haus ziehen, vielleicht zieht dann jemand anderes dazu, da haben wir sogar Freunde, die das machen würden. Das sind Menschen, die in das Konstrukt passen. Die würden dann aber mieten. Das Haus soll in Familienhand bleiben.

Gerade in der Corona-Zeit war unser Lebensmodell ein Traum. Aber auch für die Elternzeiten, in denen man sich ja oft einsam fühlt, ist es einfach wunderbar. Diese nicht enden wollenden Tage mit Baby,  da ist es so schön, nicht alleine und zusammen mit Erwachsenen zu sein. Auch wenn Kinder krank sind, ist immer ein Backup da. Und man kann die Kinder auch mal alleine lassen, wenn man zum Beispiel einkaufen geht und die unmotiviert sind. Oma weiß bescheid. Diese kleinen Freiheiten, die sind total viel wert!

Ich denke, das kann die schrecklichste Wohnform sein – oder die schönste. Es gibt nix dazwischen. Ich würde nicht wieder anders leben wollen.

Danke für die Einblicke, Nina!