Mid Mom Crisis: Wenn der Abnabelungsprozess der Kinder beginnt…

Wenn das eigene Kind einen plötzlich uncool findet, kann das für Eltern gar nicht so einfach sein. Die Autorin Flavia Friedrich beleuchtet in ihrem Buch „Mid Mom Crisis” die Ursachen und Folgen des Abnabelungsprozesses der eigenen Kinder und stellt fest, dass er durchaus in eine handfeste Krise führen kann. Vor allem Mütter, die häufig (leider!) noch immer die Hauptrolle in der Kinderbetreuung spielen, trifft es mit der „Mid Mom Crisis“ manchmal hart. Doch es gibt Auswege aus der Misere, und Humor hat bekanntlich ebenfalls noch nie geschadet.

Flavia fordert in ihrem Buch mehr Gleichberechtigung zwischen den Elternteilen und zeigt vielfältige Strategien für die Krisenbekämpfung auf. Wie es bei ihr mit der Mid Mom Krise anfing, lest ihr im exklusiven Ausschnitt des ersten Kaptiels ihres Buches:

Ein Herz aus Butter

In letzter Zeit befällt mich manchmal so ein Gefühl. Ich kann es gar nicht genau benennen, aber die Empfindung ist da, sie klopft an, oft noch zaghaft, aber dennoch hartnäckig. Es verändert sich etwas in meinem Leben, und zwar während meine Söhne erwachsen werden: Meine Rollen als Mama und auch als Frau werden auf die Probe gestellt, ihre Inhalte verschieben sich, ohne dass ich Einfluss darauf zu haben scheine.

Steht ein Umbruch bevor, auf den ich mich vorbereiten sollte? Noch kann ich es nicht greifen, dieses diffuse Gefühl, aber verschiedene Erlebnisse – gespickt mit seltenen, aber doch wiederkehrenden tiny-heartbreak-Momenten seitens meiner Söhne – deuten jedenfalls darauf hin, dass die Dinge sich wandeln, wenn auch bisher nur schleichend.

Am Nachmittag zum Beispiel steht ein Besprechungstermin beim Kieferorthopäden mit meinem zehnjährigen Sohn Joshi auf dem Programm. Weil wir uns ein bisschen bewegen müssen beschließen wir, mit dem Rad dorthin zu fahren. Na gut, er beschließt, dass es das Rad sein soll, ich füge mich. Und das, obwohl ich draußen den Schneeregen sehe. Joshi macht das nichts aus. Die Kinder, also Joshi und sein zwölfjähriger Bruder Tim, düsen bei jeder Witterung mit dem Rad durch die Gegend. Ich dagegen bin ein ausgemachter Schönwetterradler. Fahrrad und Regen – geschweige denn Schnee -, das verträgt sich für mich einfach nicht. Aber versprochen ist versprochen, ich schwinge mich auf den Drahtesel und los geht’s.

Boah, ist das kalt! Meine Hände mutieren nach drei Metern schon zu Eisklumpen. Keine Ahnung, wie mein Sohn das aushält, im Gegensatz zu ihm trage ich nämlich Handschuhe. Die Jungs halten solches Equipment – selbst im tiefsten Winter – für vollkommen überflüssig.

Ich beiße die Zähne zusammen und schließe zu Joshi auf, der bereits vorne an der Straßenecke angekommen ist. Joshi sieht sich nach mir um – und beschleunigt?! Hallo?! Was soll das denn, bitte?

Ich trete fester in die Pedale, doch keine Chance. Wie von der Tarantel gestochen, jagt mein Sohn davon, bis ich ihn nur noch als kleines Pünktchen am Horizont ausmachen kann.
Schneller geht’s echt nicht, gleich klappe ich auf meinem Rad zusammen, so sehr rauscht meine Pumpe. Die Lunge brennt vor Kälte, und mein Atem kommt mit dem Wölkchenproduzieren nicht hinterher.
Tja, bist eben nicht mehr 20, meldet sich mein Unterbewusstsein, das ich gar nicht nach seiner Meinung gefragt habe.
Ich pfeife aus dem letzten Loch, als ich endlich vor der Arztpraxis auf meinen Sohn treffe.

„Sag mal, kannst du nicht auf mich warten?“, meckere ich.
„Ich geh schon mal vor“, erklärt Joshi, als hätte er meine Beanstandung nicht gehört. Dabei werde ich den Eindruck nicht los, dass er nicht mit mir gesehen werden will.
„Ach, und…“ Er zögert. „Könntest du dich drinnen bitte woanders hinsetzen, Mom? Also nicht neben mich, mehr so gegenüber von mir?“
„Darf ich mit dir sprechen?“, gebe ich genervt zurück. Dass auch Kind Nummer zwei meine Hand in der Öffentlichkeit nicht mehr halten möchte, habe ich inzwischen akzeptiert. Aber diese Ich-kenn-die-nicht-Nummer scheint mir doch sehr übertrieben.
„Lieber nicht“, erklärt Joshi jetzt auch noch und verschwindet im Treppenhaus des Kieferorthopäden.

Drinnen keine Spur von meinem Sohn. Ich melde uns an und begebe mich ins Wartezimmer. Joshi hat sich neben einen fremden Herrn gesetzt und daddelt auf seinem Handy herum.
Ich setze mich wie befohlen ihm gegenüber auf einen freien Platz. Dann zücke ich mein Telefon und tippe: „Hey, sei gegrüßt, Fremder!“
Es piept auf Sohnemanns Gerät. Joshi verdreht die Augen und schreibt zurück: „Sorry, aber muss uns ja nicht jeder zusammen sehen.“
„Weil niemand wissen soll, dass du eine Mama hast?“, frage ich.
Darauf fällt ihm offensichtlich nichts ein.
„Mit einer Mama bist du nämlich echt ein Exot, weißt du?“, nerve ich ihn weiter. „Hat sonst keiner, so eine. Du bist der einzig bemutterte Mensch auf der Welt. Und wenn sie dich mit mir erwischen, dann stecken sie dich in den Zoo, als seltenes Ansichtsexemplar. Wenn du Glück hast, füttern sie dich vielleicht nicht nur mit Bananen, sondern auch mit Schokolade, wer weiß?“
Joshi seufzt und tippt: „Haha!“ mit tausend grimmig guckenden Smileys hinterher.
Bevor ich zum nächsten Schlag ansetzen kann, werden wir in den Behandlungsraum gerufen. Joshi stapft vor mir her und lässt sich wortlos auf dem Praxisstuhl nieder. Kurz überlege ich, ob ich ihm vielleicht doch die feste Spange verpassen lassen soll, um die wir uns im letzten Jahr so erfolgreich durch den Einsatz einer losen Spange gedrückt haben. Denn mein Jüngster soll ruhig wissen, dass es da noch eine Mama gibt, die dazugehört. Und im Zweifel entscheidet. Aber das wäre ziemlich gemein. Und auch nicht in meinem Sinne. Feste Spangen sind nämlich wirklich eine Strafe, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Also das übliche Programm, eine neue lose Klammer für ihn und fertig. Für uns. „Wir haben uns gegen die Feste entschieden“, konstatiere ich.

Wenn es nach meinen Söhnen geht, handelt es sich bei diesem Wir jedoch bereits um eine aussterbende Art.
Sie wollen nicht mit mir in einen Topf geschmissen werden, sondern lieber als Individuen auftreten. So, als seien sie ohne mein Zutun so groß und frech und wunderbar geworden, wie sie heute sind. Aber da haben sie nicht mit mir gerechnet. So leicht gebe ich mich nicht geschlagen. Ich bin schließlich noch vorhanden, gleich hier stehe ich, auf beiden Füßen und – ich bin sehr wehrhaft…

„Seit wann ist das so mit uns?“, frage ich daher Joshi, als wir wieder draußen stehen, während er sein Fahrrad aufsperrt und deswegen gerade nicht entwischen kann.
Er richtet sich auf. „Das Schloss klemmt.“
„Und jetzt?“ Ratlos hebe ich die Hände.
„Kannst du bitte mal danach gucken?“
Klingt für mich eher wie ein Befehl als nach einer Bitte.
„Für dich immer noch: Sie!“, erkläre ich und stemme die Fäuste in die Hüften. „Oder sind wir uns schon mal begegnet? Habe ich dir vielleicht irgendwann das Du angeboten? Hm? Nicht, dass ich wüsste.“
„Hä?“ Verwirrt blickt mein Sohn mich an.
„Wir kennen uns nicht, schon vergessen?“ Ich entriegele mein Rad und täusche an, einfach wegzufahren.
„Bitte, Mom!“ Joshi stellt sich mir in den Weg. Er lächelt sogar ein bisschen. Schelmisch.
Verdammt, mein blödes Mama-Herz. Es schmilzt. Ergeben steige ich vom Rad. „Na gut.“
Erleichtert hält Joshi mein Fahrrad, während ich mich seinem Schloss widme. „Aber nur, wenn du auf der Rückfahrt nicht gleich wieder vergisst, mit wem du es zu tun hast.“
Damit ist er einverstanden, und so gondeln wir gemeinsam zurück, durch Schnee und Eis, Mama mit den abgefrorenen Händen und der nun zumindest für diesen Augenblick nicht mehr von allen guten Fahrradschlössern verlassene Sohn…

„Mid Mom Crisis“ von Flavia Friedrich ist am 13.12.22 im mvg Verlag erschienen.