„Mama, wie lässt man los?“- Über eine Phase, die eigentlich keine ist.

Das kleine Kind ist vier und das große wird bald acht. Wir haben ruhige Nächte, immer entspanntere Tage und viele Dinge sind in letzter Zeit letzte Male. Ich nehme keine Windeln mehr mit zu Ausflügen, keine Wechselklamotten. Sowieso brauche ich nur noch eine kleine Tasche und muss an (fast) nichts denken. Wir entscheiden zusammen, wie wir unsere Tage gestalten und solche Pläne sind auch kaum noch mit Wutanfällen verbunden. Die anstrengendsten Phasen sind definitiv vorbei.
Und trotzdem hat gerade die schwerste Aufgabe der Elternschaft für mich begonnen. Eine Phase, vor der ich schon in meiner ersten Schwangerschaft Angst hatte, weil es eigentlich gar keine Phase ist. Es ist einfach das Leben, das sich verändert und wächst und unaufhaltsam fortschreitet. Und ich muss etwas leisten, was mir unglaublich schwer fällt: Loslassen.

Eigentlich beginnt das Loslassen schon in dem Moment, in dem ein Kind auf die Welt kommt. Erste Schritte, das erste Mal ohne Kinder wegfahren, die Krippe, die ersten Freund:innenbesuche oder Kindergeburtstage ohne Eltern, der Kindergarten, die erste Übernachtung bei Oma und Opa und und und.

Aber das Loslassen, das gerade passiert, ist ein ganz neues Level.

Dieses große Mädchen, mit dem ich plötzlich so erwachsene Gespräche führe. Das lieber ganze Tage mit ihren Freundinnen verbringt, als mit uns. Übernachtungsparties, erste Ausflüge alleine, Geheimnisse und Freundschaftsbücher.

Das alles ist so schön und ich bin stolz und sentimental, voller Vertrauen und voller Angst. Ich bewundere mein großes Kind und freue mich mit ihr und wünsche mir manchmal gleichzeitig, dass die Zeit kurz langsamer vergeht – oder ganz stehen bleibt.

Wie hält man das aus? Wächst das Vertrauen parallel zur Angst? Und damit meine ich nicht das Vertrauen in meine Kinder, sondern das in die Welt. Wird es leichter, wenn sie älter sind? Wie kann ich glauben, dass alles gut wird? Hört es jemals auf?

Das alles habe ich meine Mutter gefragt. Denn ich weiß, dass es ihr auch oft schwer fiel, mich loszulassen. Und wir hatten einige Momente, in denen sie das musste.

Mama, was ist deine erste Erinnerung zum Thema Loslassen als Mutter?

Ich bin ein sehr visueller Mensch und ich habe bis heute ein Bild bzw. eine Szene vor Augen, die ich jederzeit abrufen kann. Wie in einem Film. Meine Mutter hat dich damals abgeholt, weil ich ein Vorstellungsgespräch hatte. Und sie fahren weg, meine Mutter sitzt auf der Rückbank und du sitzt neben ihr und schaust aus dem Fenster. Und das ist mir so schwer gefallen, ich habe mich gefühlt, als ob ein Stück von mir fehlen würde.

Wie alt war ich damals?

Drei oder vier Jahre, glaube ich.
Und meine Mutter hat mir danach erzählt, wie es war und wie es dir an dem Wochenende ging. Das hat mich beruhigt. Aber während des ganzen Wochenendes habe ich mich nicht gut gefühlt. Und dieses Bild, als ihr weggefahren seid, hat sich bei mir eingebrannt.
Das nächste größere Ereignis war deine Abschlussfahrt im Kindergarten. Da seid ihr eine Woche weggefahren. Ich fand das damals zu früh, aber du wolltest unbedingt mitfahren. Und davon erinnere ich ein ähnliches Bild. Ihr seid mit einem großen Bus weggefahren und du hast aus dem Fenster geschaut und man hat nur deine Augen gesehen. Das fiel mir auch schwer und hat mich geschmerzt. Aber gleichzeitig waren das Schritte der Abnabelung.

Wie bist du damit umgegangen? Was hat dir in diesen Momenten geholfen?

Ich habe mich abgelenkt und versucht, nicht so viel darüber nachzudenken. Alltag und Routinen – das hat mir geholfen. Und es wird ja auch immer leichter, dadurch, dass sich solche Ereignisse wiederholen. Im Laufe der Zeit hast du dich ja auch verändert. Du bist größer geworden und Trennungen fielen dir und auch mir leichter.
Dann ging die Schule los und das ist ja auch ein Moment, in dem man die Kinder noch ein Stück mehr loslässt. Sie gehen alleine in die Schule und werden noch selbstständiger. In dieser Zeit bist du auch mit einer Freundin immer in den Wald, in ein Naturschutzgebiet, und ihr habt da Hütten gebaut. Da wart ihr stundenlang. Am Anfang bin ich euch da manchmal ein Stück heimlich hinterher gelaufen.

Ich habe das überhaupt nicht so in Erinnerung. Weder, dass du ängstlich warst, noch dass dir das schwer fiel.

Ich habe meine Ängste und Sorgen dir gegenüber so auch nicht ausgedrückt. Das war mir auch wichtig, dass sich das nicht auf dich überträgt.
Du warst sehr mutig und man musste dich manchmal eher bremsen und den Mut wollte ich dir nicht nehmen, sondern dich darin unterstützen.
Und ich fand, es war damals schwieriger, Kinder so behütet zu begleiten. Man hat Kinder eher vor vollendete Tatsachen gestellt und sie ins kalte Wasser geworfen. Kinder waren damals oft mehr sich selber überlassen. So habe ich das wahrgenommen. Heute ist das anders, zum Glück.

Du hast gesagt, dass es einfacher wird mit der Zeit. Gleichzeitig habe ich jetzt als Mutter das Gefühl, dass die Ängste und Sorgen sich ja auch verändern, wenn die Kinder größer werden. Wie hast du das erlebt?

Darüber habe ich lange nachgedacht. Als du größer wurdest, hat es sich verändert. Ich habe das so erlebt, dass es zwischendurch immer Zeiträume gibt, in denen man aufatmen kann.

Zeiträume, in denen die Kinder wachsen und man die Selbstständigkeit sehen und spüren kann und man sie dann wieder ein Stück mehr loslassen kann.

Das beruhigt. Trotzdem gibt es dann auch Sorgen, es sind nur andere.
Als du weggezogen bist, fiel mir das unglaublich schwer und trotzdem haben wir dich dabei unterstützt. (Eine kurze Info am Rande: Ich bin mit 17 Jahren zusammen mit meiner besten Freundin aus- und in eine andere Stadt gezogen.)
Das lag auch daran, dass wir in Kontakt bleiben wollten. Wir haben die Gefahren gesehen, wenn wir euch das nicht erlauben und euch dann ganz verlieren. Ich habe mich selbst in dir wiedererkannt. Und deshalb haben wir euch unterstützt – trotz aller Ängste und Sorgen. Dieser Schritt war wichtig für dich. Und ich muss immer an den Satz denken: „Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel.“ Das heißt aber nicht, dass man Kinder komplett loslässt. Denn mit den Flügeln und der Freiheit kommen ja auch Gefahren. Die begleitet man dann auch, aber anders. Eher aus der Ferne.
Ich empfinde mich da aber nicht als gutes Beispiel.

Warum? Ihr habt es geschafft, dass wir immer in Verbindung geblieben sind. Dass ich mich immer an euch gewandt habe, wenn ich Hilfe brauchte und dass ihr immer Teil meines Lebens wart und seid.

Ja. Das war auch deswegen, weil ich dir diese Freiheit gelassen habe, so früh auszuziehen. Aber gleichzeitig hat das ja etwas für mich als Mutter bedeutet. Ihr habt zwar Pläne geschrieben und alles vorbildlich gemacht. Trotzdem bin ich damals auch ein Risiko eingegangen. Aber so haben wir den Kontakt behalten.

War das damals für dich eine schwere Zeit?

Ja, ja. Mich hat das schon belastet.

Und was hat dir geholfen? Bzw. wodurch wurde es besser?

Durch deine Entwicklung. Ich habe gesehen, wie du bist und wie sich alles entwickelt. Das hat mein Vertrauen gestärkt. Du hast uns immer an deinem Leben teilhaben lassen. Auch wenn Kinder nicht alles erzählen, da macht man sich als Eltern keine Illusionen. Aber wir haben uns immer gesehen und ich hatte dann einfach ein großes Kind. Geholfen hat mir wirklich, wie du warst und wie unsere Beziehung war. Das hat es leichter gemacht.

Als ich dann nach Berlin gezogen bin, war ich ja schon erwachsen. Fiel dir das trotzdem noch schwerer? Weil es weiter weg war..

Es ist beides. Natürlich hatte ich auch Sorgen, was in einer so großen Stadt und so weit weg passieren kann, aber gleichzeitig ist dann noch etwas anderes passiert. Zu den Ängsten kommt dann auch Stolz dazu. Und das ist unheimlich schön. Dieser Stolz auf das Kind gibt einem ganz viel und schafft auf der Waage einen Ausgleich. Der Stolz auf dich und wie du das alles gemacht und geschafft hast – das hat mir in der Zeit in Berlin viel gegeben. Das fand ich ganz ganz toll. Trotzdem ist man nie frei von Ängsten, wenn man Kinder hat. Es verändert sich. Es sind nicht mehr die Sorgen, die man um ganz kleine Kinder hat. Man sorgt sich dann um einen geliebten Menschen, der einem näher ist als alle anderen Menschen. Das gehört einfach zum Leben dazu.

War das Loslassen so rückblickend gesehen eine große Herausforderung für dich?

Herausforderung ist das falsche Wort. Ich hätte mir manchmal gewünscht, dass ich einige Situationen entspannter begleitet hätte. Kinder streben von ihren Eltern weg und das ist auch wichtig. Wenn man es geschafft hat, ihnen Wurzeln zu geben, dann fällt es einem auch viel leichter, sie loszulassen, wenn sie Flügel haben. Man hält dann zwar trotzdem manchmal die Luft an, aber das gehört dazu.

Danke, Mama.

 

Für mich. Aber vor allem für euch.

Diese Aufgabe, die für mich so groß ist und von der meine Kinder gar nichts ahnen, bringt aber auch so viele schöne Dinge mit sich. Die Zeit, die wir miteinander verbringen, hat jetzt oft eine ganze andere Qualität. Die Themen, über die wir sprechen, verändern sich. Ich liebe es so sehr und bin so dankbar, dass meine große Tochter mir viel aus ihrer Welt erzählt. Von ihren Freundinnen, aus der Schule, von den Orten und Momenten, bei denen ich nicht dabei bin.
Diese Kinder sind toll und es macht viel Freude, sie beim Wachsen zu begleiten. Und ich bin sehr dankbar, das tun zu dürfen.
Gleichzeitig kann ich jetzt auch viele Dinge, die das kleine Kind (zum Glück) noch immer macht, viel mehr genießen. Die Nächte im Familienbett, die körperliche Nähe, die sie ständig sucht (noch) und das Tragen.

Mir macht Vieles momentan Angst und es gibt Tage, an denen ich wenig Vertrauen in die Zukunft habe, in diese Welt. Aber ich vertraue mir und uns. Und ich weiß, dass alles auf einem guten Fundament steht – aus Sicherheit und Liebe. Also nehme ich es so, wie es kommt.
Ich lasse los. Stück für Stück. Ich lerne das. Für mich. Aber vor allem für euch.

Wie geht es euch mit dem Thema? Könnt ihr gut loslassen?

Titelbild: Dominika Roseclay