Kleine Geburten – Anja und ihre beiden Sternchen
2011 hatte ich im September plötzlich einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand. Plötzlich, denn geplant war eine Schwangerschaft nicht. Für mich stand erst der 17. Geburtstag vor der Tür, aber ich war so gut wie ausgezogen, führte seit knapp zweieinhalb Jahren eine glückliche Beziehung und hatte den erweiterten Realschulabschluss in der Tasche. Mein Freund war unbefristet beschäftigt und ein paar Jahre älter als ich. Insgesamt hätte es bessere, aber auch deutlich schlechtere Zeiten für eine Schwangerschaft geben können. Und das wohl Wichtigste: nach anfänglicher Überraschung haben wir uns sehr auf unser Baby gefreut. Planungen für ein neues Auto, das Kinderzimmer und eine kleine Namensauswahl gab es schnell. Und es gab sicher keinen Abend, an dem wir nicht mit unseren Händen auf meinem noch nicht vorhandenen Bauch einschliefen.
In der 6. Woche war im sehr alten Ultraschall meiner Ärztin kein Herzschlag sichtbar, aber ein Embryo war da. Keiner hatte zu dem Zeitpunkt ernsthaft Sorge, aber es wurde noch mal Blut abgenommen um Progesteron und Beta HCG zu bestimmen. Dann ging meine Ärztin in den Urlaub.
An einem Sonntag in der 8. Schwangerschaftswoche hatte ich plötzlich Schmierblut auf dem Toilettenpapier. Braun und wenig – durchaus nicht unüblich für diese Zeit und als es schnell weg war, machte ich mir keine weiteren Sorgen. Am Montag Morgen erwachte ich mit regelstarker Blutung und bekam Angst. Auf dem Weg zum Arzt redete ich unerlässlich mit unserem Baby.
Im Ultraschall war da immer noch eine Fruchtblase mit Embryo, und immer noch kein Herzschlag. Die Ärztin schickte uns heim. Bett. Ruhe. Warten. Ruhig bleiben. Wenn es schlimmer wird, ins Krankenhaus. Ich war verbissen. Meine Hand wie auf meinem Bauch festgeklebt. Ich war überzeugt wenn ich, wenn wir es nur genug wollen, dann würde das Baby bei uns bleiben. Durch das Liegen wurde die Blutung besser, ich schöpfte Hoffnung. Mein Freund war die ganze Zeit an meiner Seite. Nach dem Mittagessen dann plötzlich starke Krämpfe und deutlich mehr Blut.
Ab dem Punkt wird meine Erinnerung weniger genau. Ich begann zu weinen und mein Freund entschied, mit mir in die Klinik zu fahren. Im Krankenhaus konnte und wollte ich mich kurz zusammenreißen. Im Schall war nur mehr eine kleine leere Fruchthülle zu sehen. Die Hoffnung war vorbei.
Man riet mir zur Curettage oder „Ausschabung“ mit der Begründung, dass ich sonst lange Schmerzen haben und bluten würde. Und außerdem bestehe immer das Risiko, dass Reste zurück bleiben, die dann Probleme machen können. Ich fühlte mich leer und nickte alles ab. Ich bekam ein Bett und ein Zimmer und brach in Tränen aus. Ich konnte mich nicht mehr beruhigen, mein Freund wurde nach hause geschickt, ich sollte eh bald in den OP. Ich weinte so stark, dass ich nach einiger Zeit eine Beruhigungstablette bekam. Als ich in den OP geschoben wurde, war ich völlig benebelt. Ich weiß quasi nichts mehr davon. Als ich wieder wach war, war nur diese Leere übrig geblieben. Körperlich weil etwas fehlte, emotional weil all die Emotionen mit entfernt worden waren – oder vielleicht eher betäubt.
Von der Schwangerschaft wussten nur Wenige, die die es wussten sagten, dass es ihnen leid tue aber dass es sicher einen Grund gehabt hätte. Ein schwacher Trost. Ich weinte immer wieder.
Nach drei Tagen rief die Praxis meiner Ärztin an, der Urlaub sei vorbei, die Blutwerte waren zu niedrig ich solle zur Kontrolle kommen. Ich war nah dran, die Beherrschung zu verlieren, aber erklärte alles. Ich sollte noch am selben Tag zur Kontrolle kommen.
Es sei „alles gut“, wie mir gesagt wurde. Was gut sein sollte, war für mich jedoch völlig unverständlich. Meine Ärztin sagte mir, dass es doch das Beste so sei, weil ich ja noch so jung sei. Das Beste… ich verliere mein Baby und das soll das Beste sein. Ich habe die Praxis nicht wieder betreten danach.
So tief die Trauer und der Schock – vor allem bei mir – auch saßen, so haben wir nicht lange danach trotzdem beschlossen, nun gezielt ein Baby bekommen zu wollen. Ich war jetzt 17 und es war ok und gut so. Ich glaube im Nachhinein, dass ich das brauchte… Quasi zum „drüber hinweg trösten“. Was sicher nicht gut gewesen wäre. Es klappte auch nicht.
Zwei Jahre lang weinte ich immer wieder unvermittelt, „mein Baby ist tot“ war der Satz, der immer wieder fiel. Das Verständnis schwand. Selbst bei meinem Freund war die Trauer deutlich schneller verblasst. Und niemand sprach mit mir über mein Kind, das es nicht gab. Es war und ist für mich bis heute furchtbar, dass es totgeschwiegen wird. Ich habe mir ein Jahr später ein Tattoo mit einem Stern für das Baby stechen lassen.
Erst vier Jahre später wurde ich wieder schwanger. Inzwischen verheiratet mit dem gleichen Mann, mit fertiger Ausbildung, mitten im Leben stehend und mit eben diesen vier Jahren mit unerfülltem Kinderwunsch als Narbe auf der Seele.
Juli… zum Glück nicht wieder die gleiche Zeit. Meine Freude war riesig, mein Mann freute sich kaum. Er könne nicht, sagte er. Nicht bevor die ersten 12 Wochen rum sind. Trotzdem merkte ich, wie er mitfieberte. Mein HCG wert war super. Der Schall auch, Progesteron allerdings grenzwertig, daher sollte ich es in Tablettenform einnehmen.
Eine Woche später, 6. Schwangerschaftswoche erwache ich nachts mit Krämpfen. Ich ging auf die Toilette und sah das viele Blut. Ich wusste und spüre sofort, was Sache war. Legte mich aufs Sofa, um meinen Mann nicht zu wecken und weinte. Kurze Zeit später kam er zu mir, wusste in der Sekunde, was los ist und hielt mich weinend auf dem Sofa im Arm. Er brachte mir Ibuprofen, als ich bereit war, die Schmerzen nicht mehr ertragen zu müssen und tröstete mich – bis wir früh morgens noch mal schlafen gingen.
Als ich dieses Mal zum Arzt gehe ist im Schall schon nichts mehr sichtbar. Ich lehnte eine Currettage direkt und vehement ab – nie wieder wollte ich das erleben. Nie wieder auf die Möglichkeit des Abschieds verzichten. Nie wieder so leer aufwachen plötzlich. Ich blutete nicht länger als bei einer normalen Regel – Abschied haben wir in der ersten Nacht genommen, der Rest ist zu verarbeiten. Mir geht es dieses Mal viel besser damit. Zwei Wochen später wird mein Tattoo um einen Stern erweitert und ich habe das Gefühl, emotional abgeschlossen zu haben. Natürlich ist da noch Trauer. Aber eben so ganz anders als nach der ersten Fehlgeburt.
Im Oktober bin ich wieder schwanger. Damit hatten wir so schnell gar nicht gerechnet. Diesmal folgen 12 Wochen Bangen und Angst. 12 Wochen wie Kaugummi und kaum erträglich. 12 Wochen mit vielen Erinnerungen an die anderen beiden Male, an unsere Sternchen dort oben am Himmel. Und die Freude im Anschluss, ich sehe meinen Mann noch strahlend vor mir, endlich freut er sich richtig, so so sehr!
Dann der Tiefschlag in der 14. Woche: Blutungen. Stark. Sehr stark – und die unbändige Angst.
Aber: Es ist ein Hämatom hinter der Plazenta. Dem Baby geht es gut.
Die restliche Schwangerschaft war dann insgesamt sehr Angst-geprägt – aber letztendlich haben wir seit Sommer 2016 einen gesunden Sohn. Einen, der mich für alles was war entschädigt – und trotzdem nicht vergessen lässt.
Und jetzt bin ich wieder schwanger, in der 23. Woche. Diesmal komplikationslos und sogar fast angstfrei. Ich mache meinen Frieden mit unserer Geschichte, ganz langsam.
Meine beiden Sternchen trage ich immer im Herzen und unter meiner Haut. Es wird nie der Tag kommen, an dem ich sie vergesse, aber zumindest emotional habe ich die Verluste inzwischen gut verarbeitet.
Danke, Anja, für deine Geschichte! Mehr über ihre kleine Familie gibt es auf BeziehungsweiseLiebe zu lesen.