Kinderhaben anderswo: Josi, Olaf und Lola in Thailand

Unsere „Kinderhaben anderswo“ Reihe führt uns heute nach Thailand. Josi und Olaf sind vor knapp sieben Jahren aufgebrochen und wollten raus aus Deutschland, raus aus ihrem Alltag. Damals war ihre Tochter knapp ein Jahr alt. Inzwischen ist Lola fast acht und die drei sind schon eine Weile in Thailand zuhause. Josi und Olaf erzählen heute von ihrem Alltag und Vereinbarkeit, wieso sie inzwischen Freilernen und warum Thailand von Eltern manchmal mit Bullerbü verglichen wird.

Wie seid ihr denn überhaupt nach Thailand gekommen?

Am Anfang stand eine aufregende Entscheidung: Wir wollten raus. Raus aus unserem Alltag, weg von Zukunftsängsten, hin zu Ländern, in denen wir noch nie waren. Dabei hatten wir weder Thailand im Allgemeinen noch das Dorf, in dem wir jetzt wohnen, im Speziellen im Sinn. Wir sind zunächst nach Taiwan gereist, weil Josi Chinesisch spricht und dort schon einmal länger gewohnt hatte. Danach haben wir uns Stück für Stück Südostasien erschlossen – weitaus langsamer, als wir dachten, aber dafür mit vielen schönen Erfahrungen.
Unterwegs sind wir an Plätze gekommen, wo wir sofort wieder weg wollten. Andere sind uns langsam ans Herz gewachsen. Und schließlich, ganz selten, gab es Orte, an denen wir uns ruhig und angekommen fühlten. Als wir hier im Norden Thailands aus dem Bus stiegen, haben wir aufgeatmet, als würde ein schwerer Rucksack von den Schultern genommen.
Aus einer Woche wurde ein Monat, und als wir schweren Herzens nach Deutschland zurückkamen nach unserer langen Reise, war klar, dass wir wieder aufbrechen werden. Letztlich hat es noch über ein Jahr gedauert, bis wir wirklich ausgewandert sind, inklusive viel Hadern, Zweifeln und Probewohnen.

Aber bisher haben wir diese Entscheidung nicht bereut – im Gegenteil: Wir sind regelmäßig dankbar, dass wir damals so mutig waren.

Wie lebt ihr? Wie sieht euer Alltag aus? Was arbeitet ihr? Seid ihr alle gut dort angekommen?

Wir arbeiten als Influencer:in, Journalist:in und Texter:in. Die Jobs haben wir uns über die letzten Jahre Stück für Stück erarbeitet. Angefangen haben wir mit ziemlich schlecht bezahlten Textjobs. Letztlich sind wir über Empfehlungen und Arbeitserfahrung bei unseren aktuellen Schreibjobs gelandet. Instagram kam irgendwann mit dazu, als sich abzeichnete, dass unser Kanal mehr als nur ein Hobby ist und dass viele Menschen unseren Lebensweg spannend finden. Wir arbeiten zeitlich flexibel. Manchmal am Strand, manchmal im Café, manchmal aus dem Bett. Es sind immer mal lange Nachtschichten nötig, damit unser Familienalltag tagsüber funktioniert. Dafür haben wir dann die Tage meist für uns.
Unser Alltag fühlt sich für uns völlig unspektakulär an, bis uns jemand besucht. Unsere Besucher*innen staunen dann über unser offenes Teak-Haus, durch das der Wind weht und in welches sich manchmal auch Schlangen, Fledermäuse und Eidechsen verirren. Unser Trinkwasser wird uns auf dem Roller gebracht, und das heiße Wasser zum Duschen erhitzen wir mit Gas aus einer riesigen Gasflasche. Wenn der Wind günstig steht, können wir sowohl den Muezzin rufen als auch die Mönche im nahen Kloster chanten hören. Und dann gibt es da noch das laute Ächzen der Sportler*innen aus dem Muay Thai Gym nebenan.
Wir leben hier mit unserer inzwischen fast achtjährigen Tochter sowie drei Katzen und haben viele Freund*innen aus allen Winkeln des Planeten. Manche kommen und gehen, andere sind seit Jahren Teil unseres Alltags, wieder andere sehen wir selten persönlich. Unser Ort hat eine sehr starke Community aus Menschen aus aller Welt. Es gibt viele Kurse für jung und alt, Feuershows, Open Mic Nights, Community Lunches und viele, viele Feste.
Unsere Tochter ging hier bis vor kurzen dreimal die Woche zu einer Unschooling-Gruppe. Dort wird frei gelernt. Lerninhalte und -tempo bestimmen die Kinder. Die Erwachsenen sind da, um zu unterstützen, Impulse zu setzen und einen Rahmen zu geben. Vorher war sie hier in der lokalen Grundschule und danach in einer freien Schule, die von den Eltern organisiert wurde. Beides hat nicht hundertprozentig zu Lola gepasst, aber zum Glück gibt es hier viele, viele Projekte und Freilernerfamilien. Aktuell findet das Lernen zu Hause statt. Wir unterstützen uns gegenseitig und unsere Kinder wachsen gemeinsam auf. Besonders durch dieses Netzwerk ist hier ein Leben ohne Schule gut möglich. Wir achten dabei vor allem darauf, dass der Lernalltag flexibel ist und zu uns allen passt.

Wie alt war eure Tochter, als ihr mit dem Reisen begonnen habt? Wie habt ihr das mir Arbeiten und Kinderbetreuung gemacht?

Unsere Tochter war knapp ein Jahr alt, als es losging und extrem unternehmungslustig. Sie war von Anfang an eine Wenigschläferin. Deshalb sind wir wechselseitig mit der Trage bis nachts um halb zwei um die Häuser gezogen. Viele subtropische Großstädte haben wir uns so erlaufen – und dabei ganz andere Einblicke erhalten als in hellem Tageslicht. Unsere Tochter war auch eine großartige Anzeige, ob wir uns beim Reisetempo übernehmen. Letztlich hat ihr Bauchgefühl uns die ganze Reise sehr viel angenehmer gemacht.
Wir versuchen, uns beim Arbeiten wie bei der Kinderbetreuung 50:50 anzunähern. Jeder hat seine Spezialgebiete und wir haben uns lange häufig die Klinke in die Hand gegeben. Mittlerweile sind wir aber in vielen Bereichen extrem eingespielt, auch wenn wir dafür durch tiefen Mental-Load-Morast waten mussten. Es fühlt sich gut an, dass wir im Notfall immer für den jeweils anderen einspringen können und niemand abhängig ist. Wenn uns diese Jahre etwas gezeigt haben, dann, dass wir füreinander da sind – egal, in welchem Bereich.

Und wie ist es allgemein mit Vereinbarkeit und Kinderbetreuung in Thailand?

In Thailand ist die erste Smalltalk-Frage nicht, wie in Deutschland, nach dem Beruf, sondern nach der Familie. Meist wird neugierig gefragt, ob wir noch mehr Kinder hätten. Thailand ist ein wesentlich kinderreicheres und jüngeres Land als Deutschland, was unserer Meinung auch daran liegt, dass die Familienstrukturen weit größer und gefestigter sind als in Deutschland – zumindest hier auf dem Land, wo wir leben. Es gibt Kindergärten und weiterführende Schulen, aber alles, was dort nicht geleistet werden kann, wird beispielsweise von den Großeltern aufgefangen, wenn die Eltern arbeiten gehen. Alle wissen, dass die Familie hier das wichtigste Sicherheitsnetz ist – und Kindern und älteren Menschen wird dementsprechend auch mehr Raum gegeben.

Ihr habt schon erwähnt, dass ihr eure Tochter nach zwei Jahren aus der Schule genommen habt. Wie kam es dazu? Und wie ist das Schulsystem in Thailand?

In die Thaischule ist unsere Tochter vor allem gegangen, weil sie die Schuluniformen, die mehrmals in der Woche wechseln, so schön fand. Die Lehrer*innen und die Verwaltung haben uns als Eltern wertschätzend an die Hand genommen – trotz Sprachbarriere und obwohl das Schuljahr schon begonnen hatte. Die Mitarbeiterin aus dem Schulsekretariat ist sogar mit uns die Uniformen einkaufen gegangen – diese Aufmerksamkeit hat uns sehr überrascht und gefreut.
Das staatliche Schulsystem in Thailand verfügt, wie in Deutschland, über Kindergärten, Grundschulen und weiterführende Schulen. Gleichzeitig gibt es aber auch in den größeren Städten wie Chiang Mai eine ganze Reihe von Privatschulen, die mit ihrer besseren Ausstattung und ihrem guten Fremdsprachenangebot bei den Familien punkten wollen. Bildung ist in jedem Fall ein Statussymbol. Unsere Schule war ein kombinierter Kindergarten mit Grundschule. Überrascht hat uns, dass es in den kleineren Klassen einen verpflichtenden Mittagsschlaf gab. Das, der sehr geregelte Ablauf und die unhinterfragte Autorität der Lehrer*innen haben nach einiger Zeit zu Reibungen geführt. Lola hat sich dann gewünscht, mehr Zeit mit ihren Freund*innen in einer freien Schule vor Ort zu verbringen – aber sie hat in der Thaischule schneller Freundschaften geschlossen, als wir es für möglich gehalten hätten. Ein Weg, um wirklich in der Thai-Gesellschafft anzukommen, ist in jedem Fall der über eine öffentliche Schule.

Und wie macht ihr das jetzt mit dem Freilernen? Wie klappt das?

Derzeit stehen die Grundlagen für Lesen, Schreiben und Rechnen im Vordergrund, damit wir auch komplexere Themen wie wissenschaftliche Experimente, Raumfahrt oder Meeresbiologie angehen können. Dabei erstaunt uns immer wieder, wie divers die Interessen und auch der Wissenstand unserer Tochter sein können. Wir versuchen, wo es geht, uns Expert*innen zu suchen, damit wir nicht alles Lernen durch unsere Brille prägen. Gleichzeitig nutzen wir Lern-Apps, Arbeitshefte und Onlinekurse, wo wir beim Rechnen in Klasse Zwei und in Physik in Klasse Fünf unterwegs sind.
Ein großer Stolperstein im freien Lernprozess waren die starren Kleingruppen, die in der freien Schule existierten. Das tatsächliche Alter war dort wichtiger als die Freund*innen, mit denen Lola gerne gelernt hätte. Im Zweifelsfall vor- und zurückspringen zu können im Lernprozess, je nach Wunsch und Motivation, ist eine große Freiheit und der Weg, auf dem wir hoffen, die Freude am Lernen für sie zu erhalten.

Wie ist es mit der Kinderfreundlichkeit in Thailand?

Die Freundlichkeit der Thais ist fast schon ein geronnenes Klischee, aber sie trifft gerade auf Kinder zu. In Restaurants werden Kinder wie selbstverständlich den Eltern aus dem Arm genommen und einfach mit in die Küche zum Kochen gebracht, es wird getrötet, gealbert und gesungen; Omas bieten leckeres Essen an und die Menge an Süßigkeiten, die Kleinkindern heimlich zugesteckt wird, ist enorm. Kinder sind hier eine Bereicherung des Alltags – wie übrigens in vielen südostasiatischen Ländern. Und Eltern sollen im Restaurant die Chance haben, in Ruhe zu essen. Dafür übernimmt dann eben mal die Kellnerin das Schuckeln.

Was wir in Deutschland vermutlich maximal übergriffig bis gefährlich fänden, ist hier Wertschätzung für die enorme Leistung, die Eltern erbringen.

Was sind die größten Unterschiede zu Deutschland – und was gefällt euch (nicht)?

Der größte Unterschied zu Deutschland ist sicherlich, dass Kinder in Thailand viel Platz einnehmen dürfen. Es gibt diesen unstrukturierten Raum im Leben, den wir als Kinder in den 90ern noch hatten, und der in den vergangenen Jahrzehnten Stück für Stück verloren gegangen zu sein scheint – teils aus Angst um die Kinder, teils aus dem Zwang heraus, Familien heute stärker in den Arbeitsmarkt einzubinden.
Familien, die das hier zum ersten Mal erleben, sprechen häufig in Sprachbildern von „Bullerbü“, meinen das aber ganz ernst. Die Schwierigkeiten in Thailand finden sich eher unter der Oberfläche des Alltags. Thailand ist ein zutiefst buddhistisches Land, das nach klaren Hierarchien funktioniert und in dem das Gesicht wahren weitaus wichtiger ist als die Wahrheit. Ein „Nein“ gibt es nicht, dafür aber ungefähr 500 gefühlte Varianten von „Ja“, die alle eine Version von „Nein“ darstellen können. Auch nach vielen Jahren ist es eine Herausforderung, die Zwischentöne zu lesen. Diese Haltung geht bis ganz nach oben an die Spitze des Staates. Thailand hat eines der strengsten Majestätsbeleidigungsgesetze der Welt, und es ist erstaunlich, wie schnell man sich an Sprachverbote anpasst, wenn alle Menschen um einen herum das tun. Schlagzeilen über den thailändischen König wie in der BILD- Zeitung in Deutschland sind hier völlig unvorstellbar. Die Thais müssen das nicht zwangsläufig gut finden, aber wo ihre persönliche Position in vielen Dingen des öffentlichen Lebens verläuft, ist meist sehr vage. Das hat den Nachteil, dass Konflikte selten öffentlich ausgetragen werden – aber zum anderen ist der Alltag dadurch extrem friedfertig. Es tut gut, nicht bei jeder kleinen Irritation sofort in den Konflikt zu gehen.

Euer Leben klingt ja sehr frei und paradiesisch. Ihr sagt aber selbst, dass eure Freiheit auch viel kostet. Was genau?

Zunächst einmal bezahlt man für Freiheit mit Mut. Häufig kommt uns da das Bild einer Tür vors innere Auge, deren Schwelle mit Kleber beschmiert ist. Wir wissen, dass dahinter etwas Aufregendes wartet, aber wir trauen uns nicht, den entscheidenen Schritt zu machen. Die Angst klebt uns fest. Ohne sich mit der Angst auseinanderzusetzen und durch sie hindurch zu handeln, gibt es aber keine Freiheit. Diese Angst kann viele Formen annehmen: Angst vor Veränderung, der Verlust von Sicherheiten wie Kindergeld oder Rente, aber auch der zwangsläufig weniger werdende Kontakt zur Familie in Deutschland. Unsere Freiheit kommt gewissermaßen mit einer gewissen Kompromisslosigkeit.
Viele Familien tragen sich mit dem Wunsch auszuwandern, und stellen dann unterwegs überrascht fest, dass sie ihre Themen, Ängste und Konflikte einmal um die halbe Welt getragen haben. Die wahre Freiheit kommt daher, dass wir die Schwierigkeiten, die wir in Deutschland gehabt hätten, auch hier unter Palmen konsequent aufarbeiten.

 Wollt ihr in Thailand bleiben?

Wir sind ja eher aus Versehen in Thailand hängen geblieben und versuchen, sofern es die Umstände zulassen, jedes Jahr mehrere Monate zu reisen. Das ist unsere ganz persönliche Verbindung von Nomadentum und heimisch werden, die sicherlich auch nicht für jeden funktioniert. Aber wir lieben unser Zuhause, unsere Katzen und unsere Tochter ihre Freund*innen hier.

Aber wir werden nicht zu gemütlich, sondern entscheiden uns jeden Tag wieder bewusst für diesen Ort und dieses Leben. Und wenn das eines Tages nicht mehr passen sollte, dann ändern wir es.

Danke, Josi und Olaf!