Kinderhaben anderswo: Christine in Portugal

Morgens am Meer aufwachen, in der Mittagspause surfen, nachmittags Alpaka-Spaziergang statt Spielplatz. Klingt herrlich, oder? Das hat sich Christine Neder, die viele wahrscheinlich von ihrem Reiseblog “Lilies Diary” kennen, auch gedacht. Christine ist Autorin, YouTuberin und Mentorin für Minimalismus und lebt seit 2016 mit ihrer Familie teilweise in Portugal an der Südalgarve. Inzwischen ist es ihr richtiges Zuhause und wir haben mal gefragt, wie das Leben als Familie dort so ist.

Liebe Christine! Wie seid ihr nach Portugal gekommen?

Als erstes muss ich sagen, dass es keine von heute auf morgen Entscheidung war, sondern ein Prozess. Ich war 2015 zum ersten Mal in Portugal für meinen Reiseblog Lilien Diary. In diesem Jahr habe ich mich ins Surfen verliebt. 2016 bin ich dann mit Paul für einen Surfurlaub nach Portugal gekommen und wir haben uns beide in das Surfen verliebt. 2017 haben wir beschlossen, drei Monate am Meer in Portugal zu leben, um richtig Surfen zu lernen. Paul hat dafür sogar seine Festanstellung gekündigt. Die long story findet ihr in meinem Buch „Weniger ist Meer“.

In diesem Sommer haben wir uns in das Land und die Leute verliebt. Ich bin in vier Jahren durch 40 Länder gereist, aber kein Ort hat mich so berührt wie Aljezur. Wir haben überall „Zu Verkaufen“ Schilder an Häusern gesehen und dann war es eigentlich Paul, der gesagt hat, lass uns mal was anschauen. Und wir haben wirklich ein Apartment gefunden, das wir uns hätten leisten können! Wieder zu Hause haben wir mit der Bank über einen Kredit gesprochen, plötzlich kam jedoch der Anruf, dass der Besitzer das ganze Haus verkaufen will.

Oh nein. Und dann?

Wir waren erst mal super traurig und sind wieder nach Portugal geflogen, weil wir dachten, wir kaufen uns mit Freunden zusammen ein Haus – aber das war auch keine gute Idee. Es wurde dann letztendlich ein Grundstück. Ab 2016 sind wir jedes Jahr für zwei Monate nach Portugal gereist und haben versucht, unseren Traum vom Haus am Meer zu realisieren. Als wir mit allen Plänen von der Architektin und den Ingenieuren fertig waren, kam 2020 Corona und alles wurde plötzlich so teuer, dass wir es uns nicht mehr leisten konnten.
Das war wieder ein krasser Dämpfer und wir mussten uns überlegen, ob wir das wirklich wollen oder es einfach eine blöde Idee war. Zu dem Zeitpunkt gab es dann schon Alma und eigentlich wollten wir das Häuschen ja nur für die Ferien. Uns wurde aber bewusst: JA wir wollen das und haben noch mal von vorne angefangen mit den Plänen und ein ca. 80 Quadratmeter Häuschen geplant und gebaut.
Das hat aber noch sehr lange gedauert. Erstmal stand wieder unsere jährliche Auszeit von zwei Monaten in Portugal an. Und in dem Jahr sind wir mit dem Auto durch Corona irgendwie nicht mehr zurückgekommen und haben unseren Aufenthalt immer wieder verlängert. Bis aus den zwei Monaten acht Monate wurden. Nach diesen acht Monaten “Probeleben” wurde uns klar, dass wir uns entscheiden müssen. Bis dato hatten wir die Idee 50% in Berlin und 50% in Portugal zu leben, aber mit Kinderbetreuung wäre das nicht gegangen und wir wollten auch Alma nicht jedes halbe Jahr aus ihrem Leben reissen.
Ja und so wurde aus der fixen Idee „Lass mal ein Grundstück kaufen“ unser Zuhause. Ich hätte ehrlich gesagt nie gedacht, dass ich mal auswandere, aber jetzt ist genau alles so gut, wie es ist.

Wie toll! Wie lebt ihr denn genau?

Jeden Morgen werden wir von dem Gurren der Tauben in den Kiefern geweckt. Wenn ich die Balkontür öffne, begrüßt mich der süße Geruch von Zistrosen und ich kann das Meer am Horizont sehen und hören. Während Paul und Alma sich für den Weg zum Kindergarten fertig machen, bereite ich uns Kaffee zu, Müsli, das Futter für unseren Hund Rover und die Snackbox für Alma. Gemeinsam frühstücken wir, bevor die beiden sich auf den Weg machen und ich mir die Leine, das Hundegeschirr und Rover für unsere morgendliche Runde am Meer schnappe. Sobald ich wieder zu Hause bin, klappe ich meinen Laptop auf, gebe Online-Coachings, schreibe Skripte für neue YouTube-Formate oder drehe Videos. So oft es die Wellen zulassen, schnappe ich mir mein Surfboard und fahre zum Strand, um zu Surfen. Mittags hole ich Alma vom Kindergarten ab. Wir machen Besorgungen, kochen, treffen Freunde, verbringen den Nachmittag am Strand oder bei unseren Alpakas. Dazu kommen die täglichen Herausforderungen und es gibt immer was am Haus oder im Garten zu tun.

Ihr habt auch Alpakas? So cool. Wie kam es dazu?

Es war an einem Nachmittag zwischen Weihnachten und Silvester 2020. Alma und ich waren im Auto unterwegs, und ich schlug vor, dass wir zusammen zu den Alpakas fahren. Versteckt im Hinterland von Aljezur gab es eine Weide, auf der wir die Tiere aus der Ferne beobachten konnten. Paul hatte sie auf einem seiner Trailruns entdeckt. Schon oft waren wir hier gewesen, und immer zauberte mir der Anblick der flauschigen Vierbeiner ein Lächeln ins Gesicht. Ein besonders neugieriges Alpaka kam sogar jedes Mal immer bis zum Zaun und knabberte mit seinen krummen Zähnen am Draht. Während meiner Besuche merkte ich, wie ich vollkommen ruhig wurde und runterfuhr. Der Moment, das Hier und Jetzt drängte sich in den Vordergrund, und alles andere verschwand dahinter. Die Tiere haben eine besondere Energie und werden oft auch »Delfine der Weide« genannt. Ähnlich wie die Meeressäuger verbreiten Alpakas eine derartig positive Wirkung und finden schnell Zugang zum Menschen. An diesem besagten Nachmittag saß ich mit Alma am Rande der Wiese, wir schauten den Tieren beim Fressen zu, es duftete nach Heu, die untergehende Wintersonne legte ein warmes Licht über die Landschaft, und es breitete sich ein Gefühl der Zufriedenheit und Leichtigkeit in mir aus.

Viele Kindheitserinnerungen von meiner Zeit auf dem Reiterhof, gefüllt mit Glück und Unbeschwertheit, tauchten vor meinem inneren Auge auf. Warum nicht ein Stück dieses Kindheitsglücks zurück in meinen Alltag holen und selbst Tiere halten? Draußen sein bei Wind und Wetter, sich um Lebewesen kümmern und im besten Fall ein Projekt daraus machen, das Mensch und Tier zusammenbringt und vielen Freude schenkt. Bei diesem Besuch säte ich einen Gedankensamen.
Die große Vision hinter der Alpakafarm ist es, die Menschen ein Stück weiter zu sich und vor allem zur Natur zu bringen. Ihnen eine unvergessliche Auszeit vom Alltag zu ermöglichen. Ein paar Stunden, in denen man alles vergessen kann und nur in dem Moment lebt und sich etwas Gutes tut. Die Tiere können uns so viel geben: Kraft und Hoffnung. Geborgenheit und Liebe. Zeit und Ruhe.

Das klingt toll. Erzähl doch mal, wie du euer Leben mit Kind in Berlin erlebt hast? Und dann in Portugal?

Ehrlich gesagt kann ich dazu gar nicht viel sagen. Seit Alma auf der Welt ist, sind wir so viel unterwegs gewesen. Schon als Baby waren wir mit ihr in Österreich, Norwegen, Portugal. Wir hatten also immer nur eine kurze Zeit in Berlin und die war eigentlich sehr schön mit Baby, da ich mittags meine Freundinnen zum Essen treffen konnte. Mir persönlich hat aber die Natur total gefehlt und ich hatte immer den Wunsch, meinem Kind eine Kindheit auf dem Land zu ermöglichen.
Was ich in Deutschland jedoch kritisch beobachtet habe und in Portugal ganz anders wahr genommen habe – die Struktur. Ich sehe in Portugal Mütter, die das Familienunternehmen führen, während die Väter auf die Babys aufpassen. Ich treffe Papas, denen es wichtiger ist, die Entwicklung ihrer Kinder mitzubekommen, anstatt die Karriereleiter hochzuklettern. Ich lerne Familienmodelle kennen, in denen beide die Lohn- und Care-Arbeit leisten.
Es gibt zudem Regeln in Portugal, die Familien das Leben erleichtern, zum Beispiel in Warteschlangen. Ich bin jedes Mal zu Tränen gerührt, wenn mich die Kassiererin zum Bezahlen nach vorne ruft, weil es das Selbstverständlichste der Welt zu sein scheint, damit ich mit meiner Tochter auf dem Arm nicht so lange warten muss.
In Berlin wären alle genervt, wenn ich mich »vordrängle«. Da gibt es solche Regeln für Schwangere, Familien mit Kleinkindern, ältere oder körperlich beeinträchtigte Menschen nicht. In Portugal sind Kinder anders im Alltag integriert und in der Welt der Erwachsenen herzlich willkommen. Auch sie tanzen um dreiundzwanzig Uhr noch vor der Bühne des Dorffestes. Sie sind überall dabei, toleriert und geliebt.

© Carrie Oh Photography
© Mathias Explores

 

Wie ist es in Portugal mit Kinderbetreuung und Vereinbarkeit?

Wir haben in Portugal eine wundervolle Learning Community für Alma gefunden, in die sie schon geht, seit sie eineinhalb Jahre alt ist. Alles ist draußen, auf dem Stundenplan steht Permakultur und es gibt nur vegetarisches Essen. Alles, was mir wichtig ist. Was jedoch immer eine taffe Zeit ist und man sich in Deutschland überhaupt nicht vorstellen kann: alle Schulen und auch Kindergärten machen im Sommer zweieinhalb Monate zu. Einerseits ist es jedes Jahr eine Herausforderung, andererseits ist es auch eine so schöne, intensive Zeit mit dem Kind, die ich sonst nicht erleben würde.

Wie erlebt ihr die allgemeine Kinderfreundlichkeit in Portugal?

Was uns in den letzten Jahren besonders aufgefallen ist: der allgemeine Umgang mit Kindern. Hier setzen sich Gäste im Restaurant nicht ans andere Ende des Lokals, sondern direkt an den Nebentisch, weil sie sich über Kinder freuen und gerne mit ihnen interagieren. Die Portugies_innen sind ein unglaublich kinderfreundliches Volk, von dem wir als Familie mit offenen Armen empfangen wurden und für das es okay ist, wenn es an unserem Tisch ein bisschen dreckiger ist.

Was liebst du am Familienleben in Portugal? Und was nicht? 

Ich glaube, es sind die kleinen Dinge, die ich hier so schätze. Unser Frühstück am Sonntag morgen bei den Alpakas, das Picknick am Meer, die wunderschöne Natur um uns herum und dass wir einen Garten haben, in dem wir selber Gemüse anbauen können. Ich glaube, der größte Unterschied zu Deutschland ist hier in Portugal, dass das Leben mehr draußen stattfindet. Man trifft sich viel mehr in Gruppen, mit anderen Familien, und das ist ein wunderschönes Gemeinschaftsgefühl.

Und wie sieht die Zukunft aus – bleibt ihr?

Ja, die nächsten 10 Jahre auf jeden Fall. Aber wenn ich etwas gelernt habe dann: Sag niemals nie.

Wir sind gespannt! Danke, Christine!

Ein ganz anderes Kinderhaben anderswo in Portugal – nämlich in Lissabon bei Ines – findet ihr hier.

Titelbild: © Linda Rauch