Don’t judge? Es geht nicht ohne Bewerten.

Wenn ein Mensch einen Satz mit “not judging, aber..” beginnt, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass postwendend nach allen Regeln der Kunst gejudged wird. Letzteres ist in Eltern Bubbles über alle Maßen verpönt. Sollte man meinen. Denn auch, wenn alle sich brav gegen Mom-Shaming, aber für ein empathisches und sensibles Miteinander aussprechen, überhören wir gerne die Zwischentöne.

Eltern werden, das kann selbst ein starkes Selbstbewusstsein und ausgewachsenes Ego mächtig aus der Bahn werfen. Wenn man jahrelang darin geübt ist, selbstsicher und -bestimmt durch die Welt zu wandeln, hauen einen Kommentare von Fremden zu Baby- und Eltern-Themen vielleicht sogar umso mehr um.

Denn: Keine Ahnung, was ich da tue. Dann lieber auf die Schwiegereltern hören, die vor dreißig Jahren zuletzt ein Baby gehalten haben? Nein, danke! Da wollen wir doch alle drüberstehen, nehmen uns vor, bloß nie so zu werden und alle anderen Eltern in Ruhe ihr Ding machen zu lassen. Sich in aufgeweckten, gut informierten und akademisierten Eltern-Bubbles zu bewegen, das meint auch, den still oder laut angekündigten Konsens zu teilen, das Gegenüber bloß nicht zu verurteilen. Wo kämen wir denn da hin, uns anmaßend darüber zu äußern, wie die anderen es machen – obwohl es ja eigentlich nichts Interessanteres gibt als das…

Ohne sozialen Abgleich hätte für mich in der ersten Baby-Zeit nur wenig funktioniert.

Ich hatte so viele Fragen, war so unsicher. Wenn der liebste Whatsapp-Eltern Kontakt mal nicht antwortete, dann wurde eben schnell gegoogelt. Um sich prompt das Ok einer Wildfremden geben zu lassen, die das oder jenes so ähnlich Pi mal Daumen 2009 auch schon mal erlebt hat. Oder sind hier irgendjemandem “Babyclub.de”, “Urbia.de” oder “Rund-ums-Baby.de” kein Begriff? Woher soll jemand wissen, der das erste Mal ein Baby hat, wie normaler Stuhl, ein normaler Mückenstich oder die Konsistenz des Erbrochenen aussieht? Na also. Dann eben alle vermeintliche Auffälligkeiten einfach mal durch die liebste Suchmaschine jagen.
Und so geht es weiter. Wann mit der Beikost starten? Wann sitzen Babys normalerweise? Wie lange schlafen sie? Klar, nicht nur das Web ist ein beliebter Berater. Ich frage auch Freund*innen, wie sie es handhaben. Mit dem Tagschlaf, der Babywippe, dem Brei(frei)-Wirrwarr. Und siehe da. Maria kauft Gläschen aus dem Biomarkt. Betül schnitzt fleißig handgerechte Möhrenstücke und Ella – die bietet zum Snack einen Quetschie an. Mit neun Monaten. Und da erwische ich mich. “Ähm, Muss das sein? Quetschies? So früh?”

Ganz ohne Urteil geht es gar nicht.

Menschen vergleichen automatisch – aus Unsicherheit und Unerfahrenheit. Zum Abwärts- und Aufwärtsvergleich. Dann bilde ich mir Meinungen, wäge ab, suche meinen Weg. Und bewerte automatisch den der anderen. Der soziale Abgleich gibt nicht nur Halt und Stabilität inmitten der Aufregung dieses neuen Lebensabschnitts. Er ist auch ein wichtiges Mittel für die Vernetzung unter uns Eltern. Lasst uns doch bitte so viel über Breimahlzeiten, Stuhlkonsistenzen und Mittagsschläfchen reden, wie es nur geht. Ohne Scham und Unterlass. Das Leben der anderen ist nur eine Whatsapp Nachricht entfernt, einen Instagram-Scroll und eine Erzählung weit weg. “Not Judging” ist ein Wunschtraum. Denn es ist doch ein Automatismus, der uns beim Beobachten begleitet. Ob wir wollen oder nicht. Und wenn wir doch immer dabei sind Verständnis zu prädigen, haben wir Regeln für unsere Familien ja nicht umsonst aufgestellt, Überzeugungen nicht einfach so entwickelt.

Wo einige sich geläutert geben, erkenne ich, mit Schmerz und Belustigung zugleich, dass ich die Letzte bin, die in der Lage ist, das Rattern im Kopf ganz abzustellen, wenn ich den Blick schweifen lasse. Immer im Glauben, selbst sehr gute Entscheidungen zu treffen, wandeln wir schließlich durch die Welt und bieten unserem Nachwuchs Montessori-Spielzeug und Dinkelnudeln an. Nur, um irgendwann festzustellen, dass es rein Kontext-abhängig ist, wer was für angebracht oder unangemessen erachtet.

Mein Normal ist nicht dein Normal.

Deshalb habe ich gelernt, Urteile und Beobachtung schlichtweg nur noch mit mir selbst auszumachen. Felsenfest davon überzeugt, dass andere Eltern – genauso wie ich – ganz genau wissen, was sie tun (ja klar) oder zumindest ihr bestes geben (so nämlich).
Dennoch: Zu behaupten, nicht zu Urteilen macht einem vom Urteil nicht frei. Im Gegenteil. Eher klingt es wie ein Freifahrtschein, mal richtig vom Leder zu lassen über die anderen Verlotterten, die extrem Organisierten, die Ungesunden, die Bildschirmsüchtigen, die Vorsichtigen. Wenn ich aber eins schon feststellen durfte, ist es, dass eben nicht alle Familien Zeit für glasklare Prinzipien haben, nicht alle Geld für Wolle-Seide-Kleidung und nicht alle Kapazitäten, die Mediennutzung einzuschränken. Das mitzudenken, wenn man in der Kinderarztpraxis das nächste Mal den Blick senkt, wenn wieder ein Kind mit dem Handy abgespeist wird, wäre eine Idee. Oder zu versuchen, zuzulassen, dass man sich ohnehin seine Gedanken macht, aber ja zumindest daran arbeiten kann, wie wohlwollend oder Ich-zentriert diese ausfallen. “Ich möchte nicht” klingt am Satzanfang schließlich schon viel besser als “Man sollte niemals”…

Eine komische Welt, in der man als Eltern unglaublich selbstbestimmt handeln möchte, aber ohne sozialen Abgleich und regelmäßiges Nachfragen “wie ist es bei euch?” eben auch nicht funktioniert. Das Elternforum meines Vertrauens ist regelmäßig voll von schriftlich hochgezogenen Augenbrauen und lebensnahen Berichten darüber, wie Hugo, Stella und Mäxchen so schlafen, ins Töpfchen machen und Brei genießen. Wunderbar ist das. Da habe ich nicht mal mehr das Bedürfnis, ein Urteil zu verhängen, viel lieber will ich schnell den Laptop schließen, um die liebste Freundin um Rat zu fragen. Hoffentlich antwortet sie!