„Hauptsache gesund“ … Wirklich?

Immer freitags! Posten wir einen Artikel aus dem Archiv. Denn wir haben SO viele Themen schon mal behandelt, die meisten sind immer noch aktuell. Wir freuen uns auf euer Feedback! Heute geht es um einen Satz, der immer noch sehr oft fällt… Der aber durchaus seine Tücken hat! Nämlich um „Hauptsache gesund“.

Manchmal tun mir meine Freunde und Bekannten ja fast ein bisschen leid. Ich konfrontiere sie nämlich durchaus mit meinen – für manche progressiven – Ansichten rund um das Familienleben. Und manch einer, der eher konservative Prägungen in sich hat, wird dann zum Reflektieren gezwungen, was natürlich immer unangenehm ist. Wenn (werdende) Väter mir zum Beispiel erklären, warum sie keine Elternzeit nehmen können (oder eher wollen), dann frage ich GANZ genau nach. Und erkläre dann meist, warum ich persönlich andere Prioritäten setzten würde. Ebenso, wenn mir Paare erzählen, die Mutter sei eben schon das Beste für das Kind und wichtiger als der Vater. Da frage ich auch GANZ genau nach.

Was ich auch nur noch schwer umkommentiert lassen kann, ist der Satz “Hauptsache gesund”. Das sagen werdende Eltern ja sehr gerne, wenn es um das Geschlecht des ungeborenen Kindes geht, wenn sie die ganzen Tests haben machen lassen. Ich weiß, dass das nicht böse gemeint ist, die meisten denken sich nichts dabei. Aber ich finde diesen Satz aus vielen Gründen grundlegend falsch. Ich zähle mal auf:

1. Man hat keine Ahnung, wie “gesund” das ungeborene Kind ist.

“Hauptsache gesund” soll das Baby sein, das im Bauch heranwächst. Das ist verständlich, denn krank sein ist nicht schön, chronisch krank sein natürlich erst recht nicht. Aber die meisten Eltern meinen mit “gesund” eigentlich “nicht behindert”. Und da man die wenigsten Behinderungen im Mutterleib erkennen kann, meinen sie eigentlich nur “hat kein Down-Syndrom”. Die allerwenigsten Krankheiten und Behinderungen sind angeboren, und davon ist eben auch nur ein sehr kleiner Teil vor der Geburt zu erkennen. Ja, man kann auch seltenere chromosomale Besonderheiten wie die Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) und 13 (Pätau-Syndrom) diagnostizieren. Aber Trisomie 18 und 13 sind sehr selten. Man kann auch eine falsche Zahl der Geschlechtschromosomen X und Y feststellen, aber da geht es ja dann weiter. Was will man wissen? Was würde man bekommen wollen, wie viel “nicht gesund” ist okay? Da es bei den pränatalen Untersuchungen oft um den Ausschluss des Down-Syndroms geht, ist diese Aussage “Hauptsache, mein Kind ist gesund” schon auch schlicht und einfach ganz schön behindertenfeindlich.

Ein Großteil der Behinderungen wird im Laufe des Lebens erworben. Oft bei der Geburt oder durch einen Unfall. Viele der (chronischen) Krankheiten ereilen einen erst später. Es gibt keine Garantie und keine Gewissheit, dass das eigene Kind “gesund” – welche Definition das auch immer für einen selbst hat – ist. Die Tests gaukeln einem eine Sicherheit vor, die es nicht gibt. Wir haben übrigens hier mal einen Podcast mit Mareice Kaiser dazu aufgenommen. Hier geht es auch um Pränataldiagnostik. Ich will das übrigens nicht verteufeln. Es ist auch an ganz vielen Stellen sehr sehr hilfreich und medizinisch sinnvoll, pränatale Untersuchungen zu machen. Aber man sollte sich über die Folgen im Klaren sein.

2. Hauptsache gesund, unabhängig und leistungsfähig.

Denn was, wenn das Kind dann doch behindert oder chronisch krank ist oder wird? Es gibt im kapitalistischen Leistungssystem eine klare Hierarchisierung, die wird zwar nicht ausgesprochen, aber jeder weiß das: Nur wer gesund und vor allem leistungsfähig ist, hat eine Chance. Kann Karriere machen. Kann ein gutes Leben führen. Kann etwas “schaffen”, sich verwirklichen. Aber wer ist das schon durchgehend? Ein Unfall kann wirklich jedem passieren. Eine Herz-Kreislauferkrankung im Laufe des Lebens zu bekommen, ist sehr wahrscheinlich. Oder Krebs. So viele Menschen sind psychisch krank, mental nicht fit. Haben Depressionen, Angststörungen. Dinge, die man nicht auf den ersten Blick sieht, die aber enorm einschränkend sein können.

Kann man nur gesund und leistungsfähig ein gutes Leben führen? Und wenn ja, warum ist das so? Doch nicht, weil man dann nicht glücklich sein kann. Oder weil man ein Kind mit Behinderung weniger liebt. Sicher nicht. Sondern weil eben leider alles auf fitte, unproblematische Leistungsmenschen mit zwei Beinen ausgerichtet ist. Wären wir wirklich “inklusiver”, wäre es auch nicht mehr so ein Problem, nicht dauerhaft gesund oder ohne Handicap zu sein.

Gesundheitliche Beschwerden und Einschränkungen können einem das Leben erschweren, das ist ganz klar. Niemand will sein Kind leiden sehen. Jeder möchte seinem eigenen Kind erst Mal alles Unangenehme ersparen. Und niemand wünscht seinem Gegenüber etwas anderes, als gesund zu sein. Hoffentlich! Aber die Realität sieht eben anders aus. Und dass das Leben so erschwert wird, wenn man nicht ganz “gesund” ist, das liegt an den Strukturen, nicht an der betroffenen Person. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, zumindest in einem reichen, westlichen Land wie Deutschland, es allen leichter zu machen. Es gibt Förderungmöglichkeiten, SonderpädagogInnen, LogopädInnen, ErgotherapuetInnen, PhysiotherapeutInnen, Rollstühle, Prothesen, Hörgeräte. Das kostet aber alles Geld, ist mit bürokratischem Aufwand verbunden und oft sind diese Hilfsmittel auch mit einem Stigma besetzt. Weil, wer will schon “nicht gesund” sein? Und weil es auch erst Mal niemandem direkt einen finanziellen Vorteil bringt, wenn Menschen mit Behinderung oder chronisch Kranke die Anteilnahme am täglichen Leben erleichtert wird, sitzt das Geld da auch nicht gerade locker. Schade, oder?

3. Würde man ein “nicht gesundes” Kind wirklich nicht wollen?

Viele Eltern entscheiden sich nach einer Trisomie 21 Diagnose gegen das Wunschkind im Bauch. Weil sie sich “das” nicht zutrauen. Weil es eben auch sicher nicht immer leicht ist. Oder einem leicht gemacht wird. Aber viele kämpfen nach so einer Entscheidung dann auch ihr Leben lang damit. Lesen Geschichten wie die von Esther und brechen in Tränen aus. Letzte Woche hat uns erst wieder eine Leserin so etwas geschrieben. Schrecklich, oder? Ist es also wirklich SO wichtig, dass das Kind “gesund” ist? Wie ungesund oder behindert ist vertretbar, welches Kind würde man nehmen, welches nicht? Wie “normal” muss das Kind sein? Wenn man während der Schwangerschaft feststellen könnte, dass das Kind taub wird – würde man es wollen? Dass es Mukoviszidose hat? Würde man das in Kauf nehmen? Abweichungen bei den X und Y Chromosomen kann man, wie gesagt, sogar feststellen. Würde man ein Kind, das nicht eindeutlich “männlich” oder “weiblich” ist, wollen? Ihr wisst, worauf ich hinaus will. Wenn Kinder im Laufe des Lebens einen Unfall haben oder eine unheilbare Krankheit bekommen, dann ist das meist schrecklich. Belastend. Aber die Eltern kümmern sich meist rührend. Sie überschütten das Kind mit Liebe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Eltern gibt, die dann denken: Hätten wir das früher gewusst, wir hätten das Kind nicht bekommen. “Die Liebe ist nie das Problem” hat Mareice Kaiser damals im Podcast gesagt. Und daran glaube ich fest. Ich glaube, dass 99% der Eltern, die sagen “Hauptsache gesund” auch ein Kind, das nicht “gesund” oder “nicht-behindert” ist unglaublich lieben und nie wieder zurückgeben wollen würden.

4. Kann man nur “gesund” ein gutes Leben führen?

Das Leben soll leicht, unbeschwert und beschwerdefrei ablaufen. Man will sich fit und energetisch und gesund und leistungsstark fühlen. IMMER! Aber so ist das Leben nicht. Das ist eine völlig unrealistische Erwartung. Und nicht wenige haben im Kopf, dass mensch mit Handicap oder einer Krankheit automatisch ein traurigeres Leben hat. Das ist aber nicht so! Ja, man hat weniger Möglichkeiten und mehr Barrieren, aber wir könnten auch alle viel dafür tun, damit das weniger so wäre. Die Gesellschaft sollte sich auf Menschen mit Handicap und Krankheiten einstellen – und nicht umgekehrt. Es sind so viele, es wäre einfach fair und würde allen gut tun. Ich kenne so viele Kinder, die ein Handicap oder eine blöde Krankheit haben. Das ist auch oft belastend und sicher nicht immer einfach. Aber sowohl sie, als auch ihre Eltern haben dennoch ein glückliches und erfülltes Leben. Letzteres vielleicht sogar noch mehr. So viele berichten, wie sehr sich der Horizont erweitert, wenn man nicht immer nur alles aus Sicht eines gesunden, nicht-behinderten, leistungsstarken Menschen betrachtet. Es ist noch so viel zu tun.

5. “Hauptsache geliebt”

Das sollten wir uns vielleicht lieber angewöhnen. Als flapsigen, nett gemeinten, daher gesagten Spruch, mit dem wir aussagen wollen, dass wir uns auf unser Kind freuen: “Hautsache geliebt!” Denn wenn ich so überlege, bin ich mittlerweile auch wirklich der Meinung, dass es das ist, was am Wichtigsten für ein glückliches Leben ist. Alle anderen Komponenten: Wohlstand, Bildung, Gesundheit – sind wenig wert, wenn das Elternhaus nicht liebevoll ist. Wenn man nicht wertgeschätzt und gestärkt wurde als Kind. Deswegen: Hauptsache geliebt! Darum sollte es doch gehen, oder was meint ihr?

Foto: Christian Bowen