Gut genug reicht völlig aus – Zum neuen Ratgeber “Wild Child”

Unsere Gastautorin Sabine hielt nicht viel von Ratgebern – bis sie den richtigen fand:

Als meine Tochter vor zwei Jahren auf die Welt kam, hatte ich keinen einzigen Erziehungsratgeber im Regal stehen. Nicht weil ich so überzeugt war von meinen pädagogischen Fähigkeiten. Es war wahrscheinlich eher andersrum: ich war sogar so blank und uninformiert, dass ich gar nicht auf die Idee kam, dass es unterschiedliche Ansätze beim betreuten Aufwachsen von Kindern gibt.

Einen Babymassage-Kurs, mehrere Fenkid-Einheiten und viele Spielplatz-Momente später war mir dann auch klar geworden, dass es nicht nur verschiedene Ansätze gibt, sondern dass die auch hohes Konfliktpotential bieten.

“Wie, du stillst deine Tochter immer noch?”
“Ach, ihr schlaft nicht im Familienbett?”
“Pass auf, dass du ihn nicht verwöhnst, wenn du ihn jedes Mal gleich auf den Arm nimmst, wenn er weint.”
“Oh, Kita mit 10 Monaten. Hast du dir das gut überlegt?”

Solche und andere Gespräche habe ich selber geführt und haufenweise mitbekommen. Und die Haltung zu einem bestimmten Erziehungsstil schwang dabei immer mit. Mal besonders gefeiert und mal besonders verurteilt: Bindungsorientierte Elternschaft bzw. Attachment Parenting.

Bedürfnisorientierte Elternschaft: Erziehungsstil mit viel Konfliktpotential 

Isabel hat dazu auch schon mal was geschrieben und in ihrem Text kann man gut nachlesen, wie dogmatisch, fast fanatisch die Ideen dahinter teilweise umgesetzt werden. Dogmen sind meiner Meinung nach nie gut. Egal in welche Richtung. Dennoch habe auch ich im Laufe der Zeit ein Bauchgefühl entwickelt, wie ich meine Tochter erziehen möchte. Manche Ratschläge waren mir einfach näher, als andere. Und natürlich wächst man ja auch immer mehr ins Eltern-Sein hinein und weiß irgendwann intuitiv, was sich für einen stimmig anfühlt und was nicht.

Definitiv waren mir da die Ideen der bedürfnisorientierten Erziehung näher, als andere. Auch wenn ich es für mich selbst nie so definiert habe. Ich wusste einfach, dass es sich für mich falsch anfühlt, meine sehr oft aufwachende Tochter alleine in ihrem Zimmer schreien zu lassen. Oder dass ich es einfach nicht wollte, sie beim Zähneputzen festzuhalten, obwohl sie sich mit Händen und Füßen wehrte. Irgendwann gab es aber Situationen, da wussten mein Mann und ich beide nicht mehr so richtig, wie wir damit umgehen sollen. Beim Zähneputzen festhalten nein. Karies riskieren aber eben auch nein. Oder auch das Schlafen: Schreien lassen nein. Stündliches aufwachen und stillen mit 15 Monaten aber genauso wenig.

Bindungsorientierte Beratung bei Eliane Retz

Eine Freundin hat mich dann auf die Beratung von Eliane Retz aufmerksam gemacht. Sie ist Pädagogin und berät Eltern, die Erziehungsrelevante Fragen haben. Oder im Klartext einfach nicht weiter wissen in bestimmten Situationen. Das Besondere: ihr Ansatz ist dabei bindungsorientiert bzw. bedürfnisorientiert. Sie benutzt dafür beide Begriffe gleichwertig. Und das ohne Dogma und erhobenen Zeigefinger, wie wir bei unseren Gesprächen mit ihr erleichtert feststellen konnten.

Mittlerweile hat sie ein Buch geschrieben. Und ich kann mich nun auch Erziehungsratgeber-Besitzerin nennen. Allerdings steht “Wild Child” nicht im Regal, sondern liegt auf meinem Nachttisch. Weil er so viele wertvolle Tipps enthält, die ich immer wieder dankbar nachlese.

Wichtige Erkenntnis: Es geht um die Bedürfnisse von Kind und Eltern

Was uns in den Gesprächen mit Eliane sehr klar wurde und worauf sie auch in ihrem Buch immer wieder hinweist: Bedürfnisorientierung ist keine Einbahnstraße. Natürlich geht es erstmal darum, die Bedürfnisse des Kindes zu sehen, wertzuschätzen und zu versuchen, sie in die Erziehung mit einzubeziehen. Es geht aber auch um die eigenen Bedürfnisse.

“Wenn Eltern zu angespannt sind, dann können sie keine gute Co-Regulation mehr leisten […] Deshalb ist es manchmal notwendig, kurz in Distanz zueinander zu gehen.” Wild Child, S. 210

Ich glaube das ist oft das große Missverständnis bei den Grabenkämpfen bezüglich Attachment Parenting. Viele Texte, die diesen Erziehungsstil auseinander nehmen, fußen meiner Meinung nach auf dieser falschen Annahme. Es kann nicht das Ziel sein, dass man sich selbst aufgibt, alles dem Kindeswohl unterstellt und dabei immer erschöpfter und frustrierter wird.


Die Basis: Kindliches Verhalten verstehen 

So hat uns Eliane zum Beispiel hinsichtlich des schlechten Schlafs unserer Tochter sehr deutlich gemacht, dass keinem von uns geholfen ist, wenn wir komplett auf dem Zahnfleisch gehen. Und uns deswegen erstmal sehr naheliegende Tipps gegeben. Wie selber früher ins Bett gehen oder einer schläft auf der Couch. Das klingt zunächst banal, aber es hat uns geholfen, dass uns das jemand von außen nochmal explizit gesagt hat. Die zweite Säule der Beratung war, dass wir ein besseres Verständnis für das Schlafverhalten unserer Tochter entwickelt haben. Darüber schreibt sie auch ausführlich in ihrem Buch:

“Das Schlafen ist eine große Entwicklungsaufgabe des Kindes. […] Zu schlafen bedeutet immer eine vorübergehende Trennungssituation von den Eltern und ist der Eintritt in eine andere Bewusstseinsebene.” S. 206 

Und der dritte Aspekt war dann, was wir konkret tun können, um unsere Tochter beim Schlafen zu unterstützen. Ich schreibe das bewusst so, weil uns durch die Gespräche klar wurde, dass es nichts bringt, das von ihr (innerlich) zu fordern. Es geht darum, sie zu begleiten und es uns dabei so leicht wie möglich zu machen. Also haben wir gelernt, ihre Müdigkeitszeichen besser zu deuten und sowohl Essens- als auch Schlafzeiten zu verändern. So dass sie zum Beispiel sicher satt war, als sie ins Bett ging. Dafür haben wir das Abendessen vorgezogen und den Nachmittagssnack ausfallen lassen.

So gut wie möglich begleiten, ohne sich dabei aufzugeben

Außerdem hat sie uns “erlaubt”, dass unsere Tochter weinen darf. Bei all den dogmatischen Diskussionen bezüglich Kindererziehung war es nämlich für mich zum Beispiel im Laufe der Zeit zum roten Tuch geworden, dass sie weint oder schreit. Dementsprechend habe ich in vorausschauendem Gehorsam versucht, alles zu tun, um solche Situationen zu vermeiden. Dass das gar nicht sein muss, wurde mir in der Beratung klar. Meine Tochter darf weinen. Wichtig ist, wie ich sie dabei begleite. Dass ich für sie da bin und ihr das Gefühl gebe, dass wir das gemeinsam durchstehen. Das hat uns dann auch beim Abstillen sehr geholfen. Denn auch hier lag meine größte Sorge darin, dass ich sie einfach nicht anders beruhigen kann. Dass sie schlimm weint und keinen Trost findet, wenn ich versuche, sie ohne Brust zu beruhigen.

Wertvolle Tipps zum Abstillen

Eliane hat uns auch hier wieder darin bestärkt, dass wir auf unsere Kompetenzen als Eltern vertrauen. Ich fand zum Beispiel total hilfreich, dass sie uns daran erinnert hat, dass es auch manchmal in der Verantwortung der Eltern liegt, Dinge zum Wohle der Kinder zu entscheiden. Auch solche, mit denen die Kinder sich vielleicht erstmal schwer tun. Helenas Nächte waren durch das ständige Stillbedürfnis genauso unruhig wie meine. Ihre Windel war jeden Morgen total voll und irgendwie war es für keinen von uns eine richtig gute Situation. Wir haben uns dann langsam rangetastet: einmal spät abends und einmal früh morgens wurde noch gestillt und ich konnte die Erfahrung machen, dass das viel besser läuft, als gedacht. Der nächste Schritt zum kompletten Abstillen war dann nicht mehr so groß. Auch weil Eliane uns den Tipp gegeben hat, ihr einen Schnuller anzubieten. Daran hatten wir gar nicht gedacht. Helena war das klassische Stillkind, das Ersatzsauger immer empört ausgespuckt hat. Durch das weniger Stillen war sie aber scheinbar dankbar dafür und es erleichterte das ganze Prozedere sehr.

Das meine ich damit, wenn ich sage, dass sie die Dinge undogmatisch und mit Blick auf das Kindeswohl angeht: Das Kind hat ein Saugbedürfnis, aber die Mutter mag nicht mehr stillen!? Wieso also keinen Schnuller anbieten? Auch hinsichtlich der Kita-Eingewöhnung konnte sie uns wertvolle Tipps geben. Im Buch sind die wichtigsten Punkte dazu auch zusammengefasst. So eine Art Checkliste, wie man die Eingewöhnung gut begleiten kann.

Wild Child: Ratgeber mit konkreten Empfehlungen für die Praxis

Solche konkreten Empfehlungen finden sich in “Wild Child” immer wieder. Zum Beispiel hinsichtlich der Abendroutine oder bezüglich des großen Autonomiestrebens einer 2-Jährigen beim Anziehen. Auch hier wieder eingebettet in verständliche Erklärungen bezüglich Entwicklung. Das ist für mich der Kern von bedürfnisorientierter Erziehung, wenn man dem Ganzen überhaupt ein Label geben will: Dass ich verstehe, warum mein Kind sich manchmal verhält, wie es das tut. Und es mir somit leichter fällt, seine Bedürfnisse anzuerkennen. Gleichzeitig aber eben auch meine im Blick habe und nicht zulasse, dass sie ständig übergangen werden.

Gut genug ist ausreichend

Mit diesen Erkenntnissen fühle ich mich jetzt auf jeden Fall gewappneter für Baby Nummer zwei, das im Mai zur Welt kommt. Und wenn ich mal wieder das Gefühl habe, es heute gar nicht hinzubekommen, erinnere ich mich hoffentlich an Elianes Satz: “Damit eine sichere Bindung entsteht, reicht es vollkommen aus, es gut genug zu machen!”